J. Baumgartner u.a. (Hgg.): Aufbrüche Seitenpfade Abwege

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Titel
Aufbrüche Seitenpfade Abwege. Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Ulrich Linse


Herausgeber
Baumgartner, Judith; Wedemeyer-Kolwe, Bernd
Erschienen
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Hufenreuter, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Wer jemals über Themen wie Jugendbewegung, Anarchie, Lebensreform, Freikörperkultur, völkische Bewegung oder neuere Religionsentwürfe gearbeitet hat, wird unweigerlich auf den Namen Ulrich Linse gestoßen sein. Suchbewegungen und Subkulturen des 20. Jahrhunderts hat er unermüdlich nach ihren ideengeschichtlichen Hintergründen, ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung und gesellschaftlichen Rezeption befragt. Wie kaum ein Zweiter untersuchte er in seinen Arbeiten historische „Alternativkulturen“, lange bevor an eine breite Auseinandersetzung darüber in den Geschichts- oder Kulturwissenschaften zu denken war. So kann man den Herausgebern nur zustimmen, wenn sie bemerken, dass Linses Name heute als Synonym für bestimmte Forschungsrichtungen und Themenschwerpunkte steht. Vor diesem Hintergrund stellt die anlässlich des 65. Geburtstages Ulrich Linses unter der Leitung von Judith Baumgartner und Bernd Wedermeyer-Kolwe herausgegebene Festschrift wohl auch mehr als eine Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen Linses dar.

In einer Mischung aus Forschungs- bzw. Zwischenbilanz, eigener Standortbestimmung und freundschaftlicher Hommage an den Jubilar, versammelt der Band von Weggefährten, Freunden und „Schülern“ achtzehn Beiträge, die zum Teil fernab jeder „Aufmerksamkeitskonjunktur der Gegenwart“ (Diethard Kerbs) stehen, aber an denen die erfrischende Vielfalt dieser Forschungsrichtung deutlich abzulesen ist. Der Band ist in die drei Kapitel Aufbrüche, Seitenpfade und Abwege untergliedert, wobei die darin enthaltenen Artikel bis auf eine Ausnahme nicht mehr als zehn Seiten Umfang einnehmen.

Einen anfänglichen Schwerpunkt bilden die Arbeiten zur Jugendpolitik und -kultur. Während Wolfgang Krabbe hierbei den freideutschen Spuren in der frühen Parteijugend nachgeht, untersucht Marina Schuster religiöse Stimmungen, die fernab kirchlicher Bindungen innerhalb der Jugendbewegung erkennbar wurden. Jürgen Reulecke verdeutlicht anhand einer Abiturientenrede von 1909 die Krise, in der sich Gymnasien seit 1900 befanden, wobei die bis dato formulierte Kritik am Unterrichtsklima, Lehrstoffen und Lehrmethoden sich später in der studentischen „Hochschulrevolution“ von 1918/19 niederschlug. Eine Perle des Bandes stellt Ulrich Herrmanns ungemein anregender essayistischer Versuch einer idealtypischen Strukturskizze zur Jugendbewegung im 20. Jahrhundert dar. Gleiches gilt für den Beitrag von Diethard Kerbs zur noch kaum bekannten Geschichte der Arbeiterfotografie und den faszinierenden Einblick in das literarische Genre der Technik- und Zukunftsromane im Nationalsozialismus, den Karin Bruns der Leserschaft gewährt und der Lust auf mehr macht.

Einen großen Teil nehmen darüber hinaus biografisch orientierte Studien ein. Thomas Rohkrämer geht der konservativen Mobilisierung der Kunst anhand Richard Wagners nach und plädiert vor dem Hintergrund der konservativen Vereinnahmung für eine eingehendere Beschäftigung mit dem facettenreichen Leben und Werk des Künstlers. So stellt der Autor fest, dass Wagner zweifellos zur „Formierung eines extremen Konservatismus“ beigetragen habe, doch weist er darauf hin, dass Wagners „vorwärtsgerichteter Konservatismus“ als Teil der Moderne erst unzureichend berücksichtigt wurde. Edith Hanke untersucht das Bild des Dichters als Propheten anhand der Biografien Leo N. Tolstois und Christian Wagners. Überzeugend arbeitet sie hierbei heraus, dass das Ideal von Dichtung und Prophetie zwar für beide galt, die unterschiedlichen Biografien und Lebenswelten jedoch zu großen Unterschieden im Selbstverständnis der Dichter führten. Bernd Wedermeyer-Kolwe beleuchtet hingegen das Verhältnis der Lebensreformer Walter Fränzel und Herbert Fritsche, Heinrich Eppe nähert sich dem bewegten Leben Gerda Walthers an und Richard Faber widmet Robert Minder eine wissenschaftsgeschichtliche Hommage. Helmut Zander bietet seinerseits einen umfassenden bibliografischen Überblick über theosophische Zeitschriften, wobei er in seiner Einleitung den Wert von Zeitschriften als „zentrale Pfeiler des kulturellen Gedächtnisses“ deutlich macht und auf deren bisher unzureichende wissenschaftliche Erforschung hinweist. Einen amüsanten Beitrag steuert Paul Hoser bei, der satirische Blicke auf die Lebensreform zusammengetragen hat, wobei jedoch auf das Kapitel über die Frauenbewegung zu verzichten gewesen wäre. Diese war weder mit der Lebensreform auf so „vielfältige Weise“ verknüpft, wie der Autor angibt, noch kann man sie in ihrer politischen Zielsetzung und Breitenwirkung mit der Lebensreform vergleichen. Eine entsprechend andere politische Gewichtung und Funktion kommt der auf sie gerichteten Satire zu, was zu beachten gewesen wäre. Justus H. Ulbricht geht wiederum deutschen Germanenphantasien anhand des literarischen Kultes um Arminius, bzw. Hermann nach, gefolgt von Uwe Puschner, der mit dem Deutschen Schatzmarkenverein exemplarisch das Innenleben einer völkischen Kleinstorganisation rekonstruiert. Hubert Cancik bietet eine detailreichen Darstellung zu einzelnen Aspekten der Sommersonnenwendfeiern von 1933 in Berlin und Cornelia Regin stellt mit Ludwig Christian Haeusser einen der schillerndsten und prominentesten „Inflationsheiligen“ des Kaiserreiches vor. Das Ende des Bandes beschließt Klaus Vondungs mit einer kritischen Analyse des „Antisemitismus-Verdachtes“ von Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“.

Auch wenn die Festsschrift auf konzeptionelle oder theoretische Vorgaben weitgehend verzichtet, gelingt es den aus verschiedenen Fachdisziplinen stammenden Beiträgern die thematische Breite und Vielschichtigkeit der Forschungsrichtung, die Ulrich Linse einst mitbegründet hat, eindrucksvoll vor Augen zu führen. Unter sozial-, kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Aspekten werden von Längsschnittuntersuchungen bis mikrohistorischen Studien Kostproben gereicht, die angesichts der gebotenen Kürze im Seitenumfang ein noch lang nicht ausgeschöpftes Diskussions- und Untersuchungspotential für die Zukunft erahnen lassen. Ein Verzeichnis der Schriften von Ulrich Linse rundet diesen kurzweiligen und dennoch reichhaltigen und anregenden Band gelungen ab.

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