G. Schramm: Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte

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Titel
Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte. Ein Vergleich


Autor(en)
Schramm, Gottfried
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 36,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Demandt, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

So lange Menschen über Geschichte nachsinnen, so lange suchen sie nach einer Ordnung im Geschehen. Als bevorzugtes Hilfsmittel dafür dienen Sprachbilder und Gleichnisse. Schon Platon begriff die kulturgeschichtliche Lage seiner Gegenwart als Ergebnis einer „voranschreitenden Zeit“, die damit einen Weg imaginiert, auf dem „alle Dinge“ so weit vorangekommen sind, wie wir sie jetzt vorfinden (Gesetze 678 B). Wegmetaphern veranschaulichten in der Folgezeit Aufstieg und Niedergang von Reichen sowie die Vermehrung der Erkenntnisse und Erfindungen. Ein anderes Ordnungsschema neben dem Weg war ein Arsenal von Ereignis-Typen, wodurch die Vielfalt der Erscheinungen vereinfacht und durch den Gedanken der Wiederholbarkeit fasslich gemacht wurde. Beide Systematisierungsformen blieben in Gebrauch, doch hat das Fortschrittsdenken der Aufklärung dem Prinzip der Linearität einen Vorrang verschafft und den typologischen Ansatz zurückgedrängt.

Die historische Komparatistik gewann indes wieder an Bedeutung in der vergleichenden Verfassungsgeschichte, in der Städteforschung, in den Feudalismus-Studien und der Revolutions-Analyse. Die jeweils zugrunde liegende Typisierung kennzeichnet auch den Zugriff Gottfried Schramms auf die Geschichte. Im Unterschied zu den genannten Disziplinen geht es ihm jedoch um die Herausstellung eines neuen als „Wegscheide“ bezeichneten Krisentypus, den er in der Weltgeschichte fünfmal verwirklicht sieht. Es handelt sich um: 1) Die Entstehung des biblischen Monotheismus aus dem Sonnenkult Echnatons, 2) die Abspaltung des Christusglaubens vom Judentum, 3) die Lösung des Protestantismus aus der katholischen Kirche, 4) die Befreiung der USA von der britischen Kolonialherrschaft und 5) die Radikalisierung der sozialreformerischen Strömung durch die russischen Kommunisten.

Die strukturelle Übereinstimmung der fünf Ereignisse sieht Schramm darin, dass sich aus einer älteren Tradition eine neue Strömung abzweigt und dann neben jener herläuft: Vom Hauptweg spaltet sich ein Nebenweg ab, der selber Hauptweg sein will. Darüber hinaus findet Schramm bei allen fünf Vorgängen zehn „ungefähre Gemeinsamkeiten“. Die erste ist eine Erneuerungsidee, der Anspruch der Neuerer auf das wahre Erbe der verlassenen Gemeinschaft. Sodann die kurze Zeit, die es für die Trennung brauchte: jeweils zwei Jahrzehnte, in Anlehnung an Konrad Lorenzens Gänsebeispiel als „Prägephase“ bezeichnet. Hinzu kommt der Misserfolg in dem Bestreben, die alte Tradition insgesamt zu reformieren, verbunden mit der Lebenskraft der neuen Bewegung. Sie vertritt nach Schramm eine legalisierende Tendenz, die, mit „missionarischen Drang“ verkündet, eine Botschaft für alle sein sollte. Eine weitere Gemeinsamkeit ist der geografische Ursprung der Absonderung in einer „Randzone mit geringerer Kulturdichte“, erwachsen nicht aus einer Verfallsphase, sondern aus „unausgeschöpften Energien“, kulminierend in „charismatischen Bahnbrechern“ im Alter zwischen 30 und 40. Ihre Anhänger werden als „Freiwilligengemeinschaft“ gekennzeichnet, die ersten Erfolge gewaltfrei erzielt und auf „verbindliche Texte“ gegründet worden. Dass diese Kriterien nur cum grano salis überall zutreffen, ist Schramm durchaus bewusst; wo sie postuliert werden oder evident fehlen, wird es angemerkt.

Im Unterschied zur strukturellen Komparatistik, sieht Schramm seine fünf Wegscheiden historisch zusammenhängend als Wendepunkte eines wichtigen welthistorischen Prozesses. Für die drei religiösen Neuerungen durch Moses, Jesus und Luther ist der Konnex offenkundig, ebenso der zwischen den amerikanischen Founding Fathers und den Russischen Sozialisten, vermittelt durch die Französische Revolution. Eine inhaltliche Gemeinsamkeit bildet der dort auf religiösem, hier auf politischem Gebiet erhobene Anspruch, die einzig menschenwürdige Ordnung, ja die absolute Wahrheit zu vertreten. Den Zusammenhang zwischen den beiden Teilprozessen, zwischen den drei älteren religiösen und den beiden jüngeren politischen Wendepunkten liefert die Kategorie der Säkularisierung. Mag der Begriff auch anfechtbar sein, so ist doch die zumal von Karl Löwith 1949 herausgestellte Metamorphose der religiösen Hoffnung auf das himmlische Paradies am Ende der Zeiten in eine politische Erwartung des Friedens auf Erden als Resultat des Fortschritts geistesgeschichtlich gesichert. Diese Transformation vollzog sich in der Aufklärung.

Nach den theoretischen und autobiografischen Präliminarien, in denen sich Schramm als evangelischer Christ und ehemaliger Sozialdemokrat bekennt, werden die fünf „Durchbrüche“ nacherzählt. Den jüdischen Monotheismus führt Schramm zurück auf die Moses in Midian zuteil gewordene „Uroffenbarung“, die einer biogenetischen Fulguration (nach Lorenz), ja dem kosmologisch „Urknall“ entspreche (S. 57f.). Gegen die herrschende Forschung, die mit überzeugenden Gründen eine lange, erst nachexilisch um 530 v.Chr. abgeschlossene Entwicklung des jüdischen Eingottglaubens annimmt, argumentiert Schramm mit einem Analogieschluss, mit dem Verweis auf die Plötzlichkeit der vier späteren Aufbrüche. Der Exodus wird als historische Quelle ernst genommen. Entsprechend seiner Wegscheide-Metapher leitet Schramm den mosaischen Glauben vom Sonnenkult Echnatons ab. Diese schon von Breasted 1894 vertretene, durch Freud 1939 popularisierte These ist längst obsolet, sie wird auch von Jan Assmann, an den sich Schramm anlehnt, nicht geteilt, nun aber gemäß seiner „neuartigen, weltgeschichtlich vergleichenden Betrachtungsweise“ (S. 69) aufgegriffen. Analog zu Jesus, Mohammed und Luther sieht er Moses zugleich als Erneuerer der „angestammten Religion“ (S. 75) und mutmaßt eine Vermittlung über Aton verehrende Glaubensflüchtlinge in Midian (S. 77ff). Dass mangels Quellen hier „allzuvieles bloße Behauptungen bleibt“, weiß Schramm sehr wohl (S. 54), man könnte auch von wilder Spekulation sprechen.

In der Darstellung der zweiten „Wegscheide“, der Entstehung des Christentums, ist Schramm auf der Höhle der Forschung dank dem kritischen Blick von Martin Hengel (S. 83). Sachkundig beschreibt Schramm den eschatologisch geprägten „Erwartungshorizont“ im östlichen Mittelmeerraum um die Zeitenwende, die Gründe und Formen der Ausbreitung des neuen Glaubens im ersten Jahrhundert. Die Hoffnung auf eine Welterneuerung findet sich indessen ebenso im Westen, denken wir an den Topos des Goldenen Zeitalters in der Romideologie um Augustus, der ja auch als gottgesandter Retter der Menschheit gefeiert wurde. Einzelnes ist angreifbar: Unwahrscheinlich ist die Lokalisierung des Gleichnisses vom Zinsgroschen in Galiläa (S. 90), da der Denar als tributum capitis an den Kaiser in Palästina schuldig war, nicht im Reich des Herodes Antipas, dessen Münzen bildlos waren. Der Bar Kochba-Aufstand fällt in die Jahre 132 bis 135 (nicht S. 163ff., 84f.); dass Luther „nach eigener Aussage mit dem Tintenfass nach dem Teufel geworfen“ habe (S. 127), ist eine romantische Touristen-Fama; aus dem Saulus ist nicht durch die Bekehrung ein Paulus geworden (S. 142), sondern als Jude und römischer Bürger trug Paulus den Doppelnamen von Geburt; Antiochia in Syrien heißt heute Antakya nicht Antalya, (S. 151). Das Martyrium des Paulus in Rom (S. 158) ist eine (freilich noch kursierende) frühchristliche Legende. Ein Beschneidungsverbot durch Trajan (S. 169) gab es nicht, auch für Hadrian ist es nicht sicher bezeugt.

Die dritte „Wegscheide“, die in enger Anlehnung an Bernd Moeller (S. 167, 170) den von Luther ausgelösten „Riss durch Mitteleuropa“ behandelt, konzentriert sich auf die „Prägephase“ 1510 bis 1530, wobei das Ende durch den Augsburger Reichstag plausibler ist als der Anfang. Schramm beschreibt höchst eindrucksvoll die Spannung zwischen Volksfrömmigkeit und Kirchenkritik, die parallele Rückbesinnung von Humanisten und Reformatoren auf die Antike, sowie die äußeren Erfolgsbedingungen der Bewegung durch Buchdruck, (1519 war eine Viertelmillion von Luthertexten im Umlauf), durch landesfürstliche Territorialhoheit und selbstbewusstes Bürgertum nach dem Vorgang des eidgenössischen Zürich zumal in den Reichsstädten. Besondere Aufmerksamkeit widmet Schramm dem Einfluss von Staupitz auf Luther, der von jenem die Gnadenlehre übernahm. Dass kein Fürst auf Druck aus dem Inneren zur Reformation übertrat (S. 204), wird man für Philipp von Hessen kaum sagen können, da die Lehre Luthers längst Einzug gehalten hatte, ehe der Landgraf sich zu ihr bekannte. Und dass die Reformation mit der Eigenständigkeit des Klerus auch das in ihm verkörperte Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt beseitigt hätte (S. 206), wird man im Hinblick auf die calvinistischen Monarchomachen kaum sagen können.

Als vierte „Wegscheide“ folgt die Befreiung der amerikanischen Kolonien von der britischen Krone. Dabei geht es nicht um die Ereignisgeschichte, sondern um die Neubesinnung, um die ideologische Begründung des Kampfes und das politische Selbstverständnis der Insurgenten. Sie verwarfen die angelsächsische Tradition, aus der sie stammten, keineswegs in Bausch und Bogen, sondern beriefen sich unter anderem auf dort verankerte Prinzipien, nicht zuletzt auf die Magna Charta Libertatum von 1215, in der König John Lackland den Baronen Rechte und Schutz für die Untertanen gewähren musste. Auf der Wiese Runnymede bei Windsor, wo die Verhandlung stattfand, steht heute ein Denkmal, gestiftet von der American Bar Association. Schramm legt dar, wie im Denken der Aufständischen alte Grundsätze auf die neue Lage angewandt wurden, ähnlich wie Luther sich auf die Kirchenväter, Jesus sich auf die Propheten bezog (aber gewiss Moses nicht auf Echnaton). Der Rekurs auf antike Staatstheorie und biblische Glaubensgehalte in den Verfassungsdebatten tritt bei Schramm dagegen zurück - das passte nicht ins Bild. In dem Glauben der Revolutionäre, im Namen der Menschheit zu handeln, sieht Schramm ein Erbe des christlichen Universalitätsanspruchs, durch rationale Naturrechtsprinzipien vom dogmatisch-religiösen Gehalt abgekoppelt. Die demokratische Mission Amerikas für die Menschheit wird von Schramm beschrieben und grundsätzlich begrüßt, doch erschreckt ihn der zynische, aber nach US-amerikanischem Demokratieverständnis legitime Angriffskrieg gegen den Irak, hinter dem er Selbstgerechtigkeit, Machtstreben und „handfeste Ölinteressen“ erkennt (S. 273f.).

Als letzter Fall der Reihe kommt die Abspaltung der russischen Revolutionäre von der sozialdemokratischen Bewegung zwischen 1860 und 1880 zur Sprache. Schramm zeichnet nach, wie liberales Gedankengut durch Auslandsrussen aus Paris aufgegriffen und heimgebracht wurde, in der bürgerlichen Intelligentsia Fuß fasste und sich im Namen eines romantisch verklärten Volks- und Bauerntums gegen Aristokratie und Klerus wandte. Mit der Etablierung des Marxismus durch Plechanow, den „Lehrmeister Lenins“ (S. 385), wurde ein aggressiver Atheismus zum Markenzeichen der Opponenten, der politische, soziale und ideologische Umsturz das Ziel und die Befreiung der Welt von der Profitgier des Kapitalismus zur Parole. Hier kann Schramm seine eigene Fachkompetenz als Osteuropa-Historiker voll entfalten. Unterschiede zu allen früheren „Wegscheiden“ sieht Schramm in der Tiefe der Zäsur und dem endlichen Misserfolg des kommunistischen Systems. Dieses ist freilich nicht allein aus inneren Gründen zusammengebrochen, sondern aufgrund der Differenz zwischen der eigenen, zeitweilig beachtlichen Leistungsfähigkeit und der schließlich hoffnungslosen Unterlegenheit, namentlich im Rüstungswettlauf, gegenüber der Ökonomie des Kapitalismus, einen äußeren Faktor. Ohne dessen verführerische Überlegenheit bestünde der einst „real existierende Sozialismus“ noch heute. Haltbarer erwies sich die Linie von Eduard Bernstein, der schon um 1900 die Idee einer Weltrevolution verwarf und, als „Revisionist“ beschimpft, eine Politik der kleinen Schritte forderte, die schon Marc Aurel (IX 29) empfahl.

Schramms Buch ist die bemerkenswerte Synthese zwischen einer argumentierenden Typologie, die in seinen zahlreichen, mitunter gewagten (S. 78ff., 190), Querverweisen Ausdruck findet, und einer detailreich erzählenden Ereignisgeschichte, die stupende Kenntnisse erweist. Der theoretische Ansatz ist dabei weniger ergiebig. Denn das „Wegscheide“-Muster ließe sich auf zahllose andere Fälle ebenso anwenden. Vom Judentum haben sich auch Samaritaner und Moslems abgespalten, vom katholischen Christentum außer den Protestanten Hunderte von Sekten. Für den Islam, der sich in eine sunnitische und eine schiitische Richtung gespalten hat, und den Hinduismus, aus dem u.a. Buddhismus und Sikhismus hervorgegangen sind, gilt dasselbe.

Im politischen Bereich ist das nicht anders. Die Ablösung des byzantinischen Reiches von Rom, des ostfränkischen (deutschen) Königtums von den Karolingern in Frankreich und Italien, die Verselbständigung der Niederlande und der Schweiz folgt demselben ubiquitären Muster, allerdings ohne Vorlage einer neuen Heilslehre. Ebenso gehen die verschiedenen Denkschulen der Kantianer, Hegelianer, Marxisten usw. je auf eine „Wegscheide“ zurück. Das damit angesprochene allgemeinhistorische Denkmodell der Dolde wird konterkariert durch die Tatsache, dass jede historische Erscheinung sich aus mehreren Quellen speist, wodurch die Dolde umgekehrt wird. In den jüdischen Monotheismus flossen persische Vorstellungen ein, das Christendogma ist wesentlich griechisch beeinflusst, der Fortschrittsglaube in USA und Sowjetrussland hatte auch heidnisch-antike Wurzeln. Dieses Ursachengeflecht bleibt bei Schramm im Dunkeln, ihm kommt es auf das Phänomen der Gabelung an. Durch den Reichtum an Information, die weite des Blicks und die gefällige Darbietung ein ungewöhnliches Buch.

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