E. Dobrenko u.a. : The Landscape of Stalinism

Cover
Titel
The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space


Herausgeber
Dobrenko, Evgeny; Naiman, Eric
Reihe
Studies in Modernity and National Identity
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 43,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frithjof Benjamin Schenk, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians Universität

„Space is back!“ Diese Diagnose gilt nicht nur für die Kultur- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen, sondern für die Geschichtswissenschaft im Besonderen. Die große Anzahl neuerer Publikationen zum Themengebiet „Raum und Geschichte“ macht deutlich, dass die langjährige Zurückhaltung bzw. Scheu, sich mit der Bedeutung der Kategorie „Raum“ in der Geschichte zu befassen, als überwunden gelten kann. Mit „The Landscape of Stalinism“ haben Evgeny Dobrenko und Eric Naiman eine Aufsatzsammlung vorgelegt, die anschaulich zeigt, wie lohnend es ist, der Kategorie „Raum“ auch bei der Erforschung der Kulturgeschichte des Stalinismus besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Der Band umfasst zwölf Beiträge namhafter Experten auf dem Gebiet der sowjetischen Geschichte bzw. des Stalinismus. Die AutorInnen des Buches richten ihren Blick auf die Produktionsseite sowjetischer Ideologie in den Jahren 1929-1953 und fragen nach Spezifika und Bedeutung von Raumbildern in Texten, Malerei, Film und räumlichen Manifestationen. Ausgehend von der Denkfigur des „Chronotopos“ von Michail Bachtin soll die spezifische „conception of space” in der Epoche des Stalinismus ergründet werden.

Die Beiträge des Bandes befassen sich in erster Linie mit der Konstruktion bzw. der Imagination von Räumen z.B. im sowjetischen „Massenlied“ (Hans Günther), in Roman und Film (Katerina Clark, Richard Taylor, Oksana Bulgakowa, Emma Widdis, Boris Groys) sowie in Malerei, Werbung und Geografie-Diskurs (Jan Plamper, Randi Cox, Evgeny Dobrenko). Daneben werden aber auch Formen sowjetischer Raumgestaltung wie der Städte- und Metrobau (Katerina Clark, Michail Ryklin, Boris Groys) oder die Eroberung der Arktis (John McCannon) sowie Formen sowjetischer Raumaneignung bzw. raumbezogener sozialer Praktiken, wie z.B. das Warten in der Schlange (Michail Epstein), in den Blick genommen.

Zu den Schwächen des Buches zählt zweifelsohne, dass in der Einleitung nicht geklärt wird, mit welcher Definition von „space“ die AutorInnen operieren. Dessen ungeachtet lassen sich einige Aspekte eines Raumverständnisses formulieren, die offenbar für alle Artikel Gültigkeit haben. Erstens wird „Raum“ nicht als „objektiv“ gegeben, sondern als soziales Konstrukt beschrieben. Zweitens stellt sich „Raum“ nicht als eine homogene Einheit dar, sondern als in sich regional und qualitativ gegliedert und geordnet (privat-öffentlich, Zentrum-Peripherie, horizontal-vertikal, sakral-prophan). Drittens werden Räume nicht als statische Phänomene betrachtet, sondern ihre zeitliche Dynamik betont. Schließlich richten die meisten Artikel den Blick auf die historische Semantik von Räumen, d.h. sie gehen von einer Verknüpfung von Raumbildern und -vorstellungen mit zeitspezifischen und sich wandelnden Bedeutungen aus.

Fragt man auf einem weniger theoretischen Niveau, welche „Räume“ in den Beiträgen untersucht werden, so lassen sich drei Ebenen unterscheiden: Erstens geht es vorrangig um die Imagination des Territoriums der UdSSR, zweitens werden Bildräume in Malerei und Film analysiert und drittens wird die Konstruktion von öffentlichem und privatem Raum in der Sowjetunion untersucht. Die meisten Beiträge beschäftigen sich dabei im weitesten Sinne mit Formen der Wahrnehmung und Imagination des „sowjetischen Raumes“ - im territorialen Verständnis des Begriffes. Lässt man sich auf die Denkfigur des „Chronotopos“ Bachtinscher Prägung ein, so stellt sich nach der Lektüre von „Landscape of Stalinism“ die UdSSR in der Stalinzeit als ein Raum mit folgenden Charakteristika dar.
Zunächst lässt sich in den späten 1920er-Jahren ein umfassender Wandel sowjetischer Raumbilder diagnostizieren. Dies betrifft sowohl das Genre der Führerportraits (Plamper) als auch die Beschreibung der Randgebiete der UdSSR im ethnografischen Film (Widdis). Diese Veränderung ist am besten mit dem Begriff der „Zentralisierung“ zu fassen. Im Falle der Führerportraits bedeutete dies die Ausrichtung des Bildes auf einen gedachten Mittelpunkt, im Falle des ethnografischen Films lässt sich eine Hierarchisierung des Blicks auf die Heterogenität des Vielvölkerreiches beobachten. Die Folge dieses umfassenden Wandels ist in den 1930er-Jahren ein relativ statisches Raumbild, das geprägt ist von einer strikt gedachten Dichotomie von Zentrum und Peripherie. Die Überhöhung Moskaus zum „sakralen“ Mittelpunkt der UdSSR findet sich nicht nur in den von Richard Taylor untersuchten Filmkomödien der Stalinzeit wieder, sondern allgemein in den Artefakten des sozialistischen Realismus. Während Moskau als gedachter Ort der Macht und Wirkungsbereich des „väterlichen“ und „weisen“ Führers imaginiert wird, ist die Peripherie des Landes der Wohnort der Masse, des Volkes (Clark). In diesem dualistischen Raumbild kommt der Peripherie eine doppelte Funktion zu: Zum einen werden die Randgebiete der UdSSR als exotischer und marginaler Raum vorgestellt, der sich auf einem niedrigeren Entwicklungsniveau befindet als das (urbane) Zentrum. Zum anderen dient die Peripherie als Projektionsfläche für sowjetische Zukunftsvisionen, als „tabula rasa“ des bolschewistischen Projekts. Dies wird besonders am Beispiel des sowjetischen Arktis-Diskurses deutlich, den John McCannon in seinem kenntnisreichen Aufsatz untersucht. „Zentrum“ und „Peripherie“ hatten somit auch eine deutlich normativ-zeitliche Konnotation: Moskau galt als fortschrittlich, seine Untergrundbahn als gebaute „U-Topie“ (Groys, Ryklin), seine Architektur als Abbild des idealen kommunistischen Lebensraums.

Zentrum und Peripherie waren im sowjetischen Raumverständnis klar voneinander geschieden. Die Reise vom Lande nach Moskau war einem kleinen Kreis Auserwählter vorbehalten. Sie glich nicht nur einer Zeitreise, sondern zugleich einem „rite de passage“. Das Motiv des staunenden Landbewohners, der zum ersten Mal das „neue“ Moskau besucht, findet sich sowohl im Diskurs über die Moskauer Metro (Ryklin) als auch in den Musikkomödien Alexandrows (Taylor). Auch die Art und Weise, wie die räumliche Distanz von sowjetischer Peripherie und Zentrum idealtypisch überwunden wurde, änderte sich zu Beginn der 1930er-Jahre. Wenngleich ein eigener Beitrag über den sowjetischen Fliegermythos im Sammelband fehlt, wird aus den Aufsätzen von McCannon und Widdis deutlich, dass die Hierarchisierung und Zentralisierung des Raumes in den 1930er-Jahren auch mit einer Eroberung der dritten Dimension einherging, die den Blick auf den Raum aus der Vogelperspektive ermöglichte.

Ein weiteres Kennzeichen des sowjetischen Raumbildes war seine Abgeschlossenheit. So kam der Grenze bzw. der Figur des Grenzwächters sowohl im populärwissenschaftlichen geografischen Diskurs (Dobrenko) als auch im sowjetischen Massenlied (Günther) eine herausragende Bedeutung zu. Jenseits der Grenze lag ein Raum, der als „antispace“ (Günther) beschrieben wurde, wobei insbesondere dem „Westen“ die Funktion des spatialen Gegenbildes zukam. Jener Raum, der innerhalb der Grenze lag, galt als „groß“ und „weit“. Das Schlagwort „ein Sechstel der Erde“ etablierte sich als räumliche Metapher für die UdSSR. Im Roman und der Malerei des sozialistischen Realismus galt die Weite und Größe des Landes als ein Sinnbild für die Macht der Bolschewiki und für den von ihnen bewirkten Fortschritt (Clark). Im sowjetischen Massenlied wurde mit der Weite des Landes auch der Begriff der Freiheit assoziiert (Günther).

Gerade die Assoziation der Begriffe „Weite“ und „Freiheit“ weist auf zahlreiche paradoxe Phänomene sowjetischer Raumdiskurse der Stalinzeit hin. Während sowjetische Wanderzeitschriften das Erklimmen von Bergmassiven durch den sowjetischen Alpinisten propagierten (Dobrenko), wurde die Mobilität der Bürger innerhalb der Sowjetunion in den 1930er-Jahren zunehmend eingeschränkt. Während sich das Sprechen über den Raum zu einem ubiquitären Phänomen der Stalinzeit entwickelte, wurden Karten zu Trägern von Geheimwissen erhoben. Während man in Moskau ganze Stadtviertel sprengte und Platz schuf für die gebaute Utopie, wanderten die Spezialisten der traditionellen Stadt- und Regionalkunde („kraewedenie“) in die Straflager des GULag. Während in den patriotischen Liedern von Lebedew-Kumatsch die Weite des Landes und die UdSSR als „Land der Freiheit“ besungen wurde, zwängten sich seine Bewohner auf engstem Raum in Gemeinschaftswohnungen zusammen (Epstein) oder starben millionenfach in den Straflagern des stalinistischen Systems.

Das Spannungsverhältnis zwischen Raumdiskurs und raumbezogenen sozialen Praktiken klingt in dem Sammelband von Naiman und Dobrenko leider zu selten an. Gerade an diesem Punkt würde es sich lohnen, die in dem Buch formulierten Thesen weiter zu entwickeln. Raum war auch in der Sowjetunion nicht nur ein diskursives Phänomen. Dass die Imagination und die Neugestaltung von Räumen in der Sowjetunion der Stalinzeit eng miteinander verwobene Prozesse waren, wird bei der Lektüre des Buches deutlich, wenn vom Umbau Moskaus (Clark), vom Bau der Metro (Ryklin) oder der Errichtung von Polarstädten (McCannon) die Rede ist. In dieses Spektrum der Beispiele stalinistischer Raumpolitik sind die großen Wasserbauprojekte ebenso zu integrieren, wie die Kollektivierung der Bauern oder die Errichtung des Netzwerkes von Straflagern. Wenn es gelingt, „Raum“ nicht nur als Kategorie der „Wahrnehmung“ und Imagination zu fassen, sondern zugleich als Erfahrungs- und Handlungsraum zu beschreiben, so ist für die Sozial- und Kulturwissenschaften viel gewonnen. Der inspirierende und anregende Sammelband „Landscape of Stalinism“ hat für eine neue sowjetische Raumgeschichte zahlreiche Anregungen entwickelt, die es lohnt, weiter zu verfolgen.

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