G. Schirmer: Willi Sitte. Farben und Folgen

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Titel
Willi Sitte. Farben und Folgen. Eine Autobiographie


Autor(en)
Schirmer, Gisela
Erschienen
Leipzig 2003: Faber und Faber
Anzahl Seiten
405 S., 40 s/w Zeichn.
Preis
€ 29,70
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die denunzierenden und ausgrenzenden öffentlichen Erregungen um die "Arschlöcher" und "Staatskünstler" der DDR, inszeniert von ganz unterschiedlichen ost- und westdeutschen Interessenvertretern, sind verstummt.1 Was um die Jahreswende 2000/2001 in der Affäre um die Absetzung der Sitte - Retrospektive im Nürnberger Nationalmuseum kulminierte, beginnt soliden und differenzierenden Darstellungen zu weichen. "Die Qualität von Kunst und Literatur", schlussfolgert Karin Thomas, "darf sich nicht - und das hat die Kunstgeschichte in ihrer Gesamtheit gelehrt - an gesellschaftspolitischen und moralischen Verhaltensweisen ihrer Urheber messen lassen".2 Gleichwohl können uns die politischen Erfahrungen und der Lebensweg eines Künstlers viel über seinen Werdegang, über die Entstehung und Entwicklung seiner ästhetischen und politischen Ansichten mitteilen. Nach zahlreichen ausführlichen Gesprächen mit Willi Sitte zwischen 1998 und 2001 und Recherchen in Archiven und Bibliotheken hatte die westdeutsche Kunstwissenschaftlerin Gisela Schirmer eigentlich eine "Autobiographie im Dialog" im Sinn, aus der schließlich auf Drängen der Verleger und mit Zustimmung Sittes eine authentische Erzählung, ein Monolog wurde. Hieraus erklärt sich die eigentümliche Konstruktion einer von anderen aufgezeichneten "Autobiographie", der wir schon bei Heiner Müller begegneten.3

Es ist Gisela Schirmer zu danken, Willi Sitte diese Autobiografie abverlangt zu haben, die er nie selber geschrieben hätte. So ist ein für die Kulturgeschichte der DDR unerlässliches Dokument entstanden. Die Aufzeichnungen sind von Respekt vor diesem Leben und Werk getragen und von dem für jeden Zeithistoriker wichtigen Ansatz von der Offenheit der Entwicklung. Denn wenn wir die Kunstgeschichte der DDR betrachten, können wir nicht allein danach urteilen, was aus den Dingen heute geworden ist, sondern wir sollten zugleich immer mit den Menschen aus ihrer Zeit heraus urteilen, welche Hoffnungen und Möglichkeiten sie hatten, was ihnen verwehrt und verweigert wurde. Willi Sitte war in der DDR immer umstritten, sowohl bei den politisch Mächtigen wie bei den Künstlerkollegen. "Lieber vom Schicksal gezeichnet, als von Sitte gemalt" - einer der vielen Sprüche aus den Endjahren der DDR -, benannte die beidseitigen Aus- und Abgrenzungen. Aber es wäre ein unhistorischer und einseitiger Blick, die "Bilderstürmerei" der "Wendezeit" zum Ausgangspunkt zu nehmen. Denn hier offenbart sich der nahezu exemplarische Lebensweg eines engagierten linken Intellektuellen dieser Generation in der DDR: Gegründet auf den gelebten Antifaschismus, beseelt von der sozialistischen Utopie, befangen in Illusionen über die "revolutionäre Rolle" der Arbeiterschaft und die Lernfähigkeit ihrer selbst ernannten Führer, setzt er sich ein für den Aufbau einer neuen Gesellschaft.

Willi Sittes Lebensstationen: 1921 als Landarbeiterkind im nordböhmischen Kratzau geboren, sozialdemokratisches und kommunistisches Milieu des Elternhauses, Soldat der Wehrmacht 1941-1944 in Russland und Italien, 1944/45 bei den italienischen Partisanen, 1945/46 freischaffender Maler in Mailand, Ende 1946 Rückkehr nach Kratzau und Umsiedlung in die SBZ, freischaffender Maler in Heiligenstadt, 1947 SED, 1949-1986 Lehrbeauftragter, Dozent, Professor, Direktor an der Hochschule für Industrielle Formgestaltung in Halle an der Saale, 1970-1974 Vizepräsident, 1974-1988 Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR, 1988 Ehrenpräsident, 1976-1990 Abgeordneter der Volkskammer der DDR, 1986-1989 Mitglied des ZK der SED. Dieser Weg vom Landarbeiterkind zum ZK-Mitglied, vom Autodidakten zum Kunstprofessor, vom "Formalisten" zum Präsidenten des Künstlerverbandes liesse sich leicht in das übliche Schema eines Weges zwischen Aufbegehren und Anpassung einordnen. Aber so einfach war das Leben nicht, nicht das in der DDR und auch nicht das von Willi Sitte. Wir haben inzwischen plausiblere Erklärungsmodelle an der Hand, wie z.B. das Begriffspaar von Herrschaft und Eigensinn, das hier eine überzeugende Demonstration finden soll.4

Herrschaft und Eigensinn - Teil 1: Die 1950er und 1960er-Jahre: Der junge Maler auf der Suche nach einem eigenen Stil, der sich intensiv mit den expressionistischen Gestaltungslehren des Bauhauses beschäftigt und sich an Picasso, Léger und Beckmann orientiert, der einen untrüglichen Blick für die Ähnlichkeit der propagierten sowjetischen Kunst mit der Nazikunst hat, die ihm beide zu bieder waren und die er für seine Kunst ablehnte, muss zwangsläufig in die Demütigungen der Formalismuskampagne geraten. Die Attacken der kleingeistigen Funktionäre und die Anfeindungen der Kulturpolitiker treiben ihn in eine Lebenskrise. Mit der Unterstützung der Freunde, aber auch eines Politikers wie Horst Sindermann, geht er jedoch unbeirrt seinen Weg und besteht auf einem eigenständigen künstlerischen Wollen. Immer in der Hoffnung, die Funktionäre doch noch überzeugen zu können, schließlich stand er politisch im Großen und Ganzen auf ihrer Seite. In den Sechzigern beginnen seine engagierten Bilder, sei es zu Vietnam, zu Lidice, zu Leuna 21 und 69, oder zu den Eltern und zur Liebe in der Öffentlichkeit Anklang zu finden. Zugleich formiert sich der Widerstand der engagierten Künstler gegen die stalinistische Kunstpolitik im Verband wie in der Gesellschaft.

Herrschaft und Eigensinn - Teil 2: Die 1970er und 1980er-Jahre: Sie bringen die späte Anerkennung, nicht nur in der DDR auch in der Bundesrepublik. Aber niemals wurden seine Bilder widerspruchlos hingenommen. Anerkennung jedoch nicht nur als Künstler, sondern auch als Verfechter ästhetischer Autonomie. Da neben Sitte auch sein Freund Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke u.a. bedeutende Maler dem parteidogmatischen "sozialistischen Realismus" widerstanden hatten, begann eine neue Generation von Künstlern zu dominieren. Gegen den erheblichen Widerstand der Funktionäre wurden Sitte und Heisig 1974 in die Führungspositionen der Künstlerverbandes gewählt. Das war in der Tat eine neue Ära: Während in der früheren Zeit durch die Politik "vorprogrammiert war, was im Verband zu geschehen hatte", mussten nun "Partei und Regierung zur Kenntnis nehmen [...], was sich dort abspielte" (S. 162). Der überzeugte Kommunist und Antifaschist Sitte setzte sich leidenschaftlich für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Künstlern, für Reisen, Studienaufenthalte und Ausstellungen im Westen ein, auch für manch andere, nur aus den Bedingungen der Beziehungsgeflechte der DDR zu verstehen, wie für die Winzer an Saale und Unstrut. Unter Sittes und Heisigs Leitung entwickelte sich der VBK gewissermaßen zu einem selbstverwalteten eigensinnigen Machtzentrum. Den Funktionären blieb gar nicht anderes übrig, als sich den neuen Bedingungen anzupassen. Zugleich versuchten sie, das Renommee dieser Künstler für die internationale Anerkennung der DDR zu nutzen.

Herrschaft und Eigensinn - Teil 3: Das Ende der DDR: Natürlich konnte die Dominanz der neuen realistischen, - expressiven, sachlichen oder altmeisterlichen - Kunst der Sitte, Heisig, Mattheuer und Tübke nicht ewig währen. Zwangsläufig rebellierten junge Künstler, die sich wie immer als Avantgarde verstanden und andere Wege gehen wollten. Da kam der Zusammenbruch der DDR gerade recht. Und so geriet die friedliche Revolution auch zur Abrechnung mit der "Vätergeneration", unter deren Schutz bzw. hinter deren Rücken man seine ersten nonkonformen Versuche gewagt hatte. Nun waren "Staatskünstler" die "Sündenböcke", allen voran Willi Sitte, die sich zuvor gegen den Staat durchgesetzt hatten. Denn zum Schluss schienen sie der "Staat" zu sein, als die Funktionäre längst abgedankt hatten. Aber nicht mehr mit dem Vorwurf des "Formalismus" und "Kosmopolitismus" wurden sie nun zurückgesetzt, sondern mit "Stasi - Keule" (S. 353) und "Bilderstreit" (S. 358). Keine neue Erfahrung. Wieder einmal wurden politische Argumente instrumentalisiert, um eine ästhetische "Wachablösung" zu inszenieren. Vom Kampf um die neuen Marktpositionen ganz zu schweigen. Willi Sitte hat darunter sehr gelitten, aber nicht aufgegeben. Die Autobiografie ist darum auch seine Verteidigung. Und er malte in vielen Varianten den "Herrn Mittelmaß", den "Wendehals aller Zeiten". Leute, die über Nacht ganz anders redeten als zuvor, gierend nach Einfluss und Anerkennung. Er hatte sie zur Genüge kennengelernt: 1938, als seine tschechische Heimat zum großdeutschen Reich geschlagen wurde, in den 1950/1960ern in der DDR, als die Kleinbürger zur Macht drängten, und in den 1990ern, als die DDR-Kunst abgewickelt werden sollte.

Man muss sich zu den Bildern und Ansichten Willi Sittes seine eigene Meinung bilden. Das gelingt nicht durch oberflächliche Zustimmung oder Ablehnung. Es bedarf schon der intensiveren Beschäftigung mit der Kunst des 20. Jahrhunderts und dem "Zeitalter der Extreme". 5 Endgültige Urteile kann uns nicht einmal die Kunstgeschichte liefern. Und das ganze breite Œuvre des Malers ist noch weithin unbekannt. Seinen Platz in der Kulturgeschichte der DDR zu bestimmen, wird noch einiger Forschung bedürfen. Schirmer hat mit analysierendem Blick, unvoreingenommenem Interesse und Hochachtung vor diesem Leben einen wichtigen Beitrag hierzu geleistet. Mit akribischen Aktenrecherchen hat sie zudem die Haltlosigkeit und Unwissenschaftlichkeit der Intrigenkampagne zur Verhinderung der Nürnberger Ausstellung 2000/01 nachgewiesen. Die schließlich gewählte Form der "Autobiographie" ermöglichte es zwar selten, das Erzählte tiefer in die Geschichte einzuordnen und die künstlerischen Versuche und Leistungen Willi Sittes anschaulich zu dokumentieren und zu kommentieren. Gleichwohl ist mit den Forschungen Schirmers und dem vorliegenden Buch ein entscheidender Schritt zu einer Monografie zu Leben und Werk getan, zu der ich die Autorin ausdrücklich ermuntern möchte. - Dass Willi Sitte seine Illusionen über die Arbeiterklasse verloren hat, die sozialistische Utopie nur eine Sache der Intellektuellen war und die DDR am Mangel an Demokratie zugrunde gegangen ist, bekennt er im Schlusskapitel des Buches. Aber auch unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen haben sich die Anlässe für ihn, "mit Bildern gegen das Unrecht in der Welt Stellung zu nehmen, nicht verändert" betont er. Denn durch "das Scheitern des Sozialismusmodells war das kapitalistische System nicht besser geworden" (S. 359).

Anmerkungen:
1 Vgl. Thomas, Karin, Kunst in Deutschland seit 1945, Köln 2002, S. 451; Offner, Hannelore; Schroeder, Klaus (Hgg.), Eingegrenzt - Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961-1989, Berlin 2000. (Rez. in H-Soz-u-Kult vom 5.8.2001: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=585)
2 Karin Thomas, S. 453.
3 Vgl. Müller, Heiner, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992.
4 Vgl. Lüdtke, Alf (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991; Lindenberger, Thomas (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999.
5 Hobsbawm, Eric, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995.

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