Cover
Titel
Max Webers politisches Denken.


Autor(en)
Fitzi, Gregor
Reihe
UTB 2570
Erschienen
Konstanz 2004: UVK Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Weber-Forschung ist in Deutschland in einer besonderen Lage. Seit über zwei Jahrzehnten steht sie im Bann des großen Editionswerks der Max-Weber-Gesamtausgabe. Dieses Fossil der Gutenberg-Galaxis lähmt die Forschung nicht weniger, als dass es sie fördert und alimentiert. Etwa ein Band pro Jahr erscheint. Dieses Jahr ist es die Musiksoziologie, der kein Originalmanuskript vorlag und die deshalb auch keinen wesentlich anderen Text bietet als die Ausgabe von 1921. Dafür ist sie ungleich teurer, geradezu unerschwinglich. Der plötzliche Tod von Wolfgang J. Mommsen im Sommer 2004 hat dieser Edition nun ihren Motor genommen. Wie es weiter geht, ist offen.

Mommsen 1 stellte Weber 1959 mit seiner epochemachenden Dissertation „Max Weber und die deutsche Politik“ nach 1945 als politischen Denker neu zur Diskussion, indem er ihn ganz in seiner Zeit und im Kontext des Imperialismus sah. Karl Löwenstein 2 wiedersprach sogleich heftig und betonte zahlreiche „Vorprojektionen“, durch die Weber über den Tellerrand seiner Zeit hinausschaute. Auch Mommsen machte Weber später in zahlreichen Arbeiten als politischen Denker stark. Zuletzt war es aber der Freiburger Politologe Wilhelm Hennis 3, der Weber mit drei Büchern als einen liberalen politischen Denker neu entdeckte, der nicht in seiner Zeit aufging, sondern mit dem Erbe der Antike auch über weite verfassungspolitische Perspektiven für die Zukunft verfügte. In seinem letzten Buch „Max Weber und Thukydides“ dokumentierte Hennis den wissenschaftsgeschichtlichen Ort, den Schatten der Weber-Edition, der über der neueren Weber-Forschung liegt.

Weber-Forschung ist eine Lebensbeschäftigung. Das gilt für Mommsen und Hennis wie für Wolfgang Schluchter, Stefan Breuer und manchen anderen. Wer den politischen Denker im Kontext des Gesamtwerks als Klassiker sehen möchte, der Perspektiven weitsichtig umstellte, hat sich viel vorgenommen. So ist es ziemlich riskant, wenn ein junger Autor wie Gregor Fitzi sich an das Thema wagt. Unter dem Titel „Max Webers politisches Denken“ rekonstruiert Fitzi die Kategorien von Webers Herrschaftssoziologie im Zusammenhang seiner verstehenden Soziologie. Er prüft, ob Webers Postulat der „Wertfreiheit“ mit seinem politischen Denken im Einklang steht. Den Anstoß zu dieser Untersuchung gaben die Bemühungen von Hennis, Weber als politischen Denker in der älteren Tradition politischer Philosophie zu verorten. Fitzi betrachtet sein Resultat als Widerlegung dieser These und endet deshalb mit dem Befund, dass „Weber keine Antwort auf die normative Frage der praktischen Philosophie“ (S. 284) und keinen Ansatz zu einer „Neubelebung der praktischen Philosophie“ (S. 287) bietet. Positiv habe Weber aber „der politischen Reflexion eine sozialwissenschaftliche Grundlage“ (S. 11) gegeben. Diese Zielsetzung baut Fitzi eingängig und konsequent auf.

Nach seinem Vorwort exponiert er zunächst die Spannung von Wertfreiheit und politischem Denken. Das zweite Kapitel profiliert diese Spannung dann näher mit einem Blick auf die Rezeption und Forschungslage, wobei Fitzi von der soziologischen Auffassung Webers als Sozialwissenschaftler nach Parsons und Bendix ausgeht und dann über Mommsens Historisierung Webers als „Politiker“ zu Hennis’ These gelangt, Weber sei ein „politischer Philosoph“ gewesen. Das dritte Kapitel skizziert wenige methodologische Grundzüge der verstehenden Soziologie. In vier Kapiteln folgt dann die Rekonstruktion von Webers Herrschaftssoziologie. Sie beginnt mit den „zwei Varianten“ herrschaftssoziologischer Grundbegriffe und schreitet dann über die Herrschaftstypologie und die „politische Gemeinschaft“ zu Webers Analyse des modernen Staates. Selbst die verfassungspolitischen Schriften dampft Fitzi auf einen kategorialen Ertrag ein, in dem der verfassungspolitische Hinweis auf Handlungsspielräume und institutionelle Gestaltungsoptionen untergeht. Zuletzt referiert Fitzi „Politik als Beruf“ als „Plädoyer für den politischen Realismus“ (S. 281).

Fitzi bietet nicht mehr und nicht weniger als eine elementare Rekonstruktion von Webers Kategoriensystem in seiner Zuspitzung auf die Analyse des modernen Staates. Sein Anliegen, wieder an „Wirtschaft und Gesellschaft“ zu erinnern und Webers politisches Denken im akademischen Ertrag des herrschaftssoziologischen Kategoriensystems zu lesen, ist nicht gering zu schätzen. Seine nüchterne und klare Studie eignet sich ohne Einschränkungen als seminaristische Lektüreempfehlung für das Studium der Herrschaftssoziologie. Selten geht Fitzi allerdings über die immanente Rekonstruktion und Klärung von Webers Text hinaus. Nirgends gerät die Rekonstruktion zum historisch-kritischen Kommentar, der Weber in den Kontext seiner Zeit stellte. Verfassungshistorische und wissenschaftsgeschichtliche Erläuterungen finden sich kaum. Die Rekonstruktion liest sich wie eine Entdeckungsfahrt, der die letzten Jahrzehnte kritischer Edition und das „Fachmenschentum“ hochspezialisierter Weber-Forschung nicht sonderlich wichtig ist. Nur durch die Widerlegung von Hennis steht Fitzi in der neueren Forschung. Mit Hennis aber steht er in den Abgrenzungskämpfen der 1950er-Jahre: der von Voegelin und Leo Strauss aufgemachten Antithese von positivistischer Sozialwissenschaft und normativ-praktischer Philosophie, die Hennis revozierte. Fitzi macht es sich deshalb mit der Forschung zu leicht, wenn er nur auf eine Widerlegung von Hennis hinauswill und dabei noch einen starken Begriff von normativ-praktischer Philosophie unterstellt, den weder Hennis noch Voegelin oder Strauss ernsthaft vertreten haben. Der Forschungsertrag dieser Rekonstruktion ist deshalb nicht sehr hoch, was ihrem seminaristischen Nutzen aber keinen Abbruch tut.

Zwar ist Fitzis Befund richtig: Weber vertrat keine starken philosophischen Begründungen und verfügte deshalb auch nicht über eine normative politische Philosophie und Demokratiebegründung. Er beschränkte sich in seiner Kategorienlehre auf die Beobachterperspektive der verstehenden Soziologie. Seine akademische Größe liegt nicht zuletzt in der Klarheit und Konsequenz, mit der er das Kategoriensystem der verstehenden Soziologie polyhistorisch kompetent durchbuchstabierte. Wer in diese Schule Webers geht, sieht die politische Welt mit anderen Augen an. Fitzi führt dies überzeugend durch. Doch diesen Befund bestreitet kaum jemand: Hennis gewiss nicht. Der „Kampf um Weber“ (Hennis) beginnt hier eigentlich erst.

Grenzen von Fitzis Rekonstruktion zeigen sich schon im Vergleich mit Stefan Breuers 4 komplexerer Rekonstruktion von Webers Herrschaftssoziologie und politischer Soziologie. Fitzi geht auf sie überhaupt nicht ein, obwohl sie breit wirkte und Fitzis Fragestellung innerhalb der deutschsprachigen Diskussion besonders nahe steht. Grenzen zeigen sich auch im Umgang mit Hennis, Mommsen und Jaspers. Sie zeigen sich aber vor allem in der Selbstverständlichkeit, mit der Fitzi die Herrschaftssoziologie ins Zentrum stellt und die politischen Schriften als „diagnostische Anwendung“ (S. 267) marginalisiert. Vielleicht kam es Weber gerade auf diese Anwendungen an. Anders als „Wirtschaft und Gesellschaft“ hat Weber jedenfalls seine politischen Schriften im eigenen Namen publiziert. Es sind verfassungspolitische Schriften, die sich nicht auf eine Beobachterperspektive beschränken, sondern in einer gegebenen Lage die „objektiven Möglichkeiten“ für ein politisches Wollen ausloten. Die Kategorie der „objektiven Möglichkeit“ ist eine Brücke von Webers Methodologie zu seinem politischen Denken. Karl Jaspers 5 hat aus der Nähe wohl richtig gesehen, dass Weber nach einer Methode suchte, den „Politiker“ mit dem „Forscher“ und „Philosophen“ zu versöhnen und das eigene Leben philosophisch zu führen, indem er ein Denken entwickelte, das seinem politischen Wollen wie seinem Bedürfnis nach intellektueller Redlichkeit und akademischer Klarheit entsprach. Hennis betrachtet seine Interpretation geradezu als eine Erläuterung dieser Sicht.6 Gewiss fundiert Weber sein politisches Denken in einem soziologischen Kategoriensystem. Seine Intentionen gingen darin aber nicht auf. Schon Webers ständige Warum-gerade-hier-Frage findet bei Fitzi keine Antwort. Webers politisches Denken ist mit dem Hinweis auf das herrschaftssoziologische Kategoriensystem nicht erschöpft. Hier wäre weiter zu fragen.

Anmerkungen:
1 Mommsen, Wolfgang, Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 1959.
2 Löwenstein, Karl, Max Webers staatspolitische Auffassungen in der Sicht unserer Zeit, Köln 1965.
3 Hennis, Wilhelm, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987; Ders., Max Webers Wissenschaft vom Menschen, Tübingen 1996; Ders., Max Weber und Thukydides, Tübingen 2003; dazu meine Rezensionen in: Zeitschrift für Politik 48 (2001), S. 218-221 und Philosophischer Literaturanzeiger 56 (2003), S. 150-153.
4 Breuer, Stefan, Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt am Main 1991; Ders., Bürokratie und Charisma, Darmstadt 1994; dazu meine Rezensionen in: Neue Politische Literatur 38 (1993), S. 94-95 und Politisches Denken. Jahrbuch 1994, S. 213-215.
5 Jaspers, Karl, Max Weber, Oldenburg 1932.
6 Hennis, Wilhelm, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, S. III (Vorwort).

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