W. Geier: Russische Kulturgeschichte in diplomatischen Reiseberichten

Titel
Russische Kulturgeschichte in diplomatischen Reiseberichten aus vier Jahrhunderten. Sigmund von Herberstein, Adam Olearius, Friedrich Christian Weber, August von Haxthausen


Autor(en)
Geier, Wolfgang
Reihe
Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 37
Erschienen
Wiesbaden 2004: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität Berlin

Reise- und Gesandtschaftsberichte gehören zu den klassischen Quellen historischer Forschung und erfreuen sich im Rahmen der Kulturgeschichte mit ihrer Konzentration auf Wahrnehmungen, Selbst- und Fremdbilder seit einiger Zeit neuer Beliebtheit. Wichtige Grundlagen für eine kulturhistorische Betrachtung Russlands hat vor einigen Jahren bereits Gabriele Scheidegger gelegt 1, andere Elemente finden sich über die Literatur verteilt. Doch auch als wertvolle Quelle politischer Geschichte, z.B. für das höfische Leben zur Zeit Peters des Großen, werden diplomatische Berichte nun neu interpretiert.2

Hier liegen Quellen in großer Zahl vor, von denen einige Bedeutung und Bekanntheit erlangt haben, die über die detailorientierte historische Forschung hinausgehen. Die eingängigen Gesamtdarstellungen der fremden, faszinierenden oder auch abstoßenden russischen Kultur Sigmund von Herbersteins (1486-1566), Friedrich Christian Webers (? – 1739), Adam Olearius´ (1599-1671) und August von Haxthausens (1792-1865) haben unser Bild von Russland lange Zeit geprägt. Die Vorstellung von einer Kultur der Unterdrückung und des unterwürfigen Verhaltens am moskovitischen Hof des 17. Jahrhunderts, wie sie beispielsweise in Olearius´ „Vermehrter Moscowitischer vnd Persianischer Reisebeschreibung“ zu finden ist, wird seit noch nicht allzu langer Zeit in Frage gestellt.3 Der Topos des mir, der russischen Dorfgemeinschaft, dagegen, von August von Haxthausen in seinem Buch über „Die ländliche Verfassung Russlands“ als Grundlage der russischen „Volksverfassung“ und als Beweis für das besondere soziale Wesen der Russen beschrieben, wurde bereits früher problematisiert.4 Insbesondere hier ist längst deutlich geworden, wie eine aktuelle Situation – in diesem Falle die Jahrzehnte vor der russischen Bauernbefreiung 1861 – das Gesamtbild von einem Land beeinflusst hat: Die mehr oder weniger stark romantisch angehauchte Vorstellung von den eigentumslosen, gemeinschaftsorientierten Russen wurde verallgemeinert und stützt bis heute unsere Vorstellung von der „russischen Seele“. Und nicht zuletzt gibt die Rede Friedrich Christian Webers vom „veränderten Russland“ stets ein passendes Zitat für die Zeit und die Reformen Peters I. her; seine Aussage über die massenhaften Leiden, die diese Veränderungen mit sich brachten, und von den „Seufzern so vieler Millionen Seelen wider den Zar“ zeugt immerhin von kritischer Distanz zum aufklärerischen Regulierungsdenken. Mittlerweile oft nur mehr zum Zitatensteinbruch und zum leicht zugänglichen Klassiker für die Seminarlektüre geworden, bergen diese Quellen, darauf kann man hoffen, noch viele Schätze für die Geschichtsschreibung über Russland und Europa.

So stellen die hier angesprochenen Texte sehr prominente und dabei ambivalente Quellen dar, deren Wert für sozialhistorische Fragen einerseits und kulturhistorisches Interesse andererseits unterschiedlich bewertet werden muss und deren Bedeutung für die Russlandforschung noch lange nicht abschließend geklärt ist. Die Ankündigung des Bandes von Wolfgang Geier zu den Klassikern der Gesandtschaftsberichte aus Russland stieß daher bei vielen Kollegen auf ein entsprechendes Echo. Die dringend benötigte Quellenedition wollte Geier allerdings nicht vorlegen. Ob er stattdessen eine interessante Analyse dieser Quellen liefern wollte, wird leider nicht ganz deutlich. Gelungen ist es ihm nicht.

Das Buch besteht aus zwei verschiedenen, miteinander verschränkten Texten. Zum einen schreibt Geier handbuchartige Texte zur Geschichte Russlands, Österreichs und Deutschlands vom frühen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Dass er dabei die Ebene des sehr Allgemeinen kaum verlassen kann, liegt auf der Hand, zumal eine These oder auch nur eine Fragestellung leider fehlen. Der zweite Teil des Buches besteht aus den Biografien der Autoren sowie Zusammenfassungen ihrer Werke. Auch hier fehlt eine Fragestellung, und der vollkommene Mangel einer analytischen Dimension macht den Text zu einer reinen Ansammlung von – zuweilen willkürlich erscheinenden – Fakten, so wenn Geier den Ursprung des Zitates vom glücklichen, heiratenden Österreich auf Ovid (Heroid.13,84) zurückführt. Die Bedeutung solchen Quizwissens erschließt sich hier nicht. Diese ziellose Erzählung wird nur durch Wertungen des Autors wie „interessant und ergiebig“ oder auch „voll mit Vorurteilen“ unterbrochen, die jedoch weder besonders überraschend noch in irgendeiner Weise weiterführend sind.

Problematisch erscheint zusätzlich, dass die Zusammenfassungen der Texte von den Kommentaren des Autors oft kaum zu unterscheiden sind. Während Geier die Reisenden des 16. bis 19. Jahrhunderts wegen ihrer Vorurteile rügt, sind seinem eigenen Text Klischees nicht fremd. Zur tatarischen Herrschaft schreibt er: „Hier entstand, was Jahrhunderte später russische Intellektuelle als die `viele hundert Jahre alte russische Sklavenseele´ bezeichneten.“ (S. 7) Erwähnenswert ist hier auch das lakonische „Der Dekabristenaufstand 1825 wurde, wenn überhaupt, als dilettantisch-romantische sinnlose `Heldentat´, als heroisch-tragischer Irrtum wahrgenommen, was im übrigen zutraf.“ (S. 21) Die für eine Untersuchung von Wahrnehmungen notwendige Distanz fehlt leider ebenso wie die dafür unentbehrliche Methodik.

Besonders ärgerlich ist, dass der Autor sein Buch mit Etiketten und Versprechungen schmückt, die er nicht einmal ansatzweise einlöst. Dazu gehören nicht nur der Titel „Russische Kulturgeschichte“ und die Kapitelüberschrift „Wahrnehmungen“. Auch das wirre Vorwort, in dem Geier einen eigentlich geplanten, aber nicht möglichen Vergleich Russlands mit Bulgarien anspricht und verheißt, „diese Berichte […] als methodische Ansätze oder Anregungen für vergleichende sozial- und kulturgeschichtliche Untersuchungen zu verwenden“, jongliert mit methodischen und theoretischen Begriffen, ohne ihnen einen Sinn zu geben oder sie gar umzusetzen. Weder wird gesagt, was, warum und wie verglichen werden soll, noch wird dann tatsächlich ein Vergleich durchgeführt.

Im Fazit muss dieses Buch leider als ärgerlich und enttäuschend, als strukturfrei und distanzlos deskriptiv bezeichnet werden.

Anmerkungen:
1 Scheidegger, Gabriele, Perverses Abendland - barbarisches Russland. Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse, Zürich 1993.
2 Kürzlich sind diplomatische Berichte zu einer zentralen Quelle gemacht worden z.B. in Bushkovitch, Paul, Peter the Great. The Struggle for Power, 1671-1725, Cambridge 2001; siehe auch, sehr quellennah: Ders., Aristocratic Faction and the Opposition to Peter the Great: the 1690´s, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 50 (1995), S. 80-120.
3 Kivelson, Valerie A., Bitter Slavery and Pious Servitude: Muscovite Freedom and Its Critics, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 58 (2001), S. 109-119. Vgl. auch Poe, Marshall, What Did The Russians Mean When They Called Them-selves "Slaves of the Tsar"?, in: Slavic Review 57 (1998), S. 585-608.
4 Hier war wichtig: Goehrke, Carsten, Die Theorien über Entstehung und Entwicklung des „Mir“, Wiesbaden 1964.

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