H. Fischer-Tine: Handeln und Verhandeln

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Titel
Handeln und Verhandeln. Kolonialismus, transkulturelle Prozesse und Handlungskompetenz


Herausgeber
Fischer-Tine, Harald
Reihe
Periplus Parerga 8
Erschienen
Hamburg 2002: LIT Verlag
Anzahl Seiten
238 S.
Preis
€ 30,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Middell, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Dietmar Rothermund, inzwischen emeritierter Professor für südasiatische Geschichte in Heidelberg, hat dem hier in seinem Abschlusskolloquium dokumentierten DFG-Schwerpunktprogramm über die kognitive Interaktion von europäischen und außereuropäischen Gesellschaften zwischen dem 15. und 20. Jahrhundert eine theoretische Grundlegung gegeben, die im Begriff der Handlungskompetenz eine Symbiose aus agency, theory und Searlscher speach act theory versucht. Gemeint ist damit eine Analyse der interkulturellen Beziehungen während der Kolonialexpansion, welche die Wechselseitigkeit des Austausches und damit auch die traditionsgestützte Eigensinnigkeit und die auf Ergebnisse der Interaktion mit den Europäern zurückgreifende Selbstermächtigung der Kolonisierten ernst nimmt. Auf diese Weise wird eine Wende in den area studies systematisch erfasst, welche die Opfer kolonialer Herrschaft und Ausbeutung nicht nur im Status rückwärtsgewandter Verteidiger einer (idealisierten) vorkolonialen Welt als „Lehrlinge“ überlegener westlicher Kultur oder als Träger unverwirklichter Potentiale auffasst, die erst den Moment der Dekolonisierung abwarten mussten, um sich wieder einer eigenen Geschichte zu bemächtigen. Dieser Ansatz ist der an Beispielen aus der europäischen Geschichte entwickelten Vorstellung von kulturellen Transfers ganz adäquat. Denn auch hier wird die aktive Rolle beider Kulturen betont, die durch ihre Aneignungsbemühungen aus dem Kontakt je eigene Konsequenzen zu ziehen sich bemühen.

Jüngst hat Jürgen Osterhammel an der Übertragbarkeit dieses Modells auf die Geschichte kolonialer Beziehungen Zweifel geäußert. Die Machtasymmetrien einerseits und die kulturelle Distanz andererseits hätten eine vergleichbar wechselseitige Rezension erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Die Beispiele des vorliegenden Bandes zeigen jedoch an ausgewählten Vorgängen, dass dem keineswegs so ist. Tatsächlich sind sehr intensive kulturelle Transfers sowohl von der europäischen in die außereuropäische Welt als auch umgekehrt zu beobachten. Rothermund lenkt in Polemik mit der Begeisterung für Saïds Thesen vom Orientalismus der Europäer die Aufmerksamkeit auf den außereuropäischen Okzidentalismus als wichtigen Mechanismus zur Aneignung europäischer Wissensordnungen und institutioneller Arrangements mit dem Ziel, sie für die Emanzipation von den Kolonialherren zu entwickeln. Nikolaus Böttcher exemplifiziert die außereuropäische Handlungskompetenz an den reales consulados, den Interessenvertretungen lokaler Kaufleute im spanischen Kolonialreich in Südamerika, die infolge der Bourbonischen Reformpolitik nach 1790 zwischen Buenos Aires und Havanna entstanden. Sie wurden in vielen, wenn auch aufgrund massiver spanischer Interventionen nicht in allen Orten zu Treffpunkten einer immer selbstbewusster auftretenden kreolischen Bürgerschicht, die eigene Handelsrouten und neue Arbeitsmärkte suchte und damit der emancipación vorarbeitete. Böttcher diskutiert die spanisch-britische Konkurrenz als Hintergrund für die wachsenden Spielräume der Kreolen.

Michael Mann wendet den Blick auf Indien, wo er anhand der noch beim Mogul verbliebenen Entscheidungsrechte in einer mikrohistorischen Studie die Unruhen in Delhi 1807 im Rahmen langfristiger Teilung von Legitimität und Herrschaft zwischen dem Residenten der Briten und den lokalen Autoritäten untersucht. Ulrike Stark schließt hier beinahe direkt an, wenn sie die Herausbildung einer Vereins- oder Vereinigungskultur in Britisch-Indien untersucht, die sie auf die 1860er und 1870er-Jahre datieren kann. Diese Assoziationen existierten lange in Kooperation mit der Kolonialmacht, aber durch ihre Wirkung als „Keimstätten nationalistischer Selbstbestimmung“ (S. 73) konnten sie ihre Wirkung doch breit entfalten. Weitere Beispiele über die Zirkulation westlichen Wissens in China (Natascha Vittinghoff), über das Entstehen von Handlungskompetenz in und durch die Mädchenerziehung im indischen Fürstenstaat Hyderabatt (Margrit Pernau) oder die Widersprüchlichkeit des Nationalismus in der Bildungspolitik Britisch-Indiens am Anfang des 20. Jahrhunderts (Harald Fischer-Tiné) sowie in der Literaturentwicklung Indiens und Chinas (Monika Horstmann bzw. Barbara Mittler) schließen sich an. Den Band beschließt die Studie von Harald Sippel über afrikanisches Gewohnheitsrecht im Spannungsfeld zwischen indigener Handlungskompetenz und europäischen Einflüssen. Sippel greift noch einmal den theoretischen Gesamtrahmen des Bandes auf und unterstreicht die Ambivalenz der Handlungsmacht, die in den Kolonien entstehen konnte.

Insgesamt bestätigt der Band den erfolgreichen Abschluss des Schwerpunktprogrammes, welches man als eine deutsche Antwort auf die postkolonialen Ansätze bezeichnen könnte, die zum selben Zeitpunkt in der Karibik, in Nordafrika und in den nordamerikanischen Universitäten entstanden und auch in den subaltern studies in Indien ihr Echo fanden. Es besteht kein Grund, hier von einem Rückstand der deutschen Außereuropaforschung zu sprechen. Wie weit die hier detailreich ausgebreiteten Ergebnisse allerdings in das allgemeine Geschichtsbild und in die allgemeine Theorieentwicklung der Geschichtswissenschaft eindringen werden, bleibt abzuwarten.

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