A. Lawaty u.a. (Hgg.): Deutsche und Polen

Cover
Titel
Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik


Herausgeber
Lawaty, Andreas; Orlowski, Hubert
Reihe
Beck'sche Reihe 1517
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
632 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Daniel Engeldinger, Centre Marc Bloch, Berlin

Deutschland liegt nicht nur geografisch, sondern auch mental zwischen Frankreich und Polen. Während die gesellschaftliche, staatliche, kulturelle und wirtschaftliche Sonderbeziehung zwischen Deutschen und Franzosen, den - in den Worten Rudolf von Thaddens - „Zwillingen“ am Rhein, auf breiter Ebene anerkannt ist, sind sich Polen und Deutsche immer noch weitgehend unbekannte Nachbarn. Wie fragil die „zarten Pflänzchen“ Versöhnung und gute Nachbarschaft sind, haben die seit dem vergangenen Jahr geführten Diskussionen um Vertreibungen und Entschädigungen gezeigt. Ein 1992 herausgegebener Sammelband versuchte erstmals, den Irrgarten der möglichen Missverständnisse zwischen Polen und Deutschen zu lichten. Nun liegt eine Neubearbeitung der „100 Schlüsselbegriffe“1 unter dem Titel „Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik“ vor; zeitgleich erschien eine polnische Ausgabe in der Reihe „Posener Deutsche Bibliothek“ des Verlags Wydawnictwo Poznanskie.2

Für die Qualität der darin vereinigten 64 Beiträge, die in der Regel mit Literaturhinweisen versehen sind, bürgt die Tatsache, dass die Herausgabe des Bandes wiederum im Deutschen Polen-Institut Darmstadt redaktionell betreut worden ist. Ein AutorenInnen- und Personenregister erleichtert die Benutzung des Bandes als Handbuch. Verfasst haben die Artikel 36 polnische und 19 deutsche AutorenInnen, wobei leider die Chance verpasst wurde, verstärkt Nachwuchswissenschaftler für die Mitarbeit zu gewinnen. Das zahlenmäßige Ungleichgewicht ließe sich als ein Zeichen dafür interpretieren, dass für Polen die westlichen Nachbarn von größerem Interesse sind als für Deutsche ihre Freunde jenseits von Oder und Neiße.

Der Schwerpunkt des Buches liegt weniger auf der Darstellung der Geschichte der politischen Beziehungen oder der gegenseitigen Stereotypen als auf den für die Identität beider Nationen zentralen Begriffen. Aufgeteilt ist das Buch in fünf Kapitel (Felder), von denen je eines die „Geschichte einer Nachbarschaft“, polnische und deutsche Erinnerungsorte, Kultur und Identität, Gesellschaft und Lebenswelt sowie Politik und Wirtschaft behandelt. Die meisten der Artikel eignen sich als Einführung in die behandelten Themenkreise.

Die Beiträge der ersten beiden Felder versuchen, kollektive Erinnerung und Geschichtsschreibung von nationalen Mythen zu befreien. Dies gilt beispielsweise für die Anfänge beider Staaten, auf die Jerzy Strzelczyk eingeht. Ohne sie explizit auszuführen, übergeht der Historiker die gelegentlich zu findende, auf der Hypothese einer organisatorischen Überlegenheit „germanischer“ Völker beruhende „Wikingertheorie“ zur Erklärung der Entstehung des polnischen Staates. Stattdessen stellt er ausführlich die auf der Grundlage gesicherter Quellen beruhenden Forschungsansätze dar.

Den slawischen Anteil an der Bildung der deutschen Neustämme im Zusammenhang mit dem mittelalterlichen Landesausbau, auch die slawischen Ursprünge vieler Orte im heutigen Deutschland, behandelt der Artikel von Christian Lübke unter dem Titel „Germania Slavica“. Diesen Begriff setzt Lübke demjenigen der Ostkolonisation entgegen. Dem „Drang nach Osten“ widmet sich explizit der Beitrag von Hans Lemberg. Er verweist darauf, dass dieses Gegenstereotyp zum Panslavismus nicht zufällig erstmals 1849, also zur Zeit der „Polendebatte“ in der Paulskirche, belegt werden kann (S. 34). Gottfried Schramm erinnert an die kulturelle Blüte in Polens „Goldenem Zeitalter“ der zweiten Hälfte des 15. und des 16. Jahrhunderts, als hier eine in Europa fast einzigartige religiöse Toleranz herrschte, während sich im alten Reich zur Zeit der Reformation die Kräfte „im konfessionellen Kampf verschlissen“ (S. 41).

Die vergleichende deutsch-französische Forschung war wegweisend für das zweite Kapitel des Buches, das die Erinnerungsorte thematisiert. Zu Beginn geht Rudolf Jaworski - wie schon im 1992 erschienenen Vorgängerband - auf die selektive Wiederentdeckung der Geschichte im noch geteilten Deutschland der 1980er-Jahre ein. In Polen habe das Nachwirken der dramatischen Geschichte der vergangenen drei Jahrhunderte dazu geführt, dass einerseits ein populärer Vergangenheitskult, andererseits aber die aufklärerischen Ambitionen einer zum Teil oppositionellen Intelligenz eine komplexe Geschichtskultur schufen (S. 113). Dass der Heilige Adalbert, dem modernen Verständnis nach ein Tscheche, und die Heilige Kinga, eine Ungarin, ihren Platz in der kollektiven Erinnerung der Polen haben, dass der Text der polnischen Nationalhymne bis heute an die Verbundenheit mit dem französischen Heerführer und Kaiser Napoleon erinnert, zeuge von der Offenheit der polnischen Identität.

Weitere Beiträge des zweiten Feldes beschäftigen sich mit Mitteleuropa und Galizien, mit Preußen, Sachsen, der DDR und mit dem deutschen Kulturerbe in Polen. Die Geschichte anderer Dreiecksbeziehungen ist Inhalt der Artikel über Frankreich, Amerika, über „Russlandsehnsucht und Russlandhass“, über die „emotionale Nachbarschaft“ beider Nationen zu den Tschechen und über das deutsch-polnisch-jüdische Verhältnis.

Die Beiträge der ersten beiden Felder zeigen, wie sehr die deutsch-polnische Komponente der Geschichte Mitteleuropas der deutsch-französischen Komponente Westeuropas komplementär ist. Eine Chance wird es sein, die verflochtene Geschichte der Franzosen und Deutschen wie die der Deutschen und Polen im vereinten Europa als „histoire croisée“ darzustellen.3

Das gesamte dritte Kapitel greift das ureigenste Feld der Intellektuellen auf, dasjenige der Wissens- und Wissenschaftskulturen und der kulturellen Symbole. Es ist bedauerlich, dass zu den hervorragenden Beiträgen über „Kultur“ (S. 256-268) und „Bildung“ (S. 312-322) ein Teil der Literaturangaben fehlt. Sarmatismus, Messianismus und Exil sind die Themen weitere Beiträge. Herausragend ist der Artikel über die „Stereotype[n] der ‚langen Dauer’“ von dem Mitherausgeber Hubert Orlowski (S. 269-279).

Im Feld „Gesellschaft und Lebenswelt“ findet der Leser Einträge zu Nation und Gesellschaft oder zu Rechtsextremismus, Antisemitismus, Minderheiten. Der Beitrag über Lebensstile fällt leider sehr theoretisch aus, im Unterschied zu demjenigen über Frauen von Slawomira Walczewska (S. 397-403), der sich unter dem Titel: „Emanzipation und Handkuss“ auch dem nur beiläufig interessierten Leser leicht erschließt.

Auf dem fünften, mit den Begriffen Politik und Wirtschaft überschriebenen Feld beschäftigen sich die Autoren unter anderem mit unterschiedlichen politischen Strömungen, mit Europa, mit Unternehmergeist und Globalisierung, aber auch mit Natur und Umwelt. Besonders anregend für die weitere vergleichende Forschung sind die Artikel über den Rechtsstaat von Witold M. Góralski (S. 486-495) und über den Liberalismus, den Zdzislaw Krasnodebski verfasst hat (S. 502- 517).

Leider blieben einige Themen, die sich der interessierte Leser wünschen würde, ausgespart: etwa das Café aus europäischer Perspektive, das in Polen wie in Österreich oder Frankreich der Salon der Metropole ist (- das ‚Blickle’ in Warschau, die ‚Jama Michalika’ in Krakau); oder die Rolle von Orten der Begegnung, um nur das Darmstädter Polen-Institut, das Willy-Brandt-Zentrum der Universität Breslau, die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, das Deutsche Historische Institut in Warschau, das Zentrum der polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin oder die Begegnungsstätte in Kreisau zu nennen. Vielleicht werden sie in der nächsten überarbeiteten Ausgabe zu finden sein.

Der Band „Deutsche und Polen“ spiegelt ein intellektuelles Gespräch zwischen polnischen und deutschen Wissenschaftlern wider. Einen besonderen Gewinn kann der Leser aus der komplementären Lektüre mehrerer Artikel ziehen. Das Buch gibt bedeutende Beispiele für Kulturtransfer und die Leistungsfähigkeit der vergleichenden Geschichte. Zugleich bietet es eine vorzügliche Übersicht über zahlreiche Themen der gemeinsamen Geschichte und Gegenwart. Als Schullektüre eingesetzt, ist es in der Lage daran mitzuwirken, dass Deutsche und Polen Freunde werden, bevor sie sich dann wieder, zu gut bekannt, einander entfremden können.

Anmerkungen:
1 Kobylinska, Ewa; Lawaty, Andreas; Stephan, Rüdiger (Hgg.), Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe, München 1992.
2 Polnisch als: Lawaty, Andreas; Orlowski, Hubert (Hgg.), Polacy i Niemcy. Historia – kultura - polityka, Poznan 2003. – Dem gleichen Konzept verpflichtet sind auch die beiden Bände: Picht, Robert; Hoffmann-Martinot, Vincent; Lasserre, René; Theiner, Peter (Hgg.), Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert, München 1997; sowie Koschmal, Walter; Nekula, Marek; Rogall, Joachim (Hgg.), Deutsche und Tschechen. Geschichte - Kultur - Politik. Mit einem Vorwort von Václav Havel, München 2001 (auch unter dem tschechischen Titel: Ceši a Nemci. Dejiny - Kultura - Politika, Praha 2001).
3 Vgl. die Vorschläge für eine Weiterentwicklung der vergleichenden und der Beziehungsgeschichte in: Werner, Michael; Zimmermann, Bénédicte, „Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen“, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607-636.

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