Ph. Heldmann: Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks

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Titel
Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks. Konsumpolitik in der DDR der Sechzigerjahre


Autor(en)
Heldmann, Philipp
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 163
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
André Steiner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Konsum bzw. die Erfüllung von Konsumerwartungen spielten eine entscheidende Rolle für die Stabilität der DDR, weil damit ganz wesentlich über Akzeptanz und Legitimität des Regimes entschieden wurde. Diese in der Literatur bereits vielfach betonte These will Philipp Heldmann mit seiner Dissertation belegen, indem er untersucht, wie sich die SED-Spitze in den 1960er-Jahren mit ihrer Konsumpolitik bemühte, Herrschaft und Wirtschaft zu stabilisieren. Unter Konsumpolitik versteht er dabei den Versuch, den privaten Verbrauch zu regulieren. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit die Parteiführung in diesem Zusammenhang ihren Gestaltungsanspruch durchsetzen konnte.

Die Arbeit konzentriert sich auf die Bekleidung als Beispiel für industrielle Konsumgüter. Der Untersuchungszeitraum umfasst die „langen 1960er-Jahre“ von der „ökonomischen Hauptaufgabe“ Ulbrichts 1958 bis zu der „Hauptaufgabe“ Honeckers 1971. Dazwischen liegen die Jahre der Wirtschaftsreform, deren Konsequenzen für den Konsum Heldmann nachgeht. Die Konsumpolitik stellt er anhand von drei Aufgaben dar, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist: Zunächst geht er auf die von der SED-Spitze besonders kontrollierte mittelfristige Perspektivplanung ein, mit der vor allem die Investitionen bestimmt wurden, woraus sich dann makroökonomisch der vorgesehene Umfang des Konsums ergab. Im zweiten Kapitel steht die Jahresplanung im Mittelpunkt, mit welcher der Perspektivplan umgesetzt werden sollte und die sich auf die Produktion konzentrierte. Die Konsequenzen für den Konsum ergaben sich dabei zum einen aus der Höhe und Verteilung der in der Produktion erzielten Arbeitseinkommen sowie zum anderen aus dem durch die Produktion bereitgestellten Warenangebot. Drittens behandelt Heldmann die wirtschaftlich und politisch besonders brisante Bildung der Verbraucherpreise, wobei die SED-Spitze seiner Meinung nach weitgehend konzeptionslos agierte. Insgesamt stehen die Bildung von Institutionen, Entstehungsprozesse von Konzepten und Vorstellungen im Vordergrund; die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen rücken dagegen etwas in den Hintergrund.

Ausgehend von der Frage, inwieweit die SED-Spitze ihren Gestaltungsanspruch bezüglich des Konsums der Bevölkerung durchsetzen konnte, arbeitet Heldmann vier Schwächen des Regimes heraus. Erstens verfügte die SED über kein kohärentes Konzept von Konsum; ihre Vorgaben auf diesem Feld entstanden meist indirekt. Konsum blieb eine abhängige Variable: Das verteilbare Produkt und die Investitionen bildeten bei der Perspektivplanung den Ausgangspunkt und Konsum die sich daraus ergebende Restgröße, die möglichst begrenzt werden sollte. Letzteres war aber nicht so sehr eine Folge davon, dass Konsum – so Heldmann – als „ökonomisch schädlich“ galt (S. 128), sondern weil er nicht als Wachstumsfaktor begriffen wurde – was in der Marxschen Theorie wurzelte, wie sie in der DDR verstanden wurde. Heldmann zeigt, dass die Beschränkung des Konsums in der mittelfristigen Perspektive aber mit den Interessen der Planer und Wirtschaftsfunktionäre konfligierte, die in den Jahresplänen hohe Produktionsziele abzusichern hatten, welche wiederum respektable Einkommenszuwächse erforderten. Zudem bestimmten die Produktionsziele das Warenangebot. Letztlich blieb auch die Planung der Einkommen eine Resultante der Planung von Produktion und Investitionen. Weitere Widersprüche lagen in der Verbraucherpreispolitik begründet, die auf stabile Preise gerichtet war sowie zugleich mit dem Problem wachsender Subventionen und den unintendierten Anreizwirkungen der Preise zu kämpfen hatte. Die partielle Gegensätzlichkeit all dieser Elemente verhinderte die Bildung eines konzisen Konzepts für Konsum, was nach Heldmann Raum für Aushandlungsprozesse ließ.

Die zweite Schwäche bezog sich auf das Verhältnis der SED-Spitze zum Staats- und Parteiapparat. Am deutlichsten war sie dort zu spüren, wo sich die zu lösende Aufgabe, wie im Bereich der Preispolitik, noch weitaus komplexer als bei der Produktions- und Investitionsplanung darstellte, aber für den Apparat durchaus Spielräume erkennbar waren, die dieser auch weidlich nutzte. In diesen Kontext gehörte zudem die Unfähigkeit der SED-Spitze – die, nebenbei bemerkt, in dieser Frage selbst nicht einheitlich agierte –, den Apparat dauerhaft für den Prozess der Wirtschaftsreform zu mobilisieren.

Die dritte Schwäche zeigte sich im Verhältnis der SED-Spitze zur Wirtschaft, da dort – nach Heldmann – ein Machtnetzwerk der zentral geplanten Industrie wirkte, mit dem der Staat massiv eingriff und seinen Gestaltungsanspruch weitgehend durchsetzen konnte. Außerhalb dessen lag der Konsum, der ein eigenes Machtnetzwerk bildete, das stärker über Geld vermittelt war und weniger der Kontrolle der SED-Spitze unterlag. Das Verhalten der Haushalte konnte eben nicht mittels Planung bestimmt werden. Obwohl nicht zu bestreiten ist, dass sich der Durchsetzungsgrad der Zentrale in beiden Bereichen unterschied, muss hier zweierlei eingewandt werden: Erstens übersieht Heldmann, dass auch die Produktions und Investitionspläne in einem Aushandlungsprozess entstanden, darüber hinaus nie vollständig sein konnten und sich nie so umsetzen ließen, wie sie gedacht waren. Der auf dieser Grundlage zwischen den Betrieben entstehende graue Markt diente zur Sicherung der Produktionsvoraussetzungen, wozu auch gehörte, dass knappe Konsumgüter für die eigenen Beschäftigten beschafft wurden, was wiederum eine Schnittstelle mit dem Konsum bildete. Kurz, auch das „Machtnetzwerk der zentral geplanten Industrie“ war mehr als löchrig. Zweitens blieben auch die privaten Haushalte den Zwängen unterworfen, die aus der Produktionsplanung resultierten und sich vor allem in den „Versorgungslücken“ zeigten, über die die ostdeutsche Bevölkerung fortwährend „stolperte“. Insofern erscheint die von Heldmann formulierte These zu dichotomisch.

Die vierte Schwäche schließlich betraf das Verhältnis der SED-Führung zur Bevölkerung. Die Parteispitze setzte die Konsumpolitik als Instrument ein, um interessegeleitete Zustimmung und Mitwirkung der Bevölkerung zu erzeugen, womit sie aber permanent ins Hintertreffen geriet – noch dazu vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz. Schon wegen der Quellenproblematik konzentriert sich Heldmann in diesem Punkt auf die Seite der SED-Spitze, weshalb die Darstellung etwas blass bleibt.

Die genannten vier Schwächen bei der Durchsetzung des umfassenden Gestaltungsanspruchs der Parteispitze können als zentrales Ergebnis allenfalls jemanden überraschen, der noch an die Möglichkeit des totalen Durchgreifens einer Diktatur glaubt. Heldmanns Verdienst ist es aber, die Schwächen für den Konsum detailliert zu belegen und auszuarbeiten. Dabei schreckt er nicht vor (mitunter zu) starken Thesen und Urteilen zurück, die zum Widerspruch herausfordern, hier jedoch nicht eingehend diskutiert werden können. Angesprochen werden soll aber, dass der für die Untersuchung zentrale Begriff des Aushandelns überdehnt wird, wenn darunter auch die Interaktion zwischen SED-Spitze und Bevölkerung gefasst wird. Angesichts des beträchtlichen Machtgefälles verliert der Terminus bei einer solchen Verwendung an Schärfe und analytischem Erklärungswert. Ähnliches gilt für den immer wieder bemühten Vorschlag, Partei und Plan als Instrumente sowohl rational-legaler als auch charismatischer Herrschaft zu begreifen. Das von Heldmann als „charismatisch“ gefasste Element der Pläne und der Planungstätigkeit wird in der bisherigen Literatur als ihr Mobilisierungsmoment beschrieben. Aus der Darstellung wird nicht klar, welchen Erklärungsgewinn die Kategorie des Charismas demgegenüber bringt.

Außerdem neigt der Autor mitunter zu verkürzten Darstellungen komplexer Prozesse, wenn er beispielsweise vor dem Hintergrund der „ökonomischen Hauptaufgabe“ von 1958 von einer „ausgesprochenen Konsumförderung“ (S. 11) oder „expansiven Sozial und Konsumpolitik“ (S. 56) vor dem Mauerbau ausgeht. Tatsächlich war die Umsetzung der „Hauptaufgabe“ infolge konkurrierender Projekte schwierig, und der Konsum wuchs zunächst weiter unterproportional, weil die Investitionen stark angehoben wurden, um mittelfristig den Konsum erhöhen zu können. Als der Konsum 1960/61 tatsächlich überproportional zunahm, war dies eher eine unintendierte Folge der SED-Politik, die auf das Druckpotenzial der Beschäftigten gegenüber den Betriebsleitungen bei Vollbeschäftigung, offener Grenze und „weichen“ Leistungsanreizen zurückzuführen war. Insofern sollte für diesen Zeitraum nicht von einer gezielten Förderung des Konsums gesprochen werden. Zwar ist der Band in einer gut lesbaren Sprache verfasst, doch fehlt mitunter ein klarer roter Faden. Alles in allem hat Philipp Heldmann eine streitbare und sicher nicht unstrittige Darstellung vorgelegt, an der diejenigen nicht vorbeikommen, die sich mit dem Konsum in der DDR befassen.

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