E. Siegel: Konfigurationen der Treue

Titel
High Fidelity - Konfigurationen der Treue um 1900.


Autor(en)
Siegel, Eva-Maria
Erschienen
München 2004: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Schwarz, Fach Geschichte, Universität Duisburg-Essen

Die grundlegende Funktion von Sprache liegt darin, eine Verständigung über Sachverhalte möglich zu machen. Längst nicht immer ist diese Verständigung automatisch gewährleistet, selbst dann nicht, wenn die Gesprächspartner die gleichen Wörter verwenden. Das gleiche Wort kann von zwei Sprechern für unterschiedliche Phänomene oder unterschiedlich ausgeformte Fälle eines Phänomens oder auch mit unterschiedlichem Verständnis der Begriffsbedeutung verwandt werden. Wörter, die Beziehungen zwischen Menschen und vor allem Emotionen bezeichnen, zeichnen sich durch besondere Komplexität und Differenziertheit aus. Wie komplex und differenziert sie sein können, führt Eva-Maria Siegel in ihrer Habilitationsschrift an Begriff und Phänomen der Treue vor, so wie sie sich in der literarischen Repräsentation der Jahrhundertwende, vor allem in den Texten des Naturalismus, niederschlugen. Welche Deutungsmodelle, welche Konfigurationen des Wortes wurden um 1900 in Deutschland verwandt? Wie wandelten sie sich angesichts der Herausforderungen im Übergang in das neue Jahrhundert?

Die Beschäftigung mit den Deutungen geht davon aus, dass im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert drei Ebenen das Begriffsfeld der Treue bestimmten, das Verhältnis der Geschlechter, das Verhältnis sozialer Gruppen und die technische Art der Wiedergabe oder Darstellung. Die Vorstellungen von Geschlechtertreue, Fraktionstreue und Detailtreue seien miteinander verbunden gewesen und hätten eine Werteordnung bestimmt, die sich über die Nation definiert habe. Eben diese zentrale These wird in der nachfolgenden Auseinandersetzung mit der literarischen Produktion bestätigt, nicht zuletzt dank eines differenzierten Zugangs, der Methoden der Begriffs- und Diskursgeschichte, der Mentalitätsgeschichte und der (Sozial-)Psychologie zu nutzen weiß. In der Vielfalt der Ansätze liegt ein Grund dafür, dass die Untersuchung nicht nur Literaturwissenschaftler interessieren wird. Ein anderer ergibt sich aus dem Umstand, dass bei der zeitgenössischen Stiftung nationaler Mythen immer häufiger auf den Treuetopos zurückgegriffen wurde, bis der Nationalsozialismus seinen inflationären Gebrauch ins Extrem führte und schließlich pervertierte.

Jede der drei Konfigurationen von Treue wird in einem eigenen Abschnitt herausgearbeitet. Da ist zunächst das, was das Wort wohl als erstes evoziert, die Treue zwischen Liebenden, die Geschlechtertreue. Ihre Deutungen wandeln sich in der Literatur der Jahrhundertwende im Zuge einer zunehmenden Biologisierung des öffentlichen Diskurses und eines sich teilweise, obschon nicht ausschließlich dadurch verändernden Frauenbildes. Ob Theodor Fontane oder Lou Andreas-Salomé, Frank Wedekind oder Laura Hansson: Im Mittelpunkt steht die weibliche Treue und sie wird immer häufiger als physische Treue interpretiert. Allmählich rückt ein Idealobjekt in den Vordergrund, auf das sich die Deutungen der Geschlechtertreue fixieren.

Ähnliches lässt sich von der Treue gegenüber der sozialen Gruppe, der Gesellschaft, dem Staat sagen, also jener Form der Loyalität, ohne die, so Georg Simmel in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts, die Gesellschaft überhaupt nicht existieren könnte. Wie die Geschlechtertreue erhält auch die „Fraktionstreue“ um die Jahrhundertwende in Literatur und öffentlichem Diskurs allgemein größeren Raum. In beiden Fällen ist der Hang zur sprachlichen und sozialen Homogenität unverkennbar, während die Treue gegenüber einer Gemeinschaft als erlebtes Phänomen differenzierter wird und weitreichende politische und moralische Folgen in ideologischen Strömungen wie der Sozialdemokratie, der Anarchie und des Nationalismus zeitigt. Das verdeutlichen Arbeiten von so unterschiedlichen Autoren wie Arno Holz, Bruno Wille, Otto Erich von Hartleben und Wilhelm Bölsche.

Die Untersuchung des Verständnisses von Detailtreue verweist schließlich auf die enge Verflechtung von technischen Innovationen und literarischer Produktion in einer Zeit, die den Siegeszug von Wissenschaft und Technik immer wieder beschwört. Der Maschine, dem Grammophon, wird eine Wiedergabetreue, eine „high fidelity“ zugeschrieben, die sonst nicht erreichbar ist. Die – untersuchten – Autoren der Epoche zeigen sich so fasziniert von den neuen Möglichkeiten der Detailtreue, dass sie sie gar zum ästhetischen Leitbegriff erheben. Authentizität ist das Signum, unter dem Schriften etwa von Henrik Ibsen, Michael Georg Conrad und Gerhard Hauptmann gesehen werden.

Eine Leserschaft jenseits der literaturwissenschaftlichen Disziplin könnte sich wünschen, die Kriterien der Quellenauswahl wären klarer erläutert. Dieses Desiderat schränkt hingegen nicht die Sorgfalt ein, mit der die Quellen ausgewertet wurden. Am Schluss sind nicht nur die Polyvalenzen eines facettenreichen Begriffs und seiner Ausdeutung offenkundig, sondern ebenso seine politisch-soziale Wirkung. Denn letztlich trug die Übersteigerung des Treuebegriffs dazu bei, bestehende autoritative Verhältnisse zu zementieren und länger fortbestehen zu lassen, als es ihnen ohne diese Unterstützung möglich gewesen wäre.