B. Diestelkamp (Hg.), Reichskammergericht

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Titel
Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451-1527)


Herausgeber
Diestelkamp, Bernhard
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Jörn, Historisches Institut, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Die Darstellung der Reichsgerichtsbarkeit am Übergang zur Frühen Neuzeit stellte seit langem ein Desiderat dar. Umso erfreulicher ist der vorliegende Band, der durch mehrere neue Forschungsprojekte möglich wurde, welche die zentralen Quellen zum Königlichen Kammergericht, dem Vorläufer des Reichskammergerichts, zu den Gerichts- und Schlichtungskommissionen in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts und zum Königlichen und Kaiserlichen Hofrat erschlossen. Mit diesen Quellen wird eine völlig neue Sicht auf die Organisation der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich im ausgehenden 15. Jahrhundert möglich. Sinnvoll ergänzt wird die Auswertung dieser Bestände in dem vorliegenden Band durch neue Überlegungen zum Reformreichstag von 1495, Forschungen zu den wechselnden Orten und den Prokuratoren des Reichskammergerichts bis 1527/29 und zur Inanspruchnahme des königlichen Kammergerichts/Reichskammergerichts aus den Territorien des Nordwestens des Reiches. Der Schwerpunkt der meisten Beiträge liegt damit überwiegend in der bisher wenig erforschten Phase vor der Gründung des Reichskammergerichts, die Frage nach der Kontinuität zu Vorgängern der obersten Reichsgerichte wird konsequent gestellt.

Zunächst untersucht Ralf Mitsch „Die Gerichts- und Schlichtungskommissionen Kaiser Friedrichs III. und die Durchsetzung des herrscherlichen Jurisdiktionsanspruchs in der Verfassungswirklichkeit zwischen 1440 und 1493“. Er informiert einleitend über die Vielfalt der Bereiche, in denen Friedrich III. während seiner 53-jährigen Regierungszeit mit den bisher bekannten mehr als 3.000 Kommissionen agierte: Entgegennahme der Lehnseide von Kronvasallen, Erhebung von Reichshilfen, Nachforschungen über die Verletzung von Reichsrechten oder die Überprüfung von Steuerverhältnissen in den Reichsstädten. Mehr als die Hälfte aller Kommissionen jedoch befasste sich mit der Entscheidung oder Schlichtung von Streitigkeiten. Dies schloss die Exekution von Urteilen ebenso ein wie den Arrest strittiger Güter, die Beweiserhebung, die Leitung von Prozessen zwischen Reichsangehörigen oder die außergerichtliche Vermittlung in Konflikten. Gegen diese Kommissionen regte sich der Widerstand wichtiger Reichsstände, deren Reformvorschläge allerdings nicht nur auf die Überwindung der Missstände abzielten, sondern auch die Jurisdiktionsgewalt des Kaisers einschränken wollten. In seinem Beitrag kennzeichnet der Verfasser Grundzüge der Kommissionen und legt an ausgewählten Beispielen Gründe für die Skepsis einiger Fürsten an den kaiserlichen Kommissionen dar. Das geschieht sehr überzeugend, schließt eine wichtige Lücke in unseren Kenntnissen über das Kommissionswesen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und verdeutlicht generell, welchen immensen Beitrag zur höchstrichterlichen Rechtsprechung die Kommissionen in dieser Epoche leisteten.

Mitschs These, dass diese Kommissionen die „nur unzureichend entwickelte königliche Verwaltungs- und Gerichtsorganisation nahezu umfassend zu ersetzen hatte[n]“ (S. 8), würde Julia Maurer in dieser Absolutheit sicher widersprechen. Sie zeigt die Kontinuität zwischen dem Kammergericht, wie es vor allem seit den 1470er-Jahren nachweisbar ist und dem 1495 gegründeten Reichskammergericht und nimmt diesem damit viel von seinem Mythos als grundlegender Neuerung in der Organisation der Reichsgerichtsbarkeit. Ihre Aussagen gründet sie vor allem auf die Mitarbeit in einem Projekt, in dem die Protokoll- und Urteilsbücher des Königlichen Kammergerichts ediert wurden und dessen Ergebnisse seit kurzem in gedruckter Form vorliegen.1 Maurer bietet grundlegende Informationen zu den unterschiedlichen Phasen der Tätigkeit des Kammergerichts im 15. Jahrhundert sowie zur regionalen und sozialen Herkunft der am Gericht fassbaren Prozessparteien. Sie stellt die Gerichtsverfassung und das Gerichtsverfahren am Kammergericht vor und kennzeichnet schließlich an einigen Beispielen die gerichtliche Praxis. Ihre Ausführungen vermitteln einen sehr guten ersten Eindruck von den faszinierenden Möglichkeiten, die sich aus der Auswertung der Protokoll- und Urteilsbücher ergeben und wecken die Hoffnung darauf, dass unser Wissen über dieses Gericht, das bisher auf Forschungen aus der zweiten Hälfte des 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert gründet, durch eine größere quellenorientierte Arbeit endlich aktualisiert und erweitert wird.

Peter Schmid untersucht „Die Reformbeschlüsse von 1495 und ihre politischen Rahmenbedingungen“ und geht dabei von der These aus, dass der Wormser Reichstag von den meisten Teilnehmern, inklusive Maximilian I., nicht als Zusammentreffen, auf dem grundlegende Reformen des Reiches beschlossen werden sollten, geplant war. Erst der Mainzer Reichserzkanzler forderte diese Reformen als Gegenleistung der Reichsstände für die militärische Unterstützung König Maximilians bei dessen Kaiserkrönung und dem Türkenzug in die Debatte ein. Das Zusammenspiel der von Schmid sehr gut dargestellten außenpolitischen Zwänge, die den König zur Reichsreform zwangen, und der Skepsis, mit der zahlreiche Reichsstände die Zentralisierungsbestrebungen und Reformideen des Mainzer Kurfürsten betrachteten, war schließlich entscheidend für die Umsetzung und Gestaltung der Reform.

Jost Hausmann geht in seinem Beitrag „Die wechselnden Residenzen des Reichskammergerichts bis Speyer“ vor allem den Motiven für die häufige Verlegung des Gerichtsortes in den ersten Jahren des Wirkens des Reichskammergerichts nach. Er zeigt, dass die in der Reichskammergerichtsordnung von 1495 angeführten Gründe für einen Ortswechsel, eine Verbesserung des Justizwesens oder die Sicherheit des Personals, in den folgenden Jahren nur eine untergeordnete Rolle spielten. Die Suche nach „einer füglichen statt im reich“ führte dazu, das Reichskammergericht überwiegend dort tagen zu lassen, wo auch der Reichstag war. Das Gericht blieb damit mobil, die Stände nahmen aber, anders als beim alten Kammergericht, Einfluss auf den Gerichtssitz. Dieses Mitspracherecht verstärkte sich mit der Reformation und ihren weitreichenden Auswirkungen. Im Jahre 1530 wurde Speyer zum dauernden Gerichtssitz bestimmt und blieb dies bis zum Ende des Alten Reiches im Jahre 1806, auch wenn das Gericht seit 1693 in Wetzlar wirkte.

Anette Baumann stellt in einem ausführlichen Beitrag „Die Prokuratoren am Reichskammergericht in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens“ vor und liefert mit der Analyse der Biografien von 58 Prokuratoren aus der Zeit zwischen 1495 und 1529 einen weiteren wichtigen Baustein zur Erforschung der Geschichte der Anwaltschaft an diesem Gericht. Sie teilt die untersuchten 34 Jahre in drei Abschnitte: Anfänge (1495-1506), Etablierung (1507-1519) und Bewährung (1520-1529) und stellt für jede dieser Epochen nach einer kurzen Einleitung in die Geschichte des Gerichts die nachweisbaren Prokuratoren vor. Wer jemals versucht hat, für diese Zeit belastbares biografisches Material zu sammeln, wird die vorgestellten Informationen und die Schlüsse, die Baumann aus ihnen zieht, umso mehr zu schätzen wissen. Auf der Grundlage dieses Materials formuliert sie weit reichende Thesen zu Ausbildung und Karriereplanung der Prokuratoren, zur personellen Kontinuität mit dem Kammergericht und zur zunehmenden Exklusivität der Prokuratoren. Manchmal, so wenn es um die Akzeptanz des Reichskammergerichts durch wesentliche gesellschaftliche Kräfte im Reich geht, erscheinen diese Thesen zu kühn, hilfreich sind sie jedoch in jedem Falle, um eine wichtige Gruppe von Amtsträgern am Gericht fassen zu können.

Matthias Kordes stellt den „Nordwesten des Reiches und das Prozessaufkommen am Reichskammergericht in den ersten fünf Jahren seines Bestehens“ vor. Er stützt sich dabei auf die Reichskammergerichtsbestände des Erzstifts Köln, des Herzogtums Jülich-Kleve-Berg einschließlich der Grafschaft Mark, des Fürstbistums Münster, des Fürstentums Lippe-Detmold und der Herzogtümer Geldern und Limburg, insgesamt also 17.430 der ca. 75.000 erhaltenen Prozessakten des Reichskammergerichts. Aus den für seine Fragestellung relevanten Jahren bis 1500 sind jedoch nur in Köln und Düsseldorf auswertbare Prozesse erhalten geblieben, an denen Kordes dem Problem der Kontinuität zwischen Kammergericht und Reichskammergericht nachgeht. Er konstatiert die sehr kurze Phase, die zwischen Schließung des Kammergerichts und Eröffnung des Reichskammergerichts liegt sowie die Kontinuität bei Personal und Geschäftsgang und kann damit die von Rudolf Smend bereits 1911 vorgelegten Erkenntnisse bestätigen. Kordes regt an, nach Abschluss der Verzeichnung der Reichskammergerichtsakten die Prozesse des Jahres 1495 detailliert auf feststellbare Brüche zu untersuchen und zeigt an einigen Beispielen, wie dies aussehen könnte.

In einem umfangreichen Beitrag analysiert Eva Ortlieb die Hofräte der Könige und Kaiser Maximilian I., Karl V. und Ferdinand I. und versucht so, die weitgehend unerforschte Übergangsphase zwischen Königlichem/Kaiserlichem Hofrat und Reichshofrat zu erhellen. Sie setzt 1497 mit der frühestbekannten Überlieferung einer Hofratsordnung ein und verfolgt die Entwicklung in der Regierungszeit der einzelnen Herrscher in Bezug auf Ordnungen, Besetzung und Tätigkeit der Hofräte bis 1559. Dabei stellt sie vergleichbare Strukturen und die Beschäftigung mit ähnlichen Gegenständen sowie eine zunehmende Professionalisierung der Hofräte durch stetige Erhöhung des Anteils studierter Juristen fest. Interessant ist, dass sich trotz des nahezu nahtlosen Übergangs zwischen königlichem und kaiserlichem Hofrat Ferdinands I. der veränderte Rahmen für das Gremium in einer neuen Ordnung, der Reichshofratsordnung von 1559, widerspiegelte. Eine wichtige Zäsur im Wirken des Gremiums mag Ortlieb darin jedoch ebenso wenig erkennen wie die Verfasser der Beiträge zum Reichskammergericht das Jahr 1495 zum Zeitpunkt des Neubeginns in der Reichsgerichtsbarkeit stilisieren wollten.

Dies ist eine der zentralen Erkenntnisse des Bandes. Positiv fällt zudem auf, dass die meisten Beiträge in engem Bezug zueinander stehen und dass die intensive Diskussion zwischen den Autoren sowie die gegenseitige Unterstützung bei der Erschließung des Materials deutlich werden. Immer wieder werden beispielsweise beim Personal Männer genannt, deren Karriere als Prokurator am Reichskammergericht begann, mit einem Assessorat oder einem Hofratsamt an Reichskammergericht und Hofrat fortgesetzt wurde und im höchsten Dienst der Territorien endete. Gerade für die Frühphase der obersten Gerichte wird es wichtig sein, diese Beobachtung weiterzuverfolgen und zu verifizieren. Dafür und für viele andere wichtige Fragen bietet dieser Band zweifellos wichtige Anregungen, die die künftige Forschung beflügeln werden.

Anmerkung:
1 Battenberg, Friedrich; Diestelkamp, Bernhard (Hg.), Die Protokoll- und Urteilsbücher des Königlichen Kammergerichts aus den Jahren 1465 bis 1480, bearbeitet von Claudia Helm, Christine Magin, Julia Maurer und Christina Wagner, Böhlau 2004.

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