B. Wahrig u.a. (Hgg.): Zur Genese des Medizinalwesens 1750-1850

Cover
Titel
Zwischen Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese des Medizinalwesens 1750-1850


Herausgeber
Wahrig, Bettina; Sohn, Werner
Reihe
Wolfenbütteler Forschungen 102
Erschienen
Wiesbaden 2003: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolai Kuhl, Berlin

Die Medizingeschichte hat sich seit den 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu einem methodenoffenen und experimentierfreudigen Fach entwickelt, das sich für Anstöße aus der Sozialgeschichte, der Mentalitätsgeschichte und der „Neuen Kulturgeschichte“ wie auch aus der Philosophie (Foucault) aufgeschlossen zeigt. Eine Vielfalt von Forschungsansätzen prägt auch den vorliegenden Sammelband, der die Entstehung des Medizinalwesens im deutschsprachigen Raum untersucht. Die wichtigsten Beiträge sollen kurz vorgestellt werden, bevor die Perspektiven für die Forschung, die der Band insgesamt aufzeigt, beurteilt werden können. Um es gleich vorwegzunehmen: In einigen Beiträgen macht sich der Charakter des Arbeitsgesprächs, aus dem der Sammelband hervorging, negativ bemerkbar. Vor allem die Artikel von Thomas Broman und Mary Lindemann, beide ausgewiesene Kenner der Materie, hinterlassen nach einem vielversprechenden Auftakt einen doch eher unfertigen Eindruck und erweisen sich schließlich lediglich als Einblicke in noch nicht abgeschlossene Gedankengänge.

Die theoretische Klammer eines großen Teils der Beiträge bildet Werner Sohns Aufsatz “Von der Policey zur Verwaltung”. In einem ideengeschichtlichen Überblick stellt Sohn die qualitativen und quantitativen Veränderungen dar, welche den Zugriff des Staates auf die Bevölkerung um 1800 prägten. Die “Disziplinierung des medizinischen Wissens” (S. 89), also das Unterordnen, Ausgrenzen und Vereinnahmen konkurrierender Wissensformen durch die akademische Medizin, sowie die Hierarchisierung der diversen Heilergruppen findet man in den folgenden Beiträgen an Fallbeispielen dargestellt. Für die Differenzierung zwischen policeylichen und verwaltungstechnischen Methoden, die Sohn in der abnehmenden Regelungsdichte sowie in der zunehmend geförderten Eigeninitiative der Bürger sieht, hätte man sich allerdings ebenfalls konkrete Einzelstudien gewünscht.

Den “Zeitschriftendiskurs zur medicinischen Policey 1770-1810” im deutschen Sprachraum untersucht Bettina Wahrig. In diesem Diskurs formte sich ein spezifisches Berufsbild der akademischen Mediziner heraus. Neben Fragen der Zugehörigkeit, der fachlichen Qualifikation und der “Konstruktion von Kompetenz” (S. 59) ging es vor allem um die Positionierung der Ärzteschaft in Staat und Gesellschaft. Dabei sahen sich die Ärzte als “Glieder einer Gesellschaft, die als diese Glieder gleichzeitig für das Ganze von deren Organismus verantwortlich sind” (S. 67).

Der Umstrukturierung des Gesundheitsmarktes im 18. und 19. Jahrhundert widmen sich zwei Fallanalysen. Aus der Perspektive der Scharfrichter geht Jutta Nowosadtko dem Verdrängungswettbewerb zwischen den diversen Heilergruppen nach. Der Kampf um Marktanteile, staatliche Anerkennung und heilkundliches Ansehen drehte sich im von Nowosadtko untersuchten Einzelfall vor allem um drei Kernpunkte: Die medizinische Kompetenz, die sich Scharfrichter und Mediziner gegenseitig absprachen, die Delegitimierung des Konkurrenten durch Hinweise auf die ‘Unehrlichkeit’ der Tätigkeit der Scharfrichter sowie die Erfolge der jeweiligen Heilmethoden. Mit großem Selbstbewusstsein beanspruchte der Scharfrichter “neben Chirurgen und akademischen Ärzten einen gleichberechtigten Platz im Kreise der autorisierten Heiler” (S. 114).

Auch der Arzneimittelmarkt um 1800, so zeigt der Beitrag von Gabriele Beisswanger, war in Veränderung begriffen. Doch im Unterschied zu anderen in diesem Sammelband untersuchten Bereichen des Gesundheitswesens arbeiteten in diesem Marktsegment Ärzte, Apotheker und Obrigkeit zeitweise zusammen, um die fahrenden Arzneimittelhändler vom Markt zu verdrängen. Dass dieses einträchtige Zusammengehen jedoch eine fragile Allianz war, zeigte der großzügige Umgang der Medizinalbehörden mit den so genannten Materialisten, die als Großhändler ebenfalls mit den Apothekern konkurrierten. Die Obrigkeit hielt sich, wie Beisswanger darlegt, seit Ende des 18. Jahrhunderts ganz aus der Kontrolle des Marktes heraus und hinterließ diesen nur mit einer “neuen Ordnung von Problemen” (S. 161).

Was Beisswanger für ihr Forschungsgebiet als Desiderat beklagt - die Bedeutung der spezifischen Nachfrage für die Herausbildung des Medizinalwesens - rücken die zwei folgenden Beiträge in den Mittelpunkt. So geht Iris Ritzmann von der Überlegung aus, dass sich die erfolgreiche Implementierung medizinischer Institutionen mit Hinweisen auf obrigkeitlichen und ärztlichen Druck nicht hinreichend erklären lässt. Daher möchte sie am Beispiel der Kinderheilkunde aufzeigen, in welcher Weise die Bevölkerung an der Gestaltung des Gesundheitswesens beteiligt war. Dabei zeigt sich, dass Kranke und deren Angehörige flexibel und differenziert die verschiedenen Angebote auf dem Gesundheitsmarkt an- und wahrnahmen. Die Entscheidungen für oder gegen einen Heilkundigen waren nicht so sehr kosten- als vielmehr qualitätsorientiert. Auch eine längere oder gar ständige Betreuung erkrankter Kinder in Hospitälern zogen die Angehörigen in Betracht.

Gab es somit ein Mitgestalten des Medicinalwesens und ein aktives Verbreiten zugehöriger Normen und Deutungen durch die Patienten, mit anderen Worten eine “Medikalisierung von unten”? Eberhard Wolff stellt diese Frage in seinem gleichnamigen Aufsatz über die jüdischen Krankenbesuchsgesellschaften, frühe Beispiele freiwilliger Krankenversicherungen, die auf gegenseitiger Absicherung beruhten. Gegründet Ende des 18. Jahrhundert, funktionierten diese Vereinigungen im Prinzip wie moderne Krankenkassen. Aus eigener Initiative trugen die jüdischen Organisationen gemeinsam mit den sich gleichzeitig herausbildenden christlichen Krankenkassen “zum Entstehen einer modernen Sozialpolitik bei” (S. 190). Dabei stellt sich die Frage, inwieweit diese frühen Krankenkassen mit der vom Staat geforderten Eigeninitiative des Individuums zusammenhängen, die Werner Sohn in seinem Artikel erwähnte. War die “Medikalisierung von unten” somit eventuell eine letztlich doch von oben angestoßene, oder legitimierte der Staat vielmehr im Nachhinein eine ‘wilde’ Medikalisierung?

Kritik an häufig verwendeten Konzepten der Medizingeschichte üben die bereits zu Beginn angesprochenen Beiträge. Mary Lindemann zeichnet die Entwicklung der Medizingeschichte als Fach seit den 1960er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach. Angesichts der Verunsicherung von Medizin- und Allgemeinhistorikern, ob und wie “historische Realitäten” noch aufzufinden und zu beschreiben seien, empfiehlt Lindemann, “zurück in die Archive zu gehen” (S. 199). Das bedeutet ein ständiges Wiederkehren zu den Quellen und ein kreatives Erweitern der Quellenbasis als Korrektiv der Forschung – und darin ist Lindemann sicherlich zuzustimmen. Ob man damit der ‘postmodernen’ Unsicherheit entgegentritt oder aus dem Weg geht, ist eine andere Frage. Bei der Quellenarbeit, so das Fazit des Beitrages, stoßen die Konzepte von Medikalisierung und Professionalisierung an ihre Grenzen, während der “Sozialkonstruktivismus”, dessen praktische Wirkung für die Arbeit des Historikers in der breiten Kontextualisierung der Quellen liegt, seine begrenzte Nützlichkeit erweisen könne.

Einer weitergehenden Kritik unterzieht Thomas Broman die Konzepte der Medikalisierung und Professionalisierung, die ihren Nutzen nur nach einer grundlegenden Modifikation erweisen könnten. So kranke das Konzept der Professionalisierung daran, dass es eine Monopolstellung der Ärzte als teleologischen Endpunkt sehe. Dabei sei nicht die Monopolisierung sämtlicher Heilbehandlungen, sondern die Abgrenzung gegen konkurrierende Heilergruppen das Bestreben der Ärzteschaft gewesen: Ärzte sollten nicht bessere Geburtshelfer, sondern vielmehr deren Überwacher und Vorgesetzte werden. Als Gegenentwurf zu dem Konzept-Dreieck aus Professionalisierung, Medikalisierung und (aufgeklärtem) Absolutismus schlägt Broman bereits im Titel seines Beitrags eine Positionierung des Medizinalwesens “zwischen Staat und Konsumgesellschaft” vor. Ob die “literarische Konsumgesellschaft”, gekennzeichnet durch den in Zeitschriften geführten Gesundheitsdiskurs sowie durch Kritik und Buchrezension als zwei Formen literarischer Praxis, tatsächlich “aus der Sackgasse” (S. 107) der Konzepte führen kann, ist mit Bromans Argumentation allerdings nicht nachvollziehbar. Denn wie sich das entstehende Gesundheitswesen mit seinen Institutionen, Normen und Interpretationen auch auf die aus dem schriftlichen Diskurs ausgeschlossenen Bevölkerungsteile ausdehnen konnte, vermag Bromans Alternativ-Konzept (dessen Aussagekraft er im letzten Absatz wieder einschränkt) nicht zu erklären.

Nach der Lektüre des Sammelbands bleibt der Eindruck, dass weder das Konzept der “literarischen Konsumgesellschaft” Bromans, noch ein mit konstruktivistischen Elementen verbrämter Retro-Historismus, wie ihn Lindemann in ihrem etwas wirren Artikel zu empfehlen scheint, zu einer Korrektur oder Überwindung der kritisierten Modelle von Medikalisierung und Professionalisierung taugen. Zumindest für die Überprüfung des Medikalisierungskonzepts bietet sich aber die Einbeziehung des ‘Patienten’ als Akteur im entstehenden Gesundheitswesen an: als Konsument von Dienstleistungen auf dem Markt, als Rezipient von Zeitschriften sowie als nicht nur unterworfener, sondern auch gestaltender Teil von Machtbeziehungen.

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