Cover
Titel
Die Nacht im Mittelalter.


Autor(en)
Boiadjiev, Tzotcho
Erschienen
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Albert Schirrmeister, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin

Würde man auf die Idee kommen, eine Monografie „Der Tag im Mittelalter“ zu schreiben? Wohl kaum. Man würde differenzieren. Warum scheint es – nicht nur für den Philosophen Tzotcho Boiadjiev, sondern vor ihm auch für den Historiker Jean Verdon 1 – möglich und sinnvoll, dezidiert über die gesamte mittelalterliche Nacht zu schreiben? Implizit kann man eine Rechtfertigung darin finden, wie Boiadjiev das Verhältnis zwischen Tag und Nacht aus dem mittelalterlichen philosophischen Verständnis referiert. Sie seien nicht als reziprok zueinander wahrgenommen worden: Die Nacht als „das Andere des Tages“ wurde, so Boiadjiev, substanzlos gesehen, mit dem „Ziel, Gott von der Verantwortung für die negativen Modalitäten des menschlichen und kosmischen Lebens zu befreien“ (S. 21). Ihre Bedeutung erschließe sich allein im Vergleich mit dem Tag (S. 19ff.).

Als Absicht seiner Untersuchung formuliert Boiadjiev im Vorwort „eine Art Abhandlung über die kulturelle Anthropologie des Mittelalters“ zu schreiben, die die Nacht als ein Phänomen zum Gegenstand nimmt, die den „normalen Lauf des Lebens“ erschwere (S. 7f.). Als sich teils daraus entwickelnde zusätzliche Attraktivität des Untersuchungsgegenstandes hebt er die doppelte Alterität der mittelalterlichen Nacht hervor: Als Nacht sei sie den (nur am Tage lebenden?) Zeitgenossen und als mittelalterliche Nacht sei sie den heutigen Menschen je auf eigene Art fremd und unvertraut.

Um die Vielzahl an sehr unterschiedlichen Untersuchungsgegenständen und die ebenso beeindruckend große Zahl an sehr unterschiedlichen Quellen zu bändigen, ordnet Boiadjiev das Buch in einer lobenswert klaren und differenzierten Weise. An den Anfang von drei großen Abschnitten und drei großen Exkursen stellt er ein differenziertes Kapitel zu Zeitstruktur und Bedeutung der Nachtabschnitte. Die Überschrift „absentia lucis“ benennt die grundsätzliche Unterscheidungsmöglichkeit von Nacht und Tag und zugleich die Schwierigkeit, die Zeit der Nacht zu strukturieren. Es folgt ein Abschnitt über die der Nacht zuzuordnenden Orte, bei dem mir nicht klar ist, wieso ihm (nur) der Status eines Exkurses zugewiesen wird. An ihn schließen sich die Kapitel über die nichtmenschlichen, dauerhaften „Bewohner der Nacht“ und „den Menschen in der Nacht“ an, unterbrochen vom zweiten, ebenfalls wichtigen Exkurs zu den Geräuschen („die Stille und die Stimmen“). Das Buch schließt nicht etwa mit einem Resümee, sondern mit dem dritten Exkurs, der die Ikonografie der Nacht zu behandeln verspricht.

Von Beginn an macht Boiadjiev deutlich, wie wichtig die Analyse sprachlicher Gewohnheiten und Bedeutungszuschreibungen für sein Konzept ist. Die mittelalterlichen Etymologien sieht er (z.B. S. 97) implizit auf Dauer die Vorstellungen und Mentalitäten prägend: „In unserer Studie können wir den gleichen Weg beschreiten [im Anfang war das Wort], natürlich nicht, indem wir die historische Genesis des lateinischen Wortes nox verfolgen, wie sie von der modernen Sprachwissenschaft beschrieben wird, sondern indem wir auf jene Bedeutungen verweisen, die die mittelalterliche Etymologie darin aufspürt.“ (S. 11) Indem sie nox mit nocendo (also ungefähr: schädlich) verbindet, offenbare bereits die sprachliche Deutung eine kulturelle und soziale Zuordnung devianten Personals und devianter Tätigkeiten zur Nacht.2 Boiadjiev argumentiert noch weitergehend, mittelalterlich werde Sprache eine Realisierungsmacht zugeschrieben: Sprache belebe das potentielle Böse (S. 250ff.). Boiadjiev beeilt sich jedoch, die Ambivalenz der Nacht zu betonen. (alles habe seine nächtliche Seite, S. 33): Während ihre Schädlichkeit und die enge Verbindung zum Tod in der (so genannten) Volksvorstellung daher rühre, dass die Nacht als vom Teufel geschaffen gedacht werde, stehe dem die nächtliche Freiheit von täglicher Mühe gegenüber.

Die Nacht als Zeitraum der Unordnung sowie die Versuche, diese Unordnung zu beherrschen, ist die herrschende Denkrichtung Boiadjievs in sämtlichen Abschnitten. Im Verhältnis von Sprache und Nacht illustriert er dies an einem literarischen Beispiel: Sinnlos scheinende, teuflische, aber dem lateinischen ähnelnde Sprachfiguren können nur durch liturgische Worte gebannt werden (S. 208). In den Abschnitten über menschliche Tätigkeiten in der Nacht zeigt Boiadjiev ebenfalls unterschiedliche Versuche, menschliche Ordnung in der Nacht zu etablieren: Er führt das Beispiel der prinzipiell verbotenen, aber reglementierten städtisch-handwerklichen, mit einem Nachtzuschlag belohnten Nachtarbeit an; ihre Ausführung muss immer der „prinzipiellen Anforderung nach Offenheit und Öffentlichkeit genügen“ (S. 275ff.). Auch die nächtlichen sexuellen Freiheiten, die Boiadjiev hauptsächlich aus novellistischen Quellen belegt, begegnen ihren Reglementierungsversuchen (S. 290ff.). Mit Bezug auf Sekundärliteratur wie Primärquellen deutet Boiadjiev das Schlafen als soziales Phänomen und sozial wie kulturell (z.B. in Beziehung zur Schöpfungsordnung) geordnete Lebenszeit (S. 372ff.). Menschliche Reglementierung und Sozialität begrenzt noch weitergehend die dämonischen Mächte der Nacht (S. 206), eine Nacht trans urbem zu verbringen, erhöht die Gefahr, diesen Kräften zu erliegen. Der offene Charakter der Nacht begünstige zudem Verwandlungen von Nachttieren und Dämonen durch gegenseitiges Beeinflussen in ihren Eigenschaften (S. 112ff.).

Die größte Herausforderung erfährt die Suche nach Ordnung in der Nacht bei den Möglichkeiten der Zeitrechnung. Grundsätzlich steht der göttlichen Ordnung auch hier die nächtliche Unordnung gegenüber, die aber auch nicht zu jeder Stunde der Nacht mit der gleichen Qualität behaftet ist. Besonders deutlich wird dies in Boiadjievs Ausführungen zu den Rändern der Nacht, zu Morgenröte versus Abenddämmerung (S. 31, 27). In ihren mittelalterlichen Beurteilungen spiele die Richtung der Zeit zur Nacht und zum Tag hin eine entscheidende Rolle. Doch schwieriger noch als an den Rändern der Nacht ist die Zeitmessung inmitten der Nacht. Besonders für die nächtlich betenden Kleriker wird schon früh nicht nur auf die göttlichen Zeitordner, die Sterne (oder auch den Hahn als Ordnungshelfer, S. 107ff.) zurückgegriffen, sondern werden die verschiedensten mehr oder weniger ausgeklügelten künstlichen Zeitmessungen ersonnen. Nicht zuletzt ging es um ein Füllen der Zeit für die Kleriker (S. 45ff.) und um eine Möglichkeit, die nächtlichen Geräusche mit menschlichen Ordnungsrufen zu übertönen (S. 264). Die vermehrte Nutzung von Uhren verändert im Laufe des späteren Mittelalters zudem die Ansicht, wie Stunden zu messen sind, die Zeit wird anders wahrgenommen: Zuvor habe sich die Länge der Stunden variabel an die Jahreszeiten angeglichen und habe zwischen Sommer (40 Minuten) und Winter (80 Minuten) beträchtlich differieren können (S. 39). Die Stabilität und Normalität der Glockensprache sei dann später der schwankenden und unsicheren Nacht gegenüber gestellt worden. Akzeptiert man Boiadjievs Deutungen der nächtlichen Zeit und ihrer menschlichen Wahrnehmung, so wird auch die beunruhigende Dimension der „Nacht am Tag“ plausibel: Eine Sonnenfinsternis wird als Übergriff als „Aggression“ der ungeordneten Nacht eine Bedrohung der göttlichen Ordnung.

Ein entscheidendes Problem allerdings sieht Boiadjiev offenbar nicht. Worauf bezieht er sich mit seinen anthropologisch gemeinten Aussagen zur Nacht, wo sollen sie gültig sein? Auch wenn er im Vorwort einräumt, die „atmosphärische Nacht“ sei nicht gleich in den verschiedenen Regionen Europas (S. 8), verbindet er diese Aussage, deren kryptische Formulierung wohl aufs Konto der Übersetzung geht, gleich mit einer wichtigen und äußerst problematischen Einschränkung. Auf eine räumliche und chronologische Differenzierung verzichtet er bis auf ein „vernünftiges Minimum“ (S. 8). Dieses Problem gesellt sich zu einem weiteren von grundsätzlicher Bedeutung. Boiadjiev verwertet verschiedenste Quellen normativer, theologischer, philosophischer, literarischer und anderer Art. Die Vielgestaltigkeit und Uneindeutigkeit der mittelalterlichen Nacht speist sich in seiner Darstellung zu einem Großteil aus der unglaublichen Varietät dieser Quellen, deren jeweilige Kontexte und Bedeutungsgrenzen er komplett ignoriert. Ihre unterschiedlichen Realitäten und Ebenen kommen in seinen Schlussfolgerungen nicht zum Tragen. Das Problem, wie z.B. in philosophischen und theologischen Überlegungen eine Vorstellung von Nacht zustande kommen könnte, die außerhalb der gelehrten Zirkel und unreflektiert wirken könnte, ist übergangen und der Vorgang wird als gegeben angenommen. Als ein Beispiel kann Boiadjievs These von der Homologie der Ereignisse und der Qualität des Chronotopos, in dem sie sich abspielen, gelten: Nirgendwo beschränkt er diese These z.B. auf Erzählungen (S. 27). Für wen sind in welchem Umfang denn biblische Aussagen tatsächlich mentalitätsprägend? Eine verpasste Chance stellt auch das Unterkapitel „Ein anonymes englisches Poem des 13. Jhs.“ dar (S. 109-112): Diesen scholastischen Disput zwischen Eule und Nachtigall über die Qualitäten der Nacht paraphrasiert er ausführlich als Beispiel für die „doppeldeutige Präsenz der Nachtwesen in der Welt [...] durch ihre dehnbare Darstellung auf eine Weise, auf die die positiven und negativen Definitionen ein Gleichgewicht zwischen den Beteiligten an der Kontraverse (!) schaffen“ (S. 109). Kein Wort aber zum Status des Poems im Rahmen der Studie als Quelle. Auf eine Deutung über die zitierten Bemerkungen hinaus verzichtet er zudem vollständig.

Zu den Problemen des Buches tragen auch die Abbildungen ihren Teil bei: Ihre Qualität ist größten Teils mangelhaft (z.B. die S. 62 abgebildete Kreuzigung aus Les très riches heures de Jean, duc de Berry, der Brüder Limbourg). Sie dienen zudem lediglich als Illustrationen ohne Mehrwert und haben nicht immer Bindung zum Text. Der ikonografische Exkurs am Ende entschädigt hierfür nicht, er ist wenig erhellend. Seine dezidiert und selbstbewusst unprofessionelle Bildbetrachtung zeugt von einer besonders bei anthropologischem Anspruch bemerkenswerten Geringschätzung der wissenschaftlichen Disziplin Kunstgeschichte; die Bemerkungen hätten im Text an entsprechenden Stellen und im Zusammenhang mit den Abbildungen einen angemesseneren Platz gefunden. Sie doppeln generell bereits gemachte Ausführungen.

Stark wirkt Boiadjiev dagegen immer dann, wenn er philosophische Argumentationen zusammenfasst, z.B. im Kapitel „Zwei Theoretiker des Schlafens“ (S. 417ff.) zu Albertus Magnus und Wilhelm von Conches, das präzise und aufschlussreich ist. Positiv fallen außerdem die zu eigenem Nachdenken anregenden und in einem ungeheuren Fleiß zusammengestellten vielseitigen Quellen auf. Doch genügt das wohl nicht, um den hohen anthropologischen Anspruch wirklich einzulösen, gegenüber dem nicht nur die unkommentierte Vermengung der unterschiedlichsten Quellen skeptisch stimmt, sondern auch die Rede von „authentischen menschlichen Gesten“ (S. 372).

Auch wenn sich die Wahrnehmung nicht wirklich immer trennen ließ, so muss doch die Bewertung der (un-)sprachlichen Gestalt des Buches in einem eigenen Absatz möglichst getrennt dargestellt werden. Die massiven sprachlichen Probleme der Übersetzung nehmen zwischenzeitlich überhand. Das Buch beginnt bereits mit gehäuften Genitivreihungen und Substantivierungen. Grammatik ist immer mal wieder Glückssache: Verunglückte Singular-Plural Kombinationen, Schwierigkeiten beim Deklinieren und überraschende Kombinationen unterschiedlicher Fälle begegnen neben den (mit der Zeit nur noch in tatsächlich sinnverdrehenden Zweifelsfällen wahrgenommenen) unzähligen Rechtschreib- und Druckfehlern. Der absolute Höhepunkt findet sich auf einigen Seiten gegen Ende der ersten Hälfte des Buches, auf denen nahezu jeder Satz massiv verunglückt ist: „Eine Werwolfsgeschichte wiedergibt auch Marie de France. Bisclavert [...] sei in seiner jungen Frau tiefst verliebt, aber habe die Gewohnheit in bestimmten Nächte zu verschwinden, ohne jemand zu wissen, wo er eigentlich sei. Wenn die Ehegattin erfährt, dass bei Neumond er sich in Wolf verwandelt, versteckt sie – in Verschwörung mit einem Nachbarritter – seine Kleider.“ (S. 140) „Sie stehlt den roten Stein.“ (ebd.) „Die Fähigkeit bestimmter Leuten sich zu verwandeln.“ (S. 141) „Die letzteren können nur so es machen, dass die Formen nicht aussehen wie sie tatsächlich sind.“ (ebd.) Angesichts dessen (und auch der Abbildungsqualität) stellt sich in dringender Weise die Frage nach der Verantwortung eines Verlags für sein Produkt: Gibt es eine Garantie und Produkthaftung auch bei Büchern? Kann man Wandlung verlangen? Angesichts auch der Finanzierung des Druckes durch die Alexander von Humboldt-Stiftung kann man wohl vermuten, dass das verlegerische Risiko begrenzt ist. Wenigstens sollte in solchen Fällen demnächst der Warnhinweis angebracht werden: „Ein Lektorat findet nicht statt.“

Anmerkungen:
1 Verdon, Jean, La nuit au Moyen Âge, Paris 1994.
2 Vollständig ignoriert: Rexroth, Frank, Das Milieu der Nacht. Obrigkeit und Randgruppen im spätmittelalterlichen London, Göttingen 1999.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension