Titel
Gefährliche Fahrten. Das Automobil in Literatur und Film um 1900


Autor(en)
Müller, Dorit
Reihe
Epistemata Literaturwissenschaft 486
Erschienen
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Schwarz, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Peter Sloterdijk hat 1992 die große Bedeutung des Automobils herausgestellt, als er es im Vergleich zu anderen technischen Neuerungen als „das technische Zentralobjekt der Moderne“ (1992) bezeichnete. Tatsächlich lassen sich die Veränderungen, die das neue Verkehrsmittel seit dem späten 19. Jahrhundert in Gang gesetzt hat, nicht mit wenigen Worten zusammenfassen. Das Auto revolutionierte viele Bereiche auf vielfältige Weise, darunter das Alltagsleben und die individuelle Wahrnehmung der Welt.

Ähnliches lässt sich für den Film sagen, der, wie ein Kommentator in Berlin 1896 schrieb, „ein volles greifbares Leben [...] vor den Augen abspielt“ (Berliner Lokal-Anzeiger vom 29.4.1896). Wie kein anderes Medium konnten die bewegten Bilder Bewegungsvorgänge in Echtzeit reproduzieren, von frühesten Tagen mit Vorliebe jene, die durch die ungewohnte Geschwindigkeit jenseits der Bindung an die Schiene faszinierten. Wie kein anderes Medium vermochte der Film überdies das Auto zugleich als Gestaltungsmittel einzusetzen. Schon früh griffen die Macher nicht nur von Slapstick-Komödien, sondern ebenso die von Kurz- und Kürzestfilmen anderer Genres auf die Kamerafahrt zurück, um dem Zuschauer ein visuelles Nacherleben besonderer Art zu ermöglichen. Der Unbeweglichkeit des Zuschauers entsprachen immer rasantere Bewegungen auf der Leinwand.

Lange vor dem großen Aufstieg von Auto und Film in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts bestanden somit zahlreiche Parallelen und Wechselbeziehungen zwischen den beiden neuen Technologien bzw. ihrer Wahrnehmung und Darstellung. Umso verwunderlicher erscheint es, dass es kaum Untersuchungen zu dem Themenfeld gibt, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Jahre vor 1918 lange Zeit als bloße Vorstufe der Nachkriegsdekade galten. Der frühe Stummfilm und seine Präsentation des neuen Verkehrsmittels einerseits und die wechselseitige Durchdringung von literarischer und filmischer Rezeption des Automobils um 1900 andererseits haben nur wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

In diese Lücke stößt die Dissertation von Dorit Müller, die an der Humboldt Universität in Berlin im Fach Neuere Deutsche Literatur entstand. Sie wendet sich den Verarbeitungsweisen automobiler Erfahrungen in den Medien Text/Literatur und Film in den Jahren zwischen 1886 und 1918 zu und fragt nach wechselseitigen Durchdringungen. Reagierte die Literatur jener Jahre tatsächlich auf den Film, in dem sie sich beispielsweise eine „filmische Schreibweise“ aneignete? Fand etwa die Szene des Detektivromans, in der der Held den Täter nach einer wilden Autofahrt stellt, Eingang in die filmische Darstellung? Die Fragen nach der gegenseitigen Beeinflussung beider Medien in ihrer Nutzung und Präsentation des Automobils verleihen der Analyse ihren besonderen Reiz.

Ausgewertet werden filmische und literarische Zeugnisse aus rund dreißig Jahren. Dazu zählen nicht nur Romane, Dramen oder Erzählungen namhafter bzw. in ihrer Zeit bekannter Schriftsteller wie Thomas Mann, Otto Julius Bierbaum – der in dem Märchen „Das höllische Auto“ von 1905 ein feuerrotes Auto als zweites Ego des Teufels, also Inbegriff des Dämonischen präsentiert – oder Filippo Tommaso Marinetti. Vielmehr finden sich darunter auch weniger bekannte Texte und Autoren. Dazu zählen unter anderem kulturkritische Prosa oder Warnungen vor den Gesundheitsschäden des Autos schon im alltäglichen – und unfallfreien – Gebrauch. Außerdem finden sich Auszüge aus der Fachpresse, die bei den Zeitgenossen für das durchaus ambivalent gedeutete Fahrzeug warb – und im Krieg mühelos das militärtechnische Potential des Automobils für ihre Zwecke einspannte –, neben expressionistischen Texten mit einer für viele Genre nicht untypischen Ambivalenz gegenüber dem neuen technischen Hilfsmittel. Das Auto konnte, so wird deutlich, für ein und dieselbe Person Teufelswerk und Sinnbild der Gewalt aber auch Instrument der Befreiung und der Verwirklichung utopischer Ideen sein.

Wohl noch facettenreicher wird die mentalitäts- und mediengeschichtlich orientierte Untersuchung, wenn es um die Auswertung der ausgewählten filmischen Quellen geht. Hier geraten Kürzestfilme von ein bis fünf Minuten Dauer, Kurzfilme von drei bis zehn oder zwanzig Minuten Dauer und Langfilme mit etwa sechzig Minuten Spielzeit in den Blick, gelegentlich der Leserschaft der Studie durch Standaufnahmen vor Augen geführt. Selbst als die Gefährte nach heutigen Maßstäben noch langsam waren, entdeckte der frühe Stummfilm sie für wilde Verfolgungsjagd-Szenen und melodramatische Unfallszenarien. Ein anschauliches Beispiel für letzteres liefert der britische Kürzestfilm „How it feels to be run over“ von 1900. Ersteres findet sich schon bei Pionieren des Mediums, etwa bei Georges Méliès, dem die Handlung eines Films weniger galt als das technisch Machbare. Denn die Zuschauer sollten durch immer neue Kunstgriffe erstaunt und unterhalten werden. Noch aberwitziger erschienen die Autobewegungen zu Lande und in der Luft in Slapstick-Komödien, die ihrerseits dazu dienten, dem Großstadtpublikum das neue Tempo des modernen Lebens auf der Leinwand zu präsentieren.

„Gefährliche Fahrten“ führt die Leserschaft auf Wegen mit abwechslungsreichen Aussichten dahin, das Auto als Knotenpunkt wichtiger Erscheinungen der Epoche zu erkennen, des technischen Fortschritts, des beschleunigten Lebens, der zerstörerischen Energie. Tritt die Wahrnehmung des Automobils in den verschiedenen Medien als ambivalent hervor, so fällt die Antwort auf die Frage der wechselseitigen Beeinflussung von Literatur und Film deutlicher aus. Diese kam etwa im Krimi-Genre zustande, und zwar in so intensiver Form, dass die Autorin von der Entstehung eines „Medienverbunds“ spricht. Überdies prägte der Film viele jener Muster der Automobilwahrnehmung, die später in der literarischen Darstellung wiederkehrten. Wirkungsästhetisch hingegen überwogen die Unterschiede, da der frühe Film die Autofahrt anders als die Literatur inszenierte. Wie Dorit Müller überzeugend und gut lesbar zu zeigen versteht, lagen die Muster für die längeren, dann nicht mehr so häufig gefährlichen Fahrten in den abendfüllenden Filmen nach 1918 bereit.