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Titel
Mythos und Monument. Die Sprache der Denkmäler im Gründungsmythos des italienischen Nationalstaates 1870–1915


Autor(en)
Mayer, Kathrin
Erschienen
Köln 2003: SH-Verlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedemann Scriba, M.-Reinhardt-Gymnasium Berlin

In ihrer interdisziplinären, am politikwissenschaftlichen Lehrstuhl von Herfried Münkler an der Humboldt-Universität Berlin entstandenen Dissertation betrachtet Kathrin Mayer die symbolpolitische Strategie der bürgerlichen Führungsschicht des neuen italienischen Nationalstaats anhand der zwischen 1870 und 1915 errichteten Nationaldenkmäler. Dabei fasst sie symbolische Politik nicht als Ersatz für "eigentliches" politisches Handeln auf, sondern als "authentische Form politischen Handelns" (S. 15), sich anlehnend an Dörners Verständnis als "strategischer Einsatz von Zeichen zur Orientierung und Legitimierung eines politischen Systems" (S. 21). Mit Verweis auf die Fragmentierung Italiens in Teilkulturen (bürgerlich-liberale Mitte, intransigente Katholiken, Republikaner und allmählich zunehmend Sozialisten) (S. 23) bettet sie ihre Untersuchung in ein Vorverständnis von Nation als einer gedachten Ordnung (im Sinne Hobsbawms "Invented traditions") und spezifizierend von der Existenz von Nation als "mythisch geformte Erzählung" (S. 28) ein.

Im Rahmen ihres weitgefassten, auch memoriologische Theorien einschließenden Politikbegriffes gelingt es Mayer, die Denkmäler in einen Kontext mit historischer Erklärungskraft einzubinden, die über bisherige ideologiekritische, ikonografische, sozialgeschichtliche und produktionsgeschichtliche Ergebnisse historischer und kunsthistorischer Forschungen zu der Thematik hinausgeht. Hierzu kann sie die diachrone Verschiebung von der nationalmonarchischen Mythisierung Vittorio Emanueles I. unter der Destra storica, der Aufwertung Garibaldis bei gleichzeitiger Domestizierung des republikanischen Mazzini v.a. unter Crispi bis hin zum milieuübergreifenden Grab des Unbekannten Soldaten im Monumento Vittorio Emanuele nachzeichnen und erklären. Im Ergebnis stellt sie fest, dass der Nationalmythos des Risorgimento als Sozialkitt in der stark faktionierten Gesellschaft unwirksam blieb, da er von Anfang an bestimmte politische Milieus, namentlich Katholiken und Republikaner, nicht inkludierte (S. 344). Dies sei erst im Faschismus mit dem inkludierenden Romanità-Mythos gelungen (S. 357).

Im diachronischen Teil zeigt Mayer anhand des Vittoriano im Zentrum Roms die Strategie auf, Vittorio Emanuele als Nationalallegorie durchaus in Konkurrenz zur katholischen Identifikationsfigur Papst Pius IX. zu platzieren, wobei im Laufe der Zeit der Volksanteil aus dem Mythos herausgedrängt worden und die denkmalpolitische, im Stadtbild heute noch fassbare Dyarchie (Vittorio Emanuele am Kapitol vs. Garibaldi auf dem Gianicolo) entstanden sei (S. 84-94). Garibaldi übernehme dabei zunehmend die Funktion des "Tricksters", eines Vermittlers zwischen Monarchie und Volk unter Wegblendung der politischen Gegensätze (S. 135f.). Seine Rolle als narrative Vermittlung zwischen den Extremen lasse ihn als "narratives Paradoxon" erscheinen, das im Sinne der linksnationalistischen Strategie des Ministerpräsidenten Crispi einer dynamischen Osmose zwischen Volk und Monarchie Inklusionsschwellen verschiebe (S. 127-152). Anhand der Wettbewerbe zeichnet Mayer auch den Ausschluss weiterer Traditionsströme wie z.B. den der kurzlebigen römischen Republik von 1849 nach und zeigt anhand der Einweihung zum 25. Jahrestag der Einnahme Roms 1895 das Nicht-Gelingen einer Harmonisierung der Nation unter dem Denkmal (S. 158-178) auf.

Die lange Geschichte des Mazzini-Denkmals, das erst 1949 eingeweiht werden konnte, erklärt die Autorin mit der aus Domestizierung und Damnatio memoriae bestehenden Doppelstrategie Crispis gegenüber der republikanischen Mazzini-Verehrung und bündelt sie unter der Überschrift "gebleichte Erinnerung" (S. 176-206). Gegenüber Cavour, dem "ungeliebten Diplomaten", betrieb Crispi eine Marginalisierungspolitik, die sich im peripheren Standort des Denkmals am Justizpalast, der entschärften Variante als "nachdenklich" und in Kontroversen um das Einweihungsdatum niedergeschlagen habe (S. 206-219).

Am Beispiel der parlamentarisch initiierten Denkmäler für Finanzminister Sella von 1893 und Ministerpräsident Minghetti von 1895 wird die Chancenlosigkeit einer Selbstfeier der parlamentarischen politischen Klasse gegenüber der sukzessiven Aufwertung Garibaldis deutlich (S. 221-255). Mit Bemerkungen zum Denkmal für Carlo Alberto am Quirinal und Umberto I. führt Mayer den mit dem Vittoriano begonnenen Faden der Monarchendenkmäler fort, um die Schwierigkeit der fehlenden nationalen Bindung des Hauses Savoyen als Beschränkung für eine tiefergehende Implementierung eines dynastischen Savoyermythos herauszuarbeiten (S. 257-279).

Die im Umfeld der sieben Denkmalseinweihungen stattfindenden Festveranstaltungen der so genannten "Silberhochzeit" von Italien und Rom 1895 stehen im Zentrum des letzten Hauptteils: Den Versuchen der 1870er und 1880er-Jahre und vor allem der Wallfahrt zum Grab des Gründerkönigs 1884, die Dynastie rituell im Gedächtnis zu verankern und gleichzeitig potentiell unkontrollierbare Massen von katholischer und sozialistischer Seite unter Kontrolle zu halten (S. 283-298), folge - noch in der Phase des "kommunikativen Gedächtnisses" - der Kampf um monarchische und linksliberale Identitätsangebote sowie seit Jahresmitte mit einer klerikalen Stadtregierung in Rom auch verstärkt um katholische Gegenpositionen (S. 302-305). Er ende mit einem Sieg Crispis: "Crispi hingegen hat in der Organisation der 'Silberhochzeit' das Modell der Repräsentation seiner Politik gefunden. In mehr als einem Punkt sind die Feierlichkeiten als Antithese zum Pellegrinaggio von 1884 zu lesen. Allen voran wird in erster Linie Garibaldi gedacht, die dynastische Tradition der Erinnerung bleibt in der deutlich weniger imposanten Einweihung des Cavour-Denkmals stecken. Die Inszenierung zielt darauf ab, dass das Denkmal für Garibaldi in seiner gesamten Aussage den italienischen Staat legitimieren soll, und zwar in der Form, wie ihn die moderaten und linksliberalen Kräfte und das Militär geschaffen haben. Dies verstehen vor allem die katholischen Beobachter, die bereits mit gezückten Federn darauf warten, die radikal-republikanische Unterwanderung des Staates zu dokumentieren. Auch die Wahl Roms zur Hauptstadt soll mit diesem Krieger, der den Vatikan scharf im Auge behält, als Fait accompli festgeschrieben werden." (S. 326) Gewisse Erfolge von Crispis Politik zeitigten sich zum vierzigsten Jahrestag der Nationalstaatsgründung 1911 und der Einweihung des Vittoriano, als die meisten Italiener die Monarchie als Symbol der Einheit betrachteten, allerdings auch Gegenerinnerungen lauter werden (S. 327-336). Nach dem Ersten Weltkrieg habe sich dann - in allerdings aggressiver, bellizistischer Radikalisierung - eine Vaterlandsreligion durchgesetzt, die Mayer nun nicht mehr als Variante des Risorgimento-Nationalismus betrachten kann (S. 338).

Abbildungen, Quellen-, Literatur- und Personenverzeichnis schließen den aufgrund seiner schlüssigen Ordnung der Informationen und impliziten Neubewertung der Bedeutung Crispis für die italienische Politik ab.

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