R. Brandt u.a. (Hgg.), Nahrung, Markt und Eigennutz

Cover
Titel
Nahrung, Markt oder Gemeinnutz. Werner Sombart und das vorindustrielle Handwerk


Herausgeber
Brandt, Robert; Buchner, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
160 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Ebeling, Bonn

Sombarts 'Moderner Kapitalismus' ist eine Mischung aus Konstrukten und Fakten. Manche Kritiker haben, wie die beiden Herausgeber in ihrer Einleitung zurecht feststellen, den Unterschied ignoriert, sich mit der Kritik am schlampigen Umgang mit den Quellen aufgehalten, den Nutzen seiner Idealtypen nicht erkannt.

Wie steht es damit im vorliegenden Fall? Herausgeber und Autoren des auf eine Frankfurter Tagung zurückgehenden Bandes befassen sich mit Sombarts Verständnis vom vorindustriellen Handwerk. Was ist mit dem Nahrungsbegriff anzufangen? Wie steht es um die Marktbezogenheit? Wie kapitalistisch war das frühneuzeitliche Handwerk?

Sombarts Modell vom Handwerk hatte vor allem die Funktion eines Gegenentwurfs zur kapitalistischen Produktionsweise. Zwangsläufig mussten ihm deren entscheidende Elemente fehlen: Arbeitsteilung und Maschineneinsatz, Marktorientierung, Konkurrenzprinzip, Profitmaximierung. Sombarts Handwerker ist ein "Herr Mikrokosmos", dessen "Universalität mit Notwendigkeit seine Mittelmäßigkeit" entspricht (I.1, S. 189). Er ist Eigentümer seiner Produktionsmittel. Lehrjungen und Gesellen dienen ihm nur auf Zeit und mit dem Ziel der Qualifizierung für die eigene Betriebsführung (I.1, S. 197). Sein Grundgedanke ist: "Das Handwerk soll seinen Mann ernähren." (I.1, S. 190) Der Markt ist zwangsläufig statisch, Angebot und Nachfrage stehen im Gleichgewicht; Vorbedingungen für ein konkurrenzloses Ordnungssystem der mittelalterlichen Stadt (I.1, S. 204-212).

Trotz sorgfältiger Trennung von der Darstellung der historischen Realität (I.1, S. 213) räumt Sombart diesem Modell mit einigen Einschränkungen (etwa zum Gleichheitsprinzip, I.1, S. 259-262) durchaus einen historischen Platz ein (I.1, S. 262, S. 270) und macht sich damit angreifbar. Selbst die Weber in den großen Textilzentren sind "Lohnwerker" im Verhältnis zu den kaufmännischen Verlegern, keine kapitalistisch ausgebeuteten Heimarbeiter (I.1, S. 274).

Kapitalismus setzt für Sombart zum einen die Unterwerfung des Wirtschaftssubjekts unter fremden Willen, zum anderen eine Rationalisierung des Wirtschaftslebens mit dem Ziel größtmöglichen Gewinns voraus (II.1, S. 5f.). Die Wirtschaftsform des Handwerks habe, so Sombart "ihre Herrschaft auch und gerade auf dem Gebiet der gewerblichen Produktion […] das ganze Zeitalter des Frühkapitalismus hindurch bewahrt" (II.2, S. 681). Nur "das ländliche Exporthandwerk" – das Textilgewerbe zählt er nicht dazu – und das "großstädtische Großstadthandwerk" hätten sich von der alten Wirtschaftsform verabschiedet (II.2, S. 683).

In einer einleitenden "Sombartexegese" zeigen Robert Brandt und Thomas Buchner vor allem die Widersprüchlichkeiten zwischen Konstrukt und historischer Realität auf, verweisen insbesondere auf die tiefe Kluft zwischen Sombarts Begriff der Nahrung und seinem vielschichtigen Gebrauch in den Quellen. Dabei bleibt es allerdings. Allzu knapp werden die Ergebnisse der vier Fallstudien behandelt; deren Einordnung in die jüngere handwerks- bzw. gewerbehistorische Forschung fehlt.

Eine Tour d’Horizon von der Historischen Schule und ihren Kritikern über Brunners 'Ganzes Haus' bis zum Protoindustrialisierungsdebatte unternimmt Reinhold Reith in seinem Beitrag. Fazit: Der Nahrungsbegriff hat in diesen Entwürfen ordnenden, keinen analytischen Charakter. Die Dichotomie von traditioneller, auf dem Nahrungsprinzip basierender Gesellschaft und einer modernen Marktgesellschaft ist historisch unangemessen. Handwerk und Kapitalismus bilden keine Gegensätze. Folgerichtig plädiert Reith für einen erweiterten Marktbegriff, um auch den nicht-monetären Tauschbeziehungen und regulierten Märkten gerecht zu werden. Seine Warnung an eine "Kulturanthropologie der Markt- und Tauschbeziehungen" vor allzu weit reichenden Grundannahmen sollte dabei nicht überhört werden. Vielleicht wäre zusätzlich ein Hinweis auf die Lage jenseits der deutschen Grenzen nützlich gewesen. Die angelsächsische Forschung hat etwa die Funktion von sozialen Netzwerken zur Kapitalbeschaffung wie auch zur Krisenbewältigung plausibel und ohne eine anthropologische Modellbildung in das Konzept regionale Industrialisierung integriert, und Jan de Vries hat dem an Auskömmlichkeit und Nahrung orientierten Wesen mit dem ökonomischen Konzept der 'industrious revolution' einen historischen Weg in die Moderne gewiesen.

Der spezifisch deutsche Charakter der Sombartschen "Leitlinien" und ihrer Diskussion wird in dem Beitrag von Thomas Buchner zur Rezeptionsgeschichte seit dem Nationalsozialismus besonders deutlich. Die mit völkischem Vokabular und antijüdischer Aufladung versehene Kapitalismuskritik der NS-Zeit wird ebenso wie die verschiedenen Stränge der Forschung nach 1945 auf ihre Kontinuitätslinien abgeklopft. Bucher beschränkt sich dabei nicht auf die Rezeption von Sombarts Nahrungsbegriffs sondern bezieht auch die spezifische Nutzung und Umformung von Konzepten außerhalb der deutschen Forschungstradition ein (Thompsons 'moral economy' durch Groh und Griessinger, bei Medicks Protoindustrialisierungskonzept wäre Tschajanow zu nennen gewesen). Die mit dem Instrumentarium der neoklassischen Wirtschaftstheorie operierende Göttinger Schule Wilhelm Abels erscheint hier eher als ein Fremdkörper. Die Kluft zwischen jüngeren Überblicksdarstellungen, in denen nach wie vor das Nahrungsprinzip propagiert wird (Wehler, Lenger), und der handwerkshistorischen Forschung, die sich weitgehend davon verabschiedet hat, wird zwar benannt. Es fehlt aber an einer substanziellen Auseinandersetzung mit solchen Modernisierungskonzepten, die offensichtlich ohne eine Kontrastfolie nicht auszukommen scheinen.

Die vier Fallstudien sind ein Spiegelbild der gegenwärtigen Forschung. Christof Jeggles Artikel über das Münstersche Leinengewerbe und Robert Brandts Studie über das Frankfurter Innungshandwerk entstammen laufenden Forschungsprojekten. Die Beiträge von Anke Sczesny zum ostschwäbischen Textilgewerbe und von Christine Werkstetter zur Rolle der Frau im städtischen Zunfthandwerk gehen auf jüngst abgeschlossene Arbeiten zurück.

Christof Jeggles Studie zum Münsteraner Leinengewerbe konzentriert sich allzu einseitig auf die Argumentation der um eine Zunftbildung bemühten Weber. Die aus der Untersuchung der Verwendung des Nahrungsbegriffs im kommunikativen Handeln erwartete Freilegung "strukturierter Repertoires" setzt aber die Konfrontation unterschiedlicher Verwendungsweisen mit klarem Bezug auf Interessenlagen voraus.

Anke Sczesnys Beitrag zum ostschwäbischen Textilgewerbe ist zeitlich wie räumlich breiter angelegt. Er befasst sich sowohl mit dem Spannungsverhältnis zwischen Gemeinwohl und Eigennutz innerhalb der Reichsstadt Augsburg im 15. Jahrhundert als auch mit den Standortkonflikten zwischen den oberschwäbischen Reichsstädten im 15./16. Jahrhundert und zwischen Stadt und Land im 17./18. Jahrhundert. Es wird mehr als deutlich, wie wenig Sombarts Nahrungsbegriff und sein Verständnis von Verlagsbeziehungen den Entwicklungsprozessen gerade in den frühneuzeitlichen Exportgewerben gerecht werden.

Robert Brandt untersucht anhand von bislang unbeachtetem Archivmaterial die genaue Bedeutung von Nahrung und Markt für das Frankfurter Innungshandwerk im 18. Jahrhundert.

Wirtschaftlich gesehen geht es bei den vorgeführten Fällen um solche, bei denen die betroffenen Gewerbe ihre Nahrung nahezu ausschließlich mit dem heimischen Markt verbanden (Gürtler, Brauer und Bäcker). Je statistischer der Absatzmarkt und seine Bedingungen, umso näher lag der Nahrungsbegriff der Betroffenen am Sombartschen Nahrungsbegriff (it’s the economy, stupid – meine Schlussfolgerung).

Christine Werkstätters macht in ihrem Artikel an Augsburger Beispielen deutlich, dass Frauen in Nahrungskonflikten keine Sonderrolle spielten, sie nicht durch Männer mit dem Nahrungsargument aus dem Handwerk gedrängt wurden. Die enge Bindung der Eheschließung an den Nachweis einer Erwerbsgrundlage zeigt, dass Nahrung auch eine bevölkerungs- und ordnungspolitische Kategorie war.

Der Nahrungsbegriff, wie er in den Quellen verwendet wird, ist vielschichtig und flexibel, fast immer ist er an den Begriff des Gemeinwohls geknüpft. Das machen alle vier empirischen Beiträge deutlich. In der Frühmoderne war für das Handwerk die Stadt das soziale Referenzsystem, überschaubar und als politisches System handlungsfähig, etwa wenn es um den Ausgleich von Produzenten- und Konsumenteninteressen ging. Der Kapitalismus, wie er Gegenstand nicht nur von Sombarts Modellbildung ist, war ubiquitär, politisch nicht einzuhegen. Seinen Akteuren war der Nahrungsgedanke fremd. Sie waren eine völlig neue Spezies: aufgeklärte, liberal denkende Menschen, gebildet, risikofreudig, dem Gemeinwohl eher als generöse Stifter verpflichtet, moderne Bürger eben wie ihre Historiker.

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