Ch. Links: Das wunderbare Jahr der Anarchie

Cover
Titel
Das wunderbare Jahr der Anarchie. Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90


Autor(en)
Links, Christoph; Nitsche, Sybille; Taffelt, Antje
Erschienen
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Richter, Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V., Technischen Universität Dresden

„Wir sind so frei!“, lautete eine der Parolen der friedlichen Revolution und beschrieb damit eine damals verbreitete Stimmung. Im Herbst 1989 war die SED-Alleinherrschaft samt verordneter Unmündigkeit hinweggefegt worden, und noch stand die Übertragung des bundesdeutschen Modells in einem zielgerichteten Transformationsprozess nicht überall und sowieso nicht bei allen auf der Tagesordnung. Das vergehende diktatorische, und das neue repräsentativ-demokratische Staatswesen gingen nicht nahtlos ineinander über und schon gar nicht die gesellschaftlichen Strukturen, wie sie sich in Ost und West in Jahrzehnten herausgebildet hatten. Die entstehende Transformationsgesellschaft dauerte ein „wunderbares Jahr der Anarchie“. Die manchmal gesetzlose Zeit schuf Freiräume für eine Art von Bürgerinitiativen, ohne die jedes etablierte Staatswesen an sich selbst ersticken kann.

Davon handelt das Buch. Es erzählt in knapp vierzig kurzen Beiträgen von Menschen, die im politisch-gesellschaftlichen Raum die Eigeninitiative ergriffen. Die Geschichten berichten aus im Umbruch befindlichen Alltagssituationen. Fast immer stehen sich der unter dem Druck von Protesten implodierende, einst omnipotente SED-Staat und selbstbewusste, mutige BürgerInnen gegenüber, die willens und in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Einige Geschichten handeln noch in der Zeit der Diktatur. Hier geht es um Protesthandlungen gegen die verordnete Unmündigkeit oder um das Erkämpfen von Freiräumen im Alltagsleben. Die meisten Erzählungen aber berichten über die Zeit des Umbruchprozesses und davon, wie Menschen die Initiative ergriffen, um die Reste der ungeliebten SED-Herrschaft im Kleinen zu beseitigen. Von mutigen Künstlern, Lehrern, Redakteuren und Kommunalpolitikern ist die Rede, von Werktätigen, Gefangenen oder Naturschützern, die nicht mehr so wollen, wie die da oben. Von einer Dorfrepublik an der Elbe kann man lesen, von in Eigenregie durchgeführten Kommunalwahlen oder davon, wie Matrosen - wieder einmal - einen „Matrosen- und Soldatenrat“ bildeten. Bei der Lektüre wird die Zeit des Umbruchs wieder lebendig oder, für Jüngere, auf eindrucksvolle Weise nachvollziehbar. Es wird deutlich, wie viel Eigeninitiative und Gestaltungswille in Ostdeutschland vorhanden waren. Die wahren Geschichten zeigen Menschen, die mutig revolutionäre Veränderungen vor Ort vollzogen.

Solch ein Buch wäre gut geeignet, Schülern die Zeit der friedlichen Revolution nahe zu bringen, ihnen zu zeigen, wozu wir Ossis in der Lage waren und sind. Es ist kein wissenschaftliches, sondern ein spannendes und interessantes Lesebuch. Dennoch hat es auch für die wissenschaftliche Bearbeitung der Zeit des Umbruchs Bedeutung. Beschreiben die meisten Darstellungen zur friedlichen Revolution die Entwicklungen in den großen Städten oder die internationalen Rahmenbedingungen der deutschen Einheit, so geht es hier um eine Handlungsebene, die gerade erst ins Blickfeld der Untersuchungen zu rücken beginnt. Wie intensiv war die zu beseitigende Diktatur im Alltagsleben verankert? Was musste geschehen, um vor Ort, in den Kommunen, Betrieben oder auf dem flachen Land dem revolutionären Umbruch zum Durchbruch zu verhelfen? Welche Bedeutung hat diese Handlungsebene für das Gelingen der friedlichen Revolution? Einige Antworten sind dem Buch auf jeden Fall zu entnehmen: Auch wenn die Zeit reif war, weil sich die globalen Strukturen änderten; ohne den Mut und die Eigeninitiative einzelner Menschen wäre 1989/90 nicht viel passiert. Der Umbruch hat Kräfte in den Menschen freigesetzt, ihnen eine Würde gegeben, die man heute gelegentlich wieder suchen muss. Ohne die damals manifeste Eigenverantwortlichkeit scheint jede Gesellschaft zum Scheitern verurteilt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension