C. Higbie: The Lindian Chronicle

Cover
Titel
The Lindian Chronicle and the Greek Creation of Their Past.


Autor(en)
Higbie, Carolyn
Erschienen
Anzahl Seiten
XV, 320 S.
Preis
$ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Astrid Möller, Seminar für Alte Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Das Buch stellt die erste ausführliche monografische Behandlung der berühmten hellenistischen Inschrift aus Rhodos dar, die unter dem Namen "Lindische Chronik" bekannt wurde. Die Inschrift selbst ist natürlich häufig Gegenstand der Diskussion gewesen, enthält sie doch so illustre Namen wie u.a. Kadmos, Minos und Herakles, aus der Generation der Trojakämpfer u.a. Menelaos, Helena und Meriones sowie aus historischer Zeit u.a. den Pharao Amasis, Alexander den Großen, Ptolemaios II. und Pyrrhos, die alle mit ihren der Athena Lindia geweihten Geschenken aufgelistet wurden. Wilamowitz hielt dies einst alles für einen großen Schwindel. Higbie macht es sich nicht so leicht und folgt dem neueren Forschungsansatz, die Konstruktionen der Griechen bezüglich ihrer eigenen Vergangenheit zu untersuchen und ernst zu nehmen.

Im Jahre 99 v.Chr. ließen die Priester und die Lindier im Heiligtum der Athena Lindia eine 2,37 Meter hohe, monumentale Stele aufstellen, bedeckt mit einer Inschrift, die berühmte Weihgaben und ihre Stifter vom eponymen Lindos bis zu Philipp V. auflistete und in einem weiteren Teil (D) von drei Epiphanien der Göttin berichtete. Zusammenstellen sollten gemäß Dekret (A) den Katalog Tharsagoras, Sohn des Stratos aus Ladarma, und Timachidas, Sohn des Hagesitimos aus Lindos. Der Name "(Tempel-)Chronik" oder "Anagraphê" ist irreführend, wie auch Higbie bemerkt. Sie entscheidet sich jedoch dafür, den heute im Englischen üblichen Namen "Lindian Chronicle" beizubehalten. Unter Chronik wird normalerweise eine annalistisch, d.h. eine nach eponymen Beamten oder Priestern geordnete Auflistung historischer Ereignisse verstanden. Die im Buch behandelte Inschrift kommt zunächst als Tempelinventar daher, doch unterscheidet sie sich von diesen durch die Quellenbelege und die historiografische Methode, mit der der Katalog der Weihgaben und Epiphanien erstellt wurde.

Das Buch ist folgendermaßen gegliedert: Eine Einleitung gibt einen Überblick über die Geschichte von Rhodos und des Heiligtums der Athena Lindia. Es folgt der griechische Text der Inschrift, im Wesentlichen nach der Ausgabe Blinkenbergs von 1941 (Lindos II: Inscriptions), mit englischer Übersetzung. Anhand der Abklatsche Blinkenbergs und Autopsie des Originals stellt Higbie fest, dass seine Lesungen sehr genau waren und seine Ergänzungen nicht generell zu verdammen sind. Alle Abweichungen von Blinkenbergs Text werden in einem Apparat festgehalten. Text und Übersetzung folgt ein ausführlicher Kommentar. Drei Essays behandeln Aufbau und Organisation der Chronik, Erzählstrukturen und Geschichte in der Chronik sowie die "Geschichte hinter der Chronik". Ein Index locorum und ein allgemeiner Index, der ein Auffinden von Begriffen leider nicht immer erleichtert (die mastroi finden sich z.B. unter "Lindos and Lindians"), beschließen das Buch. Fotos und Abbildungen verdeutlichen einige Sachverhalte.

Der reiche Kommentar behandelt sprachliche Besonderheiten, parallele Inschriften sowie mythische und historische Zusammenhänge und Hintergründe auf vorbildliche Weise. Er bietet viele nützliche Beobachtungen und Diskussionen. Die sich anschließenden drei Essays sind auch gut für sich zu lesen, Verweise auf den Text und den Kommentar sind häufig, einige Wiederholungen mussten so in Kauf genommen werden. Auch Leser ohne Griechischkenntnisse können hier folgen, da alle Texte übersetzt sind.

Der erste Essay behandelt den inneren Aufbau und die Anlage der Chronik. Higbie möchte mit Hilfe einer detaillierten Analyse der Struktur der Chronik die Interessen und Vorurteile der Kompilatoren und ihrer lindischen Auftraggeber erhellen. Panhellenische wie Lokalheroen, historische Figuren mit panhellenischer Bedeutung und lokale Stifter, die als Kolonisten oder Anführer von Koloniegründungen gelten, bezeugen Verbindungen quer durch Raum und Zeit. Higbie stellt auch Beispiele von Weihgaben zusammen, die in anderen Quellen erwähnt werden, aber in der Chronik fehlen. Wundern muss das Fehlen der Danaiden in der Auflistung mythischer Stifter, obwohl sie in anderen Traditionen eng mit der Tempelgründung verbunden waren. Die Weihgaben umfassen das übliche Spektrum von Kriegsgeräten über Gefäße bis zu Statuen oder Statuetten. Es fehlen allerdings die Kuriosa wie Heroenknochen.

Bedeutsam an der Inschrift ist nicht die Auflistung von Weihgaben und ihrer Stifter, sondern dass alle durch schriftliche Quellen belegt werden. Die meisten Weihgeschenke waren zum Zeitpunkt der Aufzeichnung dieser Inschrift bereits verloren gegangen, wenn sie denn je existiert hatten, und die Kompilatoren der Liste versuchten diesen Mangel durch literarische und dokumentarische Belege zu beheben. Higbie hebt die sich hier zeigende, jedoch selten anzutreffende Vorliebe für dokumentarische Belege hervor und betont, dass die Sorgfalt, mit der hier Belege zusammengetragen und angeführt wurden, wenig Nachahmer in der antiken Welt, mit Ausnahme einiger medizinischer Schriften, fand. Bereits das ebenfalls aufgezeichnete Dekret (A), in dem die Erstellung dieser Inschrift beschlossen wird, weist auf die Bedeutung der Dokumente hin: Für ihre Abfassung sollten die Briefe, die öffentlichen Aufzeichnungen und andere Quellen verwendet werden. Letztere bleiben unklar, da sich hier (A7) eine Lücke befindet, die bisher mit syngrammaton oder martyrion ergänzt wurde. Higbie plädiert überzeugend im Anschluss an Chaniotis für historion, allerdings nur im Kommentar auf S. 58 und S. 188, Anm. 56, während sie den edierten Text gegenüber Blinkenberg nicht verändert. Um welche Briefe es sich handelt, wird bei der ersten Weihgabe deutlich: Zwei Priester, Gorgosthenes und Hieroboulos, werden aus ihren Briefen für die Phiale des eponymen Lindos, zitiert, der genaue Zweck dieser Briefe bleibt aber unklar. Die öffentlichen Aufzeichnungen (chrematismoi) werden für die jüngeren Weihgaben ab der Alexanderzeit zitiert. Als literarische Quellen dienten Lokalhistoriker wie Xenagoras und Zenon 1 und chronografische Werke, annalistische Berichte, Sammlungen von Daten oder Chroniken. Insgesamt gibt es 21 Autorenangaben, von denen 13 oder 14 nur aus diesem Dokument bekannt sind. Unter den drei Autoren von Historien befindet sich Herodot, der für das Weihgeschenk des Amasis zitiert wird.

Der zweite Essay fragt nach den Erzählstrukturen und der Behandlung von Geschichte in der Chronik. Higbie sieht in der äußeren Erscheinung der Chronik und ihrer Konstruktion, dem sprachlichen und inhaltlichen Schema der Einträge, sowie ihrem Kontext, den kulturellen Rahmenbedingungen des Jahres 99 v.Chr., den Schlüssel zu ihrem Verständnis. Als Hagesitimos die Wiederauffindung der Geschichte durch Dokumentation der Votive und Epiphanien der Göttin beantragte, lag Lindos am Rand der Welt und der Geschichte. Um für Reisende wieder attraktiv zu werden, errichteten die Lindier eine Stele, auf der die verlorenen Weihgaben beschrieben werden. In ihrem Verständnis einer ruhmreichen griechischen Vergangenheit, die innerhalb des Römischen Reiches zu erneuern ist, stellt die Lindische Chronik für Higbie eine Vorläuferin der Zweiten Sophistik dar (S. 242).

Die Liste der Weihgeschenke repräsentiert die Momente der Geschichte der Lindier, die diese ganz besonders bedeutsam fanden. Die Kompilatoren dieses Katalogs stützten sich auf zwei Arten von Zeugnissen und Untersuchungen: Für die heroische und mythische Periode nutzten sie Erzählstrukturen und das, was Higbie "Holes in Homer" nennt. Durch diese Lücken war es möglich, sich auszumalen, warum Figuren wie Minos oder Helena einst nach Lindos kamen. Für die historische Zeit, die Zeit der Kolonisation bis zum Hellenismus, verwendeten sie andere Quellen: Überreste wie Gebäude, Gräber, Weihgaben; mündliche Quellen wie Antiquare, Priester und Einheimische; schriftliche Quellen sowohl literarischer als auch dokumentarischer Art. Higbie stellt fest, dass Historiker selten literarische Quellen mit der Ausnahme Homers zitierten, aber auch dokumentarische Quellen selten nutzten. Gelegenheiten für Antiquare und Lokalhistoriker ergaben sich durch Erzählmuster, Lücken und einander widersprechende Versionen der epischen Geschichten. Typische Erzählmuster umfassen z.B. die Notwendigkeit eines Talismans, um den Krieg zu gewinnen oder eine Seuche zu überwinden, oder die Missachtung religiöser Rituale für den Beginn eines Abenteuers. Helden müssen wegen der Tötung eines Angehörigen fliehen, was dann deren Anwesenheit an bestimmten Orten erklärt. Die trojanischen Helden werden durch Stürme abgetrieben, wodurch sie einen Zwischenstopp auf Rhodos einlegen können. Ebenso konnten auch diejenigen, die den Trojanern zu Hilfe eilten, über Rhodos reisen. Ähnliche Strukturen zeigen sich in den Koloniegründungsgeschichten, die dadurch vergleichbare Möglichkeiten der Anknüpfung und Ergänzung bieten.

Nicht nur für ihre Frühzeit scheinen die Lindier ihre Vergangenheit ausgeschmückt zu haben. Wie Higbie darlegt, findet sich als Begründung für die erste Epiphanie der Göttin die Behauptung, Lindos sei von Dareios belagert worden, was sich anderweitig nicht belegen lässt. Vorlage für diese Erzählung dürften Geschichten von der Zerstörung Naxos, Eretrias und Athens abgegeben haben. Hier lässt sich nach Higbie ein absichtliches Vergessen der Vergangenheit erkennen: Rhodos war im frühen 5. Jahrhundert v.Chr. Teil des Perserreichs. Die Geschichte von der Belagerung des Heiligtums durch Dareios ließ die eigene Vergangenheit in einem anderen Licht erscheinen.

Der dritte Essay widmet sich der "Geschichte hinter der Chronik", d.h. den Intentionen der Kompilatoren und ihrer Auftraggeber. Pausanias' und Strabons Werke gelten Higbie als beispielhaft für das, was Griechen als bedeutsam für ihre Geschichte ansahen: Heiligtümer und Gräber bedeutender Figuren der Vergangenheit. Auch wenn in Lindos ein schönes hellenistisches Heiligtum zu bewundern war, fehlten doch die handgreiflichen Beweise aus älterer Zeit. Die Griechen hatten ein Bewusstsein von der Zerstörungskraft der Zeit wie auch der Naturkatastrophen und des Feuers. Wenn Erinnerungsorte und die Erinnerung selbst zerstört waren, so war auch die Vergangenheit zerstört. Dem Feuer widmet Higbie ein eigenes Unterkapitel, wird doch die größte Zerstörung des Heiligtums und seiner Weihgeschenke einem Feuer zugeschrieben. Dieses Feuer scheint in der Inschrift erwähnt worden zu sein (D 38-42), die es in das Jahr als Eukles, Sohn des Astyanax, Priester des Halios war, datiert. Mit Hilfe einer erhaltenen Priesterliste datiert Higbie das Feuer auf 392/1 v.Chr.

Jacoby klassifizierte die Lindische Chronik einst als Lokalgeschichte. Sie lässt sich aber, wie Higbie betont, nur schwer einer Gattung zuordnen. Hinter dem Katalog stehe die Vorstellung, dass man die Geschichte eines Heiligtums durch die Geschichte seiner Schätze schreiben könne. Die Auflistung wurde zwar nicht in eine Erzählung umgeformt, sie zeige aber, dass man eine Weihgabenliste als Textform verwenden konnte, um die Gottheit zu ehren und auf besondere Wohltaten hinzuweisen. Um ihre These zu belegen, diskutiert Higbie weitere Inventarlisten als mögliche Parallelen. Die Lindische Chronik zeigt aber gerade nicht das Funktionieren der Verwaltung, sie war nicht Teil der Routineaufgaben der Priester, sondern ihr Inhalt wurde gemäß einem Dekret zusammengestellt. Die Weihgaben und Epiphanien repräsentieren eine Auswahl nach dem Kriterium, wer dem Heiligtum am meisten Ruhm brachte.

Das Buch ist eine willkommene Bereicherung für alle, die sich mit griechischen Lokaltraditionen, Erinnerungskulturen und der Konstruktion von Geschichte beschäftigen. Higbie zeigt anhand der Lindischen Chronik exemplarisch Methoden und Vorgehensweisen der Konstruktion einer glorreichen Vergangenheit der Griechen, die sich als Teil des Römischen Reichs kulturell behaupten mussten.

Anmerkung:
1 Zu Zenon vgl. auch Wiemer, Hans-Ulrich, Rhodische Traditionen in der hellenistischen Historiographie (Frankfurter Althistorische Beiträge 7), Frankfurt am Main 2001.

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