B. Heidenreich u.a. (Hg.): Die Grimms

Cover
Titel
Kultur und Politik - Die Grimms.


Herausgeber
Heidenreich, Bernd; Grothe, Ewald
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Societäts Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Ellen Bublies-Godau, Institut für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

„Wir Deutschen, denen zu heisz drückender schmach das ersehnteste recht eines freien volkes, das seiner ungehemmten einheit bisher noch vorenthalten wird, erblicken in einem solchen gebrechen gegenüber an sich dennoch groszen ersatz und trost dafür in dem anerkannten ruf, dasz was auf wissenschaft und deren förderung bezogen werden kann, alles bei uns fast in höherem grade vorhanden ist, als bei den mächtigen, einsichtsvollsten völkern der gegenwart [...], so kann ohne ruhmredigkeit behauptet werden, dasz unsere wissenschaft und errungene literatur, das untilgbare gefühl für sprache und poesie es gewesen sind, die in zeiten härtester trübsal und tiefster ohnmacht des deutschen reichs das volk gestärkt, innerlich angefacht und erhoben [...] haben.“ (S. 172) In seinem im November 1849 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrag „Über Schule Universität Akademie“ brachte Jacob Grimm das Wissenschaftsverständnis und die Berufsauffassung, aber auch die weltanschauliche Grundorientierung und politische Zielvorstellung von ihm selbst wie von seinem jüngeren Bruder Wilhelm klar auf den Punkt: Zeitlebens strebten die Grimmbrüder danach, mit ihrem mit größter Disziplin und Akribie erarbeiteten wissenschaftlichen Lebenswerk dem eigenen Volk und Vaterland zu dienen und auf diese Weise einen Beitrag zu der von ihnen ersehnten Einheit Deutschlands zu leisten. Angetrieben von einem unbändigen Erkenntnisdrang und Forschergeist und beseelt von einem tief empfundenen patriotischen Pflichtgefühl, das mit ihrer historisch-konstitutionell geprägten liberalen Gesinnung aufs engste verbunden war, suchten sie mit ihrem bahnbrechenden, bis heute nachwirkenden wissenschaftlichen Werk ebenso wie mit ihrem von der Forschung oftmals viel zu wenig beachteten politischen Engagement, ihre Vision von einem geistig und politisch geeinten Deutschland zu verwirklichen. Dabei befruchteten sich ihre wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Wirkungsfelder wechselseitig; ja man könnte sogar sagen, diese verschiedenen Sphären ihrer Existenz waren für sie untrennbar miteinander verbunden und bildeten eine innere Einheit. So gilt etwa, aus Sicht des Grimm-Forschers Hans-Christof Kraus, für Jacob Grimm, dass „ohne den Hintergrund seiner wissenschaftlichen Arbeit, die ihm die Stichworte lieferte, um vom zentralen Faktum der Sprache und Kultur her politische Notwendigkeiten zu formulieren und Forderungen auszusprechen“, sein Einsatz in der deutschen Politik gar nicht gedacht werden kann (S. 177).

Als politisch denkende und handelnde Gelehrte der Epoche zwischen den napoleonischen Befreiungskriegen und der bismarckschen Reichseinigung, denen eine strikte Trennung zwischen Wissenschaft und Politik vollkommen fremd war und die in der Philologie und Sprachwissenschaft, Literatur und Rechtsgeschichte, Mythologie und Volkskunde, Kunst und Politik gleichermaßen eine geistige Heimat hatten und ihre(n) Beruf(ung) ausübten, werden nun Jacob Ludwig Carl (1785-1863) und Wilhelm Carl Grimm (1786-1859) in einem neuen Sammelband über „Kultur und Politik – Die Grimms“ präsentiert. Herausgegeben von den Historikern Ewald Grothe und Bernd Heidenreich, versammelt der Band 15 Beiträge zu den Brüdern und ihren Angehörigen, die überwiegend aus Vorträgen einer Tagung der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung im Juni 2002 hervorgegangen sind. Sie stammen aus der Feder ausgewiesener Grimm-Experten unterschiedlicher akademischer Disziplinen. Die Rechts- und Kunstgeschichte ist ebenso vertreten wie die Geschichts-, Politik-, Sprach- und Literaturwissenschaft. Neben Jacob und Wilhelm Grimm werden noch zwei weitere Mitglieder der Familie vorgestellt, die lange Zeit im Schatten des berühmten Geschwisterpaares standen: zum einen der Bruder Ludwig Emil Grimm (1790-1863), der als Maler und Radierer mit seinen Porträtzeichnungen das Bild der Romantiker nachhaltig geprägt und mit seinen Skizzen aus der Lebens- und Alltagswelt des Vormärz zahlreiche Aspekte des bürgerlichen Biedermeieridylls näher beleuchtet hat; und zum anderen Wilhelms Sohn Herman Friedrich Grimm (1828-1901), der als Literaturhistoriker mit seinen philologischen Forschungen entscheidend dazu beitrug, die Germanistik als Wissenschaft im Deutschen Kaiserreich zu etablieren, und zudem als Nachlassverwalter das Erbe seiner Vorfahren betreute.

Um nun die kulturelle Leistung und politische Wirksamkeit der Familie Grimm anhand ihrer bekanntesten Mitglieder anschaulich darzustellen und um eine erste Gesamtwürdigung der facettenreichen Persönlichkeiten und des bedeutenden Œuvres von Jacob und Wilhelm Grimm vorzunehmen – schließlich mangelt es gerade den Geistes- und Kulturwissenschaften bis zum heutigen Tage an einer modernen Individual- oder Doppelbiografie -, werden in dem vorliegenden Aufsatzband die einzelnen Lebensbahnen, Schaffensphasen und Wirkungskreise der Grimms im 19. Jahrhundert nachgezeichnet und unter Zuhilfenahme verschiedener Erklärungsansätze und Verfahrensweisen aus interdisziplinärem Blickwinkel betrachtet. Ausgehend von den regionalen Wurzeln der „hessische(n) Familie Grimm“ beschreibt etwa Bernhard Lauer, Direktor des Brüder Grimm-Museums in Kassel, in einem informativen lebens- und familiengeschichtlichen Beitrag die frühen Lebensstationen der Grimmbrüder in ihrem hessischen Heimatland, erläutert dabei mit großer Sachkenntnis ihr traditionsbewusstes Elternhaus und Familienleben, ihre von Religiosität, Rechts- und Kontinuitätsdenken geleitete Erziehung sowie ihre spätere Erwerbstätigkeit im Bibliotheksdienst und wegweisende Forschungsarbeit auf dem Gebiet der germanischen Philologie. Das Projekt einer Briefedition stellt Heidrun Helwig in einem zweiten biografischen Artikel über „Die Kasseler Jahre“, „die ruhigste, arbeitsamste und vielleicht auch die fruchtbarste Zeit“ für die beiden Brüder (S. 46), vor: Mit der Herausgabe der Korrespondenz der Brüder mit Freunden aus jener Zeit plant die Gießener Historikerin, den Aufenthalt der Grimms in der kurhessischen Residenzstadt von 1805 bis 1829, insbesondere ihre dortigen Lebensgewohnheiten und Kommunikationsnetzwerke genauer zu erkunden, aber auch neue Einblicke in die Anfänge ihrer Wissenschaftlerkarriere zu gewinnen.

Natürlich dürfen in einer Abhandlung, die den Anspruch hat - und, um es gleich vorwegzunehmen, ihn auch erfüllt -, den derzeitigen Stand und die aktuellen Tendenzen der deutschen Grimm-Forschung widerzuspiegeln, Beiträge zu den Brüdern Grimm als geistigen Vätern der Germanistik und als Verfasser der weltberühmten Kinder- und Hausmärchen nicht fehlen. Mit Ruth Schmidt-Wiegand und Hans-Jörg Uther konnten die Herausgeber für diese Aufgabe zwei anerkannte Fachleute gewinnen, die schon mehrfach mit Studien und Editionen zu dem Grimmschen Werk an die Öffentlichkeit getreten sind. So erörtert Schmidt-Wiegand in ihrem Aufsatz die Rolle der Grimms als „Mitbegründer der Germanistik“, die „die unterschiedlichsten Strömungen ihrer Zeit in sich aufgenommen und verarbeitet“ haben, etwa das Erbe der Klassik und die Ziele der Romantik, das Universalhistorische neben dem Nationalen oder auch das Bildungserlebnis im Ganzen, dem eine entwicklungsgeschichtliche Sicht auf die Wissenschaften zugrunde gelegen habe (S. 125). Ungemein aufschlussreich, für Germanisten wie Wissenschaftshistoriker gleichermaßen, ist neben dem fundierten Beitrag der Münsteraner Germanistin auch die interessante Studie des Essener Literaturwissenschaftlers Uther. Hier geht es um „Die Brüder Grimm als Sammler von Märchen und Sagen“ und um die jüngsten Ergebnisse der historischen Erzählforschung. Uther räumt nicht nur mit der Mär von der mündlichen Volksüberlieferung der Märchen auf. Er berichtet auch über Jacob und Wilhelm Grimms frühe Sammelaktivitäten von alten literarischen Zeugnissen aus ganz Europa, und legt recht ausführlich die Entstehungs-, Bearbeitungs- und Wirkungsgeschichte der Grimmschen Sammlungen der „Kinder- und Hausmärchen“ von 1812/15 und der „Deutschen Sagen“ von 1816/18 dar.

Dass die Brüder Grimm auch durch und durch politische Menschen waren, stellten sie im Laufe ihres Lebens immer wieder unter Beweis: sei es mit ihren Kontakten zu dem oppositionellen Schönfelder Kreis im restaurativen Kurfürstentum Hessen der späten 1820er-Jahre, sei es 1837 mit dem Protest der sieben Göttinger Professoren, zu denen sie gehörten, gegen den Verfassungsbruch des hannoverschen Königs Ernst August I., oder sei es 1848 mit der Wahl Jacobs zum Abgeordneten der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Wie unterschiedlich das politische Denken und Handeln der Grimms in der Forschung trotz etlicher Übereinstimmungen immer noch gedeutet wird, zeigt ein direkter Vergleich zwischen einzelnen Beiträgen des Sammelbandes, auf die hier noch kurz eingegangen werden soll.

Dabei sucht der Wuppertaler Historiker Ewald Grothe in seinem Beitrag, das spannungsreiche Verhältnis von Jacob und Wilhelm Grimm zur hessischen Politik zu ergründen, und analysiert zu diesem Zweck das Grimmsche Verständnis der Begriffe Heimat und Vaterland, die Einstellung der Brüder zum kurhessischen Fürstenhaus sowie ihre Ansichten zu Revolution, Verfassung, Landtag und Liberalismus. Als ein wichtiges Ergebnis kann Grothe nach eingehenden Untersuchungen letztlich festhalten, dass die politische Haltung der Brüder Grimm am besten mit dem Stichwort „Mäßigung“ umschrieben werden kann: Ihre politischen Maximen standen unter dem Motto „Wahrung historischer Traditionen, organisches Wachstum und Bewahren im Wandel“, und es ging ihnen in erster Linie um „eine praktische Verbesserung der politischen Zustände in Hessen und Deutschland“ und folglich nur um eine vorsichtige Anpassung des politischen Systems an die Zeitbedürfnisse. Während also Bandherausgeber Grothe die Grimmschen Ansichten „in einer Übergangszone zwischen reformkonservativ, konstitutionell und gemäßigt liberal“ verortet (S. 203-204), lehnt der eingangs bereits zitierte Hans-Christof Kraus diese Einschätzung mit dem Hinweis auf die Breite des liberalen Spektrums im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 ab.

Kraus rechnet vielmehr in seiner biografischen Studie über „Jacob Grimm – Wissenschaft und Politik“ im Anschluss an Ernst Rudolf Hubers wegweisendes Parteienschema die beiden Grimms eindeutig zu der von Huber so genannten „‘Professoren-Gruppe‘ des konstitutionellen Liberalismus“ der Vormärz- und 1848er Revolutionszeit, also dem „rechten Zentrum“, zu. Zwar lehnten die Grimmbrüder, so der Münchner Wissenschaftler, einen revolutionären Bruch mit der Vergangenheit ab und setzten sich für eine ‚organische‘ „Fortentwicklung der deutschen politischen Institutionen im Einklang mit deutscher Tradition“ und Geschichte ein. Als Anhänger der konstitutionellen Monarchie und im Unterschied zu dem damals vorherrschenden politischen Konservativismus strebten sie jedoch stets nach einer Teilung der politischen Macht zwischen Monarchen und Parlament und traten für die Aufnahme einer umfassenden Freiheitsklausel in eine neue Staatsverfassung, für die Abschaffung des Adels sowie für die Überwindung des Deutschen Bundes und die Schaffung eines deutschen Nationalstaates ein (S. 175-176).

Mit einem anderen Aspekt der Grimmschen politischen Orientierung setzt sich der Bochumer Politologe Wilhelm Bleek in seinem Aufsatz über „Die Brüder Grimm und Friedrich Chistoph Dahlmann“ auseinander. Er thematisiert die Freundschaft zwischen den drei Gelehrten seit ihrer gemeinsamen Hochschullehrertätigkeit an der hannoverschen Landesuniversität in Göttingen. Dahlmann wie die Brüder Grimm hätten ihren 1837 mit vier weiteren Professoren eingelegten Protest gegen den Staatsstreich des Königs von Hannover „als eine im Wesen unpolitische Tat“ verstanden, der für sie eher „Ausdruck ihrer ethischen Gesinnung“ war. Schließlich fühlten sie sich aufgrund ihrer Verantwortung als Hochschullehrer vor den Studenten dazu verpflichtet, gegen den monarchischen Willkürakt Widerspruch zu erheben und die verfassungsmäßige Ordnung in Schutz zu nehmen. Diese nicht unbedingt politisch motivierte, aber politisch äußerst wirksame Gesinnungs- und Überzeugungstreue von bürgerlichen Gelehrten, ihre „Scheu vor tagespolitischem Engagement“ ist aus Sicht des Politikwissenschaftlers vor allem darauf zurückzuführen, dass „sie sich höchstens unter dem Zwang der Ereignisse, aus Rücksicht auf Recht und Vaterland, in die praktische Politik verpflichten ließen“. Wie schon bei den Göttinger Ereignissen habe ihre ethische Gesinnung und ihr patriotisches Verantwortungsgefühl 1848/49 noch einmal gesiegt und Dahlmann wie Jacob Grimm dazu bewogen, in der Politik erneut aktiv zu werden und sich in die deutsche Nationalversammlung wählen zu lassen (S. 212-213, 222).

Leider können in dieser Besprechung gar nicht alle, zumeist gut geschriebenen und hervorragend redigierten Beiträge des Bandes angemessen gewürdigt werden. In jedem Fall gilt es jedoch festzuhalten, dass die Lektüre der neuen Dokumentation über „Die Grimms“, die von einer weiterführenden Auswahlbibliografie, einer Stammtafel, einem umfassenden Personenregister sowie von mehreren Porträts und Abbildungen abgerundet wird, einen großen Gewinn darstellt. Denn die darin aufgenommenen Studien können nicht nur der internationalen Grimm-Forschung, sondern - aufgrund der innovativen Konzeption der Abhandlung, die sich der Untersuchung der Bedeutung der Grimms für die Kultur und Politik der Deutschen widmet -, auch der geschichts-, politik- und literaturwissenschaftlichen Forschung zur Nations-, Identitäts- und Staatsbildung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche neue Impulse verleihen. Und so möchte man abschließend diesem Tagungsband vor allem eine große Leserschaft und intensive Rezeption in der ‚scientific community‘ wünschen.

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