Cover
Titel
Kleine Geschichte der Fotografie.


Autor(en)
von Brauchitsch, Boris
Erschienen
Stuttgart 2002: Reclam
Anzahl Seiten
301 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Joschke, Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris

Unter dem Titel Kleine Geschichte der Fotografie liefert uns Boris von Brauchitsch im Kleinformat auf über 300 Seiten eine Übersicht über die Entwicklung der Fotografie seit ihrer Erfindung.

Das umfangreichen Buch liefert eine originelle Auswahl von fotografischen Beispielen und Illustrationen. Brauchitsch erweitert und ergänzt damit den traditionellen Bildschatz, der üblicherweise in Handbüchern vorhanden ist. Die Aufnahme sonst kaum bekannter Fotografen - wie z. B. Wilhelm von Gloeden (S. 59), eines homosexuellen Adeligen, der mit zweiundzwanzig in den Süden zog, um der wilhelminischen Moral zu entfliehen und im orientalistischem Stil hunderte von Akten fotografierte - wie auch die Auswahl von Fotos bekannterer Künstler ist gelungen, originell und geschmackvoll. Dieses Buch erweist sich somit als ein sehr schöner Rundgang durch die fotografische Produktion der zwei letzten Jahrhunderte.

Aber der Anspruch des Buches geht darüber hinaus. Denn es soll hier erfreulicherweise weder die schlichte Technikgeschichte des Mediums, noch die Erfolgsgeschichte einer Kunstform geschildert, sondern kulturhistorische Ansätze in Anspruch genommen werden, was schon im auf Walter Benjamin zurückgreifenden Titel anklingt. Brauchitsch versucht, so heißt es im Vorwort, "die gesellschaftliche Bedeutung und Funktion in den Mittelpunkt" zu stellen und untersucht "die gesellschaftliche Veränderung der Wahrnehmung seit der öffentlichen Präsentation des Mediums im Jahre 1839" (S. 10).

Ein solches Vorhaben ist wichtig. Die deutschsprachige fotohistorische Literatur bedurfte einer kleinen allgemeinen Fotografiegeschichte, die über eine traditionelle Stilgeschichte hinausreicht.1 Die aktuelle Geschichtsschreibung hat nämlich dieses Medium als Forschungsgegenstand gerade deswegen entdeckt, weil es die Grenzen des traditionellen Kunstbegriffs öffnet und so eine Kulturgeschichte der Bilder ermöglicht. In Deutschland entstand zunächst diese Bild-Forschung außerhalb des akademischen Rahmens der Kunstgeschichte und sie hat Brücken in die Richtung der Volkskunde oder der Zeitgeschichte geschlagen. Das zeigt am besten die schon seit vierundzwanzig Jahren erscheinende Zeitschrift Fotogeschichte, die sich ausgiebig mit Themen wie z.B. dem privaten Umgang mit Bildern, Bildern der Gewalt während der beiden Weltkriege, der Darstellung von Arbeit, der Propaganda usw. befasst hat. Solche interdisziplinären Brücken entstehen auch durch die Forschungen von Historikern, die sich z.B. mit der Vergangenheitsbewältigung durch Bilder beschäftigen.2 Brücken stellen auch jene Arbeiten dar, die eine Verknüpfung zwischen Kunstgeschichte und Wissenschaftsgeschichte schaffen. Die Fotografie scheint auf diesem Feld inspirierend insofern, als man die visuellen Bedingungen der naturwissenschaftlichen Praxis entdeckt und erforscht.3 Deswegen war und bleibt die Fotografiegeschichte ein vielversprechendes kulturhistorisches Arbeitsgebiet.4 Leider, um es vorweg zu nehmen, wird in der Kleinen Geschichte der Fotografie dieser kulturhistorische Anspruch nicht erfüllt. Das Buch schafft es nicht, gesellschaftshistorische Entwicklung und künstlerische Leistung in einen gemeinsamen historiografischen Rahmen zu integrieren.

Zu diesem grundsätzlichen Problem der Gesamtdarstellung reihen sich einige inhaltliche Defizite. So reproduziert Brauchitsch überflüssigerweise Gemeinplätze einer obsoleten Fotogeschichtsschreibung. Er widmet z.B. das erste Kapitel einer durchaus problematischen "Vorgeschichte der Fotografie", die bereits seit mehr als ein Jahrhundert immer wieder in der traditionellen Fotografiegeschichte unwidersprochen auftaucht. Ohne irgendeine theoretische oder praktische Verknüpfung herzustellen, verbindet diese "Vorgeschichte" Aristoteles, Ibn al Haitham und den Jesuiten Athanasius Kircher. Man kann jedoch vermuten, dass diese bedeutenden Persönlichkeiten jeweils Bildern gänzlich unterschiedliche Bedeutungen zuordneten und zugleich bezweifeln, dass sie in einem historischen Zusammenhang, geschweige denn in einem direkten Bezug zur Erfindung des neuen Mediums standen.

So werden Unverständlichkeiten erzeugt, weil ohne historiografischen Rahmen sehr verschiedene Elemente zusammengestellt werden. Die fotografischen Dokumentationen von August Sander stellt Brauchitsch z.B. in einen Zusammenhang mit der massenhaften Verbreitung der privaten Amateur-Fotografie, vorangetrieben durch große Firmen wie z.B. Kodak, weil beide von einer "Bestrebung, das Leben zu standardisieren" (S. 109) zeugen würden. Während also Unternehmen begannen, den Markt zu standardisieren, standardisierte der professionelle Fotograf Sander mit soziologischem Blick die Gesellschaft. Wo der unmittelbare Zusammenhang dieser doch sehr unterschiedlichen Aspekte von Standardisierung liegen, bleibt bei Brauchitsch mangels eines kultur- oder gesellschaftshistorischen Interpretationsrahmens offen bzw. der Impression des Lesers überlassen.

Damit wirkt Brauchitschs Reihung von Namen und Personen der fotohistorischen Entwicklung willkürlich. Eine systematische Verknüpfung der Fotografiegeschichte mit der Geschichte wichtiger gesellschaftlicher Institutionen findet nicht statt, wodurch es schwierig wird, Phänomene von Bildkultur zuzuordnen. So wird die Rolle der Fotografie für die Inventarisierung der Architektur nicht beschrieben, die Gründung der preußischen Messbildanstalt, die Autonomisierung der Industrieforschung um die Jahrhundertwende sind nicht erwähnt. Brauchitsch schildert nur "en passant" die fotografischen Zeitschriften, die großen Wettbewerbe und Ausstellungen (Film und Foto, 1929), die Gründung von Agenturen. Er erläutert kaum die Rolle dieser institutionellen Etappen der Bildkultur, obwohl sie erst, wie anfangs angekündigt, "die gesellschaftliche Bedeutung und Funktion in den Mittelpunkt" stellen würden. Denn die ganze Struktur des Buches basiert auf einer traditionellen Einordnung von Namen und Figuren der Fotografiegeschichte, nicht auf einer identifizierbaren, darüber hinaus weisenden Fragestellung.

Deswegen findet Brauchitsch auch keinen Ansatz, um einer traditionellen kunsthistorischen Darstellungsform der Fotografiegeschichte zu entgehen. Vor allem die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt er, trotz aller Behutsamkeit, als eine schlichte Gegenüberstellung von Kunst und Nicht-Kunst, ohne dass die vermittelnden Positionen - wie z.B. die Rolle der Presse-Agenturen oder der Anspruch auf einen rechtlichen Autoren-Status durch die Presse-Fotografen - erläutert werden. Zum einen wird die Massenproduktion von Bildern geschildert und die „Ausbeutungsmöglichkeiten“ (S. 173) der Wirklichkeit durch die Bilder als Charakteristikum für diese Zeitspanne hervorgehoben. Zum anderen behandelt Brauchitsch künstlerische Positionen häufig ohne historische Distanz und die Aussagen der Künstler werden schlicht reproduziert. Auch wenn er versucht, sich "immer wieder wertenden Stellungsnahmen" seitens der Foto- und Kunstkritiker zu entziehen und es daher ergiebiger findet, "die tatsächlichen Eigenheiten der Fotografie in Abgrenzung zu anderen Medien zu ergründen" (S. 13), so führt ihn sein "persönlichen Kunstbegriff" (S. 12) zu ästhetischen Betrachtungen, die nur wiedergeben, wie Fotografen ihren Kunstanspruch untermauern.

Zusammenfassend ließe sich sagen, dass Boris von Brauchitsch Kleine Geschichte der Fotografie ein Buch für Kenner und Liebhaber der Fotografie ist; jedoch bleibt es leider, trotz einer geschmackvollen und originellen Auswahl von Beispielen, wissenschaftlich und pädagogisch mangelhaft. Es findet nämlich keine vermittelnde Position zwischen Fotografie und Gesellschaft. Da das Buch für das 19. Jahrhundert Themenbereiche wie "Wissenschaft", "soziale Dokumentation" oder "Orientalismus" vorsieht, fällt es schwer zu verstehen, warum für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts plötzlich keine Wissenschaft, keine Werbung, keine politische Fotografie mehr erwähnung findet, so dass nur eine Künstlergeschichte der Fotografie übrig bleibt. Dies entspricht jedoch nicht mehr dem Stand heutiger Fotografiegeschichte, wie es u.a. die o.g. fotohistorische Synthese von Michel Frizot und die methodische Einführung von Jens Jäger demonstrieren.

Anmerkungen:
1 Vor allem der Sammelband von Michel Frizot geht bislang in diese Richtung: Frizot, Michel (Hg.), Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998.
2 Knoch, Habbo, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der Deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.
3 Geimer, Peter (Hg.), Ordnung und Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt 2002.
4 Jäger, Jens, Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung, Tübingen 2000.

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