Titel
Heinrich von Brentano. Ein Wegbereiter der europäischen Integration


Herausgeber
Koch, Roland
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
293 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Hacke, Historisches Seminar, Universität Bonn

Im November 2004 jährt sich von Brentanos Todestag zum 40sten Mal. Es ist still um Heinrich von Brentano (1904-1964) geworden, den Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, der unter Bundeskanzler Konrad Adenauer von 1955 – 1963 diente. Um so mehr ist es zu begrüßen, dass in diesem Buch seiner gedacht wird, denn von Brentano verkörperte den Typus des wertkonservativen Ideenpolitikers, der politische Entscheidungen nach Maßgabe sittlicher Kategorien fällte. Geleitet war er von einem christlich humanistischen Welt- und Menschenbild und von der Idee vom Abendland Europa. So war es für ihn konsequent, dass nach dem Verlust deutscher Würde und nationaler Identität nach 1945 und im Zuge der Teilung Deutschlands, Europas und der Welt im Zeichen des Kalten Krieges die Integration Europas für ihn zum „Knochengerüst deutscher Außenpolitik“ wurde, wie er 1961 an Adenauer schrieb. Europa wurde ihm zum Bezugspunkt einer ideellen Werte- und Schicksalsgemeinschaft, entstanden aus dem griechisch-römischen Erbe der Antike. Nach dem Zusammenbruch Deutschlands war auch für von Brentano die nationale Bezugsgröße zerbrochen, Westintegration wurde zum Ersatz. Dabei verstand er die westeuropäische und atlantische Dimension der Westintegration nicht als Gegensatz, sondern komplementär. „So wie das Abendland ursprünglich um das Mittelmeer entstanden ist, organisiert es sich heute hauptsächlich um den Atlantik.“ Sein Denken deckte sich erstaunlicherweise mit dem der jüdisch-deutschen Philosophin Hannah Arendt, die in diesem Zusammenhang die Idee von der atlantischen Zivilisation apostrophierte.

Doch die Würdigung von Brentanos wird in diesem Band breiter und differenzierter angelegt: Die einzelnen vorzüglichen Beiträge beginnen mit von Brentanos Aufstieg als hessischem Lokalpolitiker.

Dabei wird sein frühes Wirken in der CDU, das noch ganz im Zeichen von christlichem Sozialismus stand, gewürdigt. Die damals ‚linke’ CDU in Hessen sympathisierte mit vielen Gedanken von Adenauers Rivalen, Jakob Kaiser, dessen Ideen vom „christlichen Sozialismus“ und von Deutschland als „Brücke zwischen Ost und West“ auch auf den jungen von Brentano als Parlamentarier der ersten Stunde ihre Wirkung nicht verfehlten.

Doch unter dem Eindruck der machtpolitischen Realitäten in der geteilten Welt des Kalten Krieges und fasziniert von Adenauers außenpolitischer Führungskunst und außenpolitischer Weitsichtigkeit wurde auch von Brentano zum überzeugten „Adenauerianer“, der auf von Brentano wiederum nicht verzichten konnte.

Der zweite Schwerpunkt des Buches konzentriert sich auf von Brentanos Wirken als Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, dessen vorbildlicher politischer Stil, sein Takt, seine Sachlichkeit und Eloquenz sowie seine persönliche Integrität für Adenauers Politikdurchsetzung unverzichtbar waren. Von Brentano verband die Achtung vor der Meinung anderer mit großem verhandlungstaktischem Geschick. Das war notwendig, denn er besaß als Fraktionsvorsitzender in der Kanzlerdemokratie von Konrad Adenauer nur begrenzten Einfluss. Deshalb musste er viel Unmut in der Fraktion dämpfen.

Den zentralen Schwerpunkt bildet von Brentanos Wirken als Außenminister. Seine Leistungen als Anwalt der deutschen Einheit, als Atlantiker und vor allem sein herausragendes europapolitisches Engagement werden zu Recht in den Einzelbeiträgen herausgehoben. Aber auch hier wird auf die weltpolitischen Sachzwänge hingewiesen, auf die Veränderungen im Ost-West-Verhältnis und die neuen Chancen und Risiken deutscher Außenpolitik in den 1960er-Jahren. Natürlich nimmt von Brentanos Verhältnis zu Bundeskanzler Adenauer breiten Raum ein. War er lediglich dessen Erfüllungsgehilfe oder konnte er eine eigenständige Rolle und persönlichen Handlungsspielraum entwickeln?

Die Beiträge machen deutlich, dass zwischen Adenauer und von Brentano Einmütigkeit in außenpolitischen Schlüsselfragen vorherrschte, aber doch unterschiedliche Nuancierungen bei Detailfragen auftauchten. Von Brentano blickte mit intensivem Bewusstsein für die traurigen Folgen der Teilung Deutschland und Europas auch nach Osten. Doch gab es für ihn zwingende Argumente, Adenauers Ostpolitik überzeugend mitzugestalten. Im Zuge des Besuches von Bundeskanzler Adenauer in Moskau im September 1955 und nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Moskau und Bonn formulierte von Brentano im Geiste des Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik im Dezember 1955 im Sinne der Hallstein-Doktrin auf der Außenministerkonferenz des Auswärtigen Amtes: „Wir stehen nicht vor einer Wahl, sondern wir haben nur diese Möglichkeit […] wenn wir zulassen, dass in irgendeinem Land der Grundsatz durchbrochen wird, den wir uns geben, können wir nicht mehr aufhalten, dass er in anderen Fällen auch durchbrochen wird.“

Prävention als Kern der Hallstein-Doktrin war zur Abwehr einer Kettenreaktion nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion auch für von Brentano unverzichtbar. Diese Doktrin war bis weit in die 1960er-Jahre erfolgreich, die DDR blieb international isoliert.

Sein Plädoyer für langen Atem in der Ost- und Deutschlandpolitik bzw. seine Mahnung, dass Ungeduld in der Deutschland- und Ostpolitik ein schlechter Ratgeber sei, bewahrheiteten sich in den kommenden Jahrzehnten. Das Offenhalten der deutschen Frage und das Postulat der Wiedervereinigung blieben für ihn zentral, denn ein geteiltes Deutschland war in den Augen von Brentanos ein ständiger Gefahrenherd. Folglich war für ihn ein vereintes Deutschland in einem vereinten Europa langfristiger Zielpunkt, auch aus Sorge um das Schicksal der Deutschen und der Europäer jenseits des Eisernen Vorhangs. Von Brentanos Reden und Handeln reflektierten Mitgefühl für die unterdrückten Menschen in den kommunistischen Diktaturen. Undenkbar war allerdings für ihn, wie auch für die überwältigende Mehrheit der Deutschen in den 1950er und 1960er-Jahren die Forderung nach Verzicht auf die Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße, selbst wenn durch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 17 Millionen Deutsche in der Sowjetzone befreit worden wären. Diese Einstellung sollte sich erst gegen Ende der 1960er-Jahre ändern.

Von Brentano blieb ein Verfechter der Politik der Stärke, wie sie Bundeskanzler Adenauer entwickelt hat. Doch als von Brentano 1964 starb, waren schon die neuen entspannungspolitischen Ansätze in der SPD und FDP in Umrissen zu erkennen. Von Brentano hatte für diese neuen Wege und für eine Neuabwägung von Chancen und Risiken in der Ost- und Deutschlandpolitik kein Verständnis. Sein Antikommunismus und sein moralisches Bewusstsein erschwerten diplomatische Flexibilität. So verwundert es nicht, dass von Brentano kurz vor seinem Tod einen Sieg des Weltkommunismus befürchtete.

Doch sein Blick nach Westen war klar, mutig und visionär. Noch heute zeichnen sich seine Texte und Reden zur Europapolitik durch erstaunliche Frische und Weitsicht aus. So trat schon von Brentano für maßvolle deutsch-französische Verständigung ein; Adenauers politische Anbindung an Paris ging ihm in der Exklusivität der Beziehungen jedoch zu weit. Von Brentano gehörte zu denjenigen Atlantikern, die dem deutsch-französischen Vertrag von 1963 die antiamerikanische Spitze nahmen. Seine kluge und ausgleichende Position sorgte dafür, dass die Vermittlerrolle der Bundesrepublik im Dreieck Washington-Paris-London weiterhin mit Kraft gefüllt blieb, während Adenauers Blick für die atlantischen Notwendigkeiten getrübt schien. Von Brentano war ein weitsichtiger Außenminister, der klug zwischen „Herzensgaullismus“ und „Vernunftatlantizismus“ seine Politik einzupendeln wusste, um Deutschlands Zukunft als integralen Bestandteil der europäischen Politik im atlantischen Kontext zu sichern.

Als Fazit lässt sich festhalten: Von Brentano war ein Gentleman von vornehmem Charakter, auf dessen Wort man sich verlassen konnte und der sich nie mit Indiskretionen in die Öffentlichkeit geflüchtet hätte. Seine unbedingte Loyalität gegenüber dem Bundeskanzler, sein Verzicht, Einsprüche an die Öffentlichkeit zu tragen, machten ihn zum idealen Mitspieler des Bundeskanzlers. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass Außenminister von Brentano auch punktuell Mitgestalter der Außenpolitik Adenauers war. Sein Anteil an dessen Leistungen ist zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Als Außenminister war er an die Kabinettsdisziplin und an die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers gebunden, hat sich also in der Regel in nüchterner Einschätzung der verfassungsmäßigen Kompetenzregelungen und aus Loyalität und politischer Einsicht dem Bundeskanzler gegenüber mit einem Image von Gefügigkeit zufrieden geben müssen, das zeitlebens an ihm haftete, obgleich es nicht voll der Wirklichkeit entsprach.

Von Brentanos Vorstellung von der europäischen Integration war der Zeit voraus, sie wurde allerdings seit den 1970er-Jahren teilweise verwirklicht. Auch seine Überlegungen zur deutsch-polnischen Versöhnung und sein Gespür für die schwerwiegenden Folgen der Teilung Deutschlands und Europas verweisen auf noble Gesinnung, die auch seine kompromisslose Ablehnung des DDR-Regimes prägte und seine Weigerung, diesem die Anerkennung zuzugestehen. Mit Blick auf 1989/90 war von Brentanos Politik wirklichkeitsnäher als die Parole „Wandel durch Annäherung“.

Adenauers und von Brentanos Plädoyer für langen Atem in der Ost- und Deutschlandpolitik bzw. deren Mahnung, dass Ungeduld in der Deutschland- und Ostpolitik ein schlechter Ratgeber sei, wurden in den kommenden Jahrzehnten nur selten widerlegt. Im Unterschied zur Mehrheit der Sozialdemokraten haben Adenauer und von Brentano stets an der Zielperspektive eines vereinten Deutschlands in einem vereinten Europa festgehalten.

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