F. Knipping u.a. (Hgg.): Aufbruch zum Europa der zweiten Generation

Cover
Titel
Aufbruch zum Europa der zweiten Generation. Die europäische Einigung 1969-1984


Herausgeber
Knipping, Franz; Schönwald, Matthias
Reihe
Europopäische und Internationale Studien 3
Anzahl Seiten
502 S.
Preis
€ 48,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Schwarz, Berlin

Der von Franz Knipping und Matthias Schönwald (beide Wuppertal) herausgegebene Sammelband bietet dem Leser 22 profunde und detaillierte Studien zu eineinhalb Jahrzehnten westeuropäischer Integration (1969 bis 1984). Alle Aufsätze basieren auf einer gründlichen Auswertung der relevanten Literatur und informieren den Nutzer umfassend und zuverlässig über Projekte und Erfolge, aber auch Rückschläge und Krisen jenes widerspruchsvollen Prozesses. In der Mehrzahl der Beiträge wird auf bisher wenig beachtete Aspekte mit einer Fülle von Einzelheiten eingegangen. Insofern kann jeder an der Thematik Interessierte wertvolle Erkenntnisse gewinnen und wichtige Anregungen für weitergehende Forschungen empfangen.

Der Band geht auf eine wissenschaftliche Tagung zurück, die im November 2001 zum Thema „Aufbruch und Krise: Die europäische Integration in den Jahren 1970 – 1984“ an der Bergischen Universität Wuppertal stattgefunden hat. Der Hauptgegenstand des Kolloquiums betraf jene Phase der westeuropäischen Integrationspolitik, die mit der Haager Regierungskonferenz vom Dezember 1969 einsetzte und in der neue Ziele gesetzt wurden, nämlich das Erreichen einer gemeinsamen Währung, einer koordinierten Außenpolitik, einer Erweiterung der Gemeinschaft um neue Mitgliedsländer und einer Verringerung des Demokratie-Defizits in der Europapolitik. Deshalb sprach Gaston Thorn 1981, seinerzeit Präsident der Kommission der EG, zu Recht vom „Europa der zweiten Generation“, um diese Ära von der „Gründer-Generation“ zu unterscheiden, die von Führungspersönlichkeiten wie Konrad Adenauer, Robert Schuman, Alcide de Gasperi u a. während der 1950er-Jahre geprägt worden war.

Jürgen Mittag und Wolfgang Wessels (Bochum/Köln) befassen sich in ihrer Studie mit den Ergebnissen und der Relevanz der beiden Gipfelkonferenzen von Den Haag (1969) und Paris (1972). Sie bezeichnen deren Beschlüsse als „Einstieg in einen schrittweisen Fusionsprozess“. Zwar sei die Tendenz einer stufenweisen Fusion bereits in den Gründungsverträgen angelegt gewesen, dennoch sei sie erst jetzt, mit der Begründung des Europäischen Rats, wirksam festgelegt worden. Die beiden Gipfelkonferenzen hätten „wesentliche Schneisen für einen weiteren Entwicklungsschub im Integrationsprozess“ geschlagen (S. 27).

Mittag und Wessels heben in ihrem Beitrag den Einfluss einiger individueller Akteure auf diesen Konferenzen besonders hervor. Die Regierungswechsel in Frankreich und der Bundesrepublik ausgangs der 1960er-Jahre hätten zu einer umfangreichen Neubesetzung von Ämtern und Ministerien geführt. Die Autoren nennen auf französischer Seite Georges Pompidou, der (in der Nachfolge Charles de Gaulles) versucht habe, das Land aus der politischen Isolation zu führen und das Vertrauen in die Pariser Europapolitik wiederherzustellen. In der Bundesrepublik hätten nach dem Regierungswechsel namentlich Willy Brandt und Walter Scheel versucht, eine eigenständigere Außenpolitik zu entwickeln, wozu außer der neuen Ostpolitik auch eine Vertiefung der Bonner Westeuropapolitik gehörte (S. 10f.).

Mehrere Verfasser untersuchen die neuen Elemente gemeinsamer oder abgestimmter Außenpolitik, die in den 1970er und 1980er-Jahren bei der Integration herausgebildet wurden. Hierzu gehörte in erster Linie die Einrichtung des Mechanismus der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). Frank R. Pfetsch (Heidelberg) widmet seinen Aufsatz diesem Aspekt und betont, die Erfolge der EPZ seien gerade auf ihren flexiblen Charakter zurückzuführen. Er hebt zutreffend hervor, dass die EPZ zunächst außerhalb des vertraglichen Gefüges der EG installiert und dann im Verlauf der weiteren Entwicklung mit dem Gemeinschafts-System verzahnt worden sei. In diesem Prozess spiegele sich das Muster der europäischen Integration wider: Die Verbindung sowohl intergouvernementaler (von einzelnen Regierungen abhängiger) als auch supranationaler (vergemeinschafteter) Elemente (S. 130).

In Ergänzung zum Grundsatzbeitrag Pfetschs untersucht Hanns Jürgen Küsters (St. Augustin) die Entwicklung der EPZ speziell aus bundesdeutscher Perspektive. Er behandelt hauptsächlich drei Fragen, nämlich, auf welchen Prinzipien die Bonner Europapolitik in jener Phase beruhte, welche westdeutschen Interessen diese Politik bestimmten und inwieweit die Bundesregierung von der anfänglichen Entwicklung der EPZ profitierte (S. 131ff.).

Zu dem überaus langwierigen Weg, den die europäische Integration auch in politischer Hinsicht zurückgelegt hat, gehört der beschwerliche und nur graduell gelungene Versuch, die Arbeit der Europäischen Kommission durch parlamentarische Gremien zu ergänzen und zugleich zu kontrollieren. Gerhard Brunn (Siegen) widmet seine Forschungen diesem Problem. Völlig zu Recht registriert er, dass die EG jener Zeit in Bezug auf einige politische Themen gewissermaßen in zwei „Blöcke“ gespalten gewesen sei. In einem „Block“ von Ländern – Bundesrepublik, Italien, Beneluxländer – habe die Auffassung vorgeherrscht, man müsse im Interesse der weltweiten Durchsetzungsfähigkeit der EG weitere Zuständigkeiten von der nationalen auf die westeuropäische Ebene verlagern und die Position des Parlaments im Zusammenspiel der Gremien stärken. In der anderen „Gruppe“ von Staaten, etwa in Großbritannien und Frankreich, habe eine europaskeptische Haltung dominiert, die von heftigen Kritiken an Plänen für größere Rechte zugunsten des Europäischen Parlaments begleitet war.

Vor allem in Frankreich warnten sowohl Gaullisten als auch Kommunisten vor einem Verlust der Souveränität des Landes. Die französischen Kommunisten polemisierten außerdem gegen die Gefahr einer bundesdeutschen Hegemonie in Westeuropa. Mit ähnlichen Argumenten kämpften einige britische Parteien, vor allem die Labour-Partei, gegen jede weitere Form einer supranationalen Vertiefung der Integration (S. 69).

Im Band werden auch zahlreiche andere Aspekte des Integrationsprozesses erörtert, vor allem solche der gemeinsamen Währung und der Erweiterung der EG. In diesem mitunter turbulenten Ringen spielten westdeutsch-französische Gegensätze oder Gemeinsamkeiten stets eine wichtige Rolle. Zu deren Charakterisierung gebrauchte Willy Brandt im Juli 1971 erstmals den heute verbreiteten Begriff einer „entente élémentaire“. Bei aller Skepsis sah er in den Beziehungen Bonn-Paris den „Nukleus aller europäischen Dinge“. Claudia Hiepel (Duisburg) befasst sich mit diesem Problemkreis unter dem Titel “Willy Brandt, Georges Pompidou und Europa. Das deutsch-französische Tandem in den Jahren 1969-1974“.

Die Autorin unterstreicht, dass in diesem Dialog mehr Kompromisse im Interesse der westeuropäischen Integration gefunden worden seien, als es die öffentliche Meinung damals wahrgenommen habe. Sie führt aus, dass aus dem Gleichklang der Interessen und Politiken beider Mächte wichtige Weichen gestellt worden seien: zur Erweiterung der Gemeinschaft um Großbritannien, Dänemark und Irland, zur Regelung des Agrarmarktes, zur Bewältigung von Währungsturbulenzen am Beginn der 1970er-Jahre und zur Schaffung des Europäischen Rates (S 46). Alles dies ist keine unwichtige Bilanz im Verhältnis zum Resümee anderer Jahrzehnte der Integration.

Ingeborg Tömmel (Osnabrück) untersucht neue Politikmuster als Katalysatoren der Integration im Zeitraum 1970 bis 1984. Hierzu analysiert sie jene Materien, die in den veränderten EWG-Vertrag aufgenommen worden sind: die Regional-, die Technologie- und die Umweltpolitik. In gewisser Weise waren dies Schritte zur Überwindung einer langen Phase der integrationspolitischen Stagnation. Zugleich unterstrich der Vorgang, dass die EG längst nicht mehr nur eine Wirtschaftsgemeinschaft darstellte, sondern auch eine politische Organisation geworden war, die sich drängenden sozialen Erfordernissen aktiv zuwandte (S. 269ff.).

Außer mehreren Aufsätzen zu auswärtigen Fragen wie dem Falkland-Konflikt im Blickfeld der EG-Interessen (Matthias Schönwald, Wuppertal), Problemen des griechischen Beitritts zur EG (Heinz-Jürgen Axt, Duisburg; Peter A. Zervakis, Bonn), des britischen Beitritts zur EG (Melissa Pine, Ottawa; Gabriele Clemens, Hamburg) wird dem spezifischen Verhältnis EG-DDR in einem gesonderten Beitrag die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Detlef Nakath (Berlin) arbeitet im Einzelnen heraus, dass der innerdeutsche Warenaustausch ein „Handel sui generis“ war. Dieser bewegte sich vor dem Hintergrund einer Art „Interessenparallelogramm“ beider deutscher Staaten. Hierbei dominierten auf der Seite des Westens politische Ziele, auf der Seite des Ostens dagegen wirtschaftliche Wünsche. Es galten DDR-Lieferungen und -Bezüge im Sinne des Gemeinschaftsrechts der EWG weder als Import noch als Export der Bundesrepublik. Damit waren sie kein Außenhandel.

Der Band ist insgesamt ein überaus materialreicher, viele Facetten der EG-Integration während der 1970er und anfangs der 1980er-Jahre beleuchtendes Werk. Es ist eine reichhaltige Fundgrube nicht nur für allgemein Interessierte, sondern auch für Forscher auf dieser „Spezialstrecke“. Naturgemäß schließen sich Wünsche an, so der nach ähnlich gearteten Bänden für die 1980er und 1990er-Jahre. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass das Bedürfnis auch nach populärwissenschaftlichen Überblickswerken zum gesamten Verlauf der Integration mit weiter Verbreitung beträchtlich ist. Hierfür weist die jüngst erschienene Publikation von Franz Knipping über die „Einigung Europas“1 einen zu begrüßenden Weg.

Anmerkung:
1 Knipping, Franz, Rom, 25. März 1957. Die Einigung Europas, München 2004.

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