Bayerlein, B. (Hg.): Moscou-Paris-Berlin

Titel
Moscou-Paris-Berlin. Télégrammes chiffrés du Komintern (1939-1941)


Herausgeber
Bayerlein, Bernhard H.; Narinski, Mikhail; Studer, Brigitte; Wolkow, Serge
Erschienen
Anzahl Seiten
614 S.
Preis
€ 21,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Die UdSSR verfolgte ihre außenpolitischen Ziele nicht nur mit diplomatischen Mitteln, sondern auch mittels auswärtiger kommunistischer Parteien - also auf der innerstaatlichen Ebene der Gegenseite. Die dazu erteilten Instruktionen liefen über die Kommunistische Internationale (Komintern), an deren Spitze in den 1930er-Jahren Georgij Dimitrov stand. Das zeigte sich in der Dreiecksbeziehung UdSSR, NS-Deutschland und den gegen dieses Krieg führenden Westmächten Großbritannien und Frankreich in der Zeit zwischen dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 und dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941. Aus den bisherigen Darstellungen der sowjetischen Haltung geht zwar hervor, dass Stalin nicht nur die polnische Beute mit dem deutschen Diktator teilte, die geheimen Zusatzprotokolle zur Annexion der baltischen Staaten und rumänischer Gebiete sowie zum Angriffskrieg gegen Finnland nutzte und bei formeller Neutralität im Krieg Hitlers gegen den Westen faktisch die französischen Kommunisten zur Parteinahme für den deutschen Aggressor veranlasste. Über die - sehr aufschlussreichen - Motive, Nuancen und Schwankungen dieser Politik jedoch war bisher kaum etwas bekannt. Daher füllt der vorliegende Dokumentenband mit der geheimen Korrespondenz der Moskauer Kominternzentrale mit den kommunistischen Parteien in Westeuropa, insbesondere in Frankreich, eine fühlbare Lücke. Soweit es sich nicht bereits um französische Originaltexte handelt, wurden die Telegramme ins Französische übersetzt.

Aus den abgedruckten Dokumenten, welche die in Moskau aufbewahrte Überlieferung vollständig wiedergeben, geht noch sehr viel eindrücklicher als aus dem vorher Bekannten hervor, dass der Hitler-Stalin-Pakt für die kommunistische Bewegung ein verstörendes Ereignis darstellte. Das ab 1935 eingeleitete politische Zusammenwirken mit den Westmächten im Zeichen des "antifaschistischen" Kampfes hatte ganz den Wünschen der auswärtigen Kommunisten entsprochen, die sich heftiger Verfolgung durch das deutsche Regime ausgesetzt sahen, im Westen dagegen zeitweilig an Regierungen beteiligt wurden. Daher war der sowjetische Kurswechsel im August 1939 für sie ein Schock, der sich noch verstärkte, als Stalin die vorsichtig geäußerte Anregung des Kominternchefs Dimitrov ablehnte, den Bruderparteien im Westen die Weiterführung der alten Politik zu gestatten. Erstmals kamen Zweifel an der Kremlpolitik auf, und es regte sich starker Widerspruch, den Moskau mit aller Mühe erst nach Wochen stoppen konnte.

Anhand von Stalin-Äußerungen vom 5. September 1939 bestätigen die Herausgeber, was bisher nur Mutmaßung war: Stalin ging es bei dem Pakt mit Hitler nicht nur um die - ihm von den westlichen Regierungen verweigerte - Ausdehnung der sowjetischen Macht. Den leitenden Kominternfunktionären Dimitrov und Manuilskij erläuterte er, es komme darauf an, die Staaten des Kapitalismus zwecks gegenseitiger Schwächung in einem Krieg zu verwickeln. Als die ärmere Seite werde Deutschland die Position der reicheren Länder, vor allem Englands, erschüttern. Damit werde Hitler ungewollt das kapitalistische System unterminieren. Zudem werde es durch die Beseitigung Polens eine bürgerlich-faschistische Regierung weniger auf der Welt geben. Es sei nichts Schlechtes daran, wenn die Ausschaltung Polens es der UdSSR erlaube, das sozialistische System auf neue Gebiete und neue Bevölkerungen zu erstrecken.

Während Stalin die - im Westen weithin überschätzte - militärische Kraft Polens richtig beurteilt hatte und daher über den raschen Zusammenbruch dieses Landes nicht erstaunt war, trafen ihn die raschen Siege der Wehrmacht im Westen vom Frühjahr 1940 unvorbereitet. Er hatte stattdessen mit lange andauernden Kämpfen gerechnet und sah sich daher mit einer unerwarteten Lage konfrontiert. Seine Reaktion darauf entsprach, wie die in dem Band wiedergegebenen Telegramme an die Westparteien erstmals zeigen, nicht dem Bild, das man sich bislang gemacht hat. Er hoffte zunächst auf ein Arrangement, das die deutschen Besatzungsbehörden zu einer Duldung gewisser kommunistischer Aktivitäten, namentlich zur Genehmigung von Pressearbeit, veranlassen werde. Für diesen Fall war er bereit, auf die Chance zu verzichten, die für die Kommunisten in der Einreihung in eine überparteiliche Front des nationalen Widerstandes lag. Unter dieser Voraussetzung sollten die Bruderparteien im Westen alle gegen die Okkupanten gerichteten Schritte unterlassen und die deutsche Politik uneingeschränkt unterstützen.

Neu ist auch, dass Stalin nach dem Scheitern des Versuchs umsteuerte - freilich mit äußerster Vorsicht, um Hitler angesichts seiner Machtposition nicht herauszufordern und die 1939 mit ihm begonnene Zusammenarbeit nicht zu gefährden. Die Kommunisten in den besetzten Ländern sollten sich nunmehr den patriotischen Widerstandskräften annähern, die Kooperation mit ihnen suchen und sich so ein nationales Image geben, ohne indessen damit die Aufmerksamkeit der Deutschen auf sich zu ziehen und/oder ein unwiderrufliches Engagement einzugehen. Sogar die Moral und den Zusammenhalt der Besatzungstruppen sollten sie zu unterminieren suchen, soweit dies ohne Aufdeckung ihrer Initiative möglich war. Anders als man bisher glaubte, hatte Stalin damit schon im Herbst 1940 - also lange vor dem Überfall auf die Sowjetunion - einen wichtigen antideutschen Schwenk auf der "gesellschaftlichen" Ebene vollzogen, der deutlich mit seiner Beschwichtigungspolitik im zwischenstaatlichen Bereich kontrastierte. Die seit dem 22. Juni 1941 einsetzende volle Eingliederung der Kommunisten in die Résistance-Bewegung wurde durch diese Zwischenphase vorbereitet und erleichtert.

Der Dokumentenband ist sorgfältig ediert, sachkundig eingeleitet und kommentiert. Die darin enthaltenen dechiffrierten Kominterntelegramme aus dem Russischen Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte (RGASPI) in Moskau ergänzen die Feststellungen der bisherigen historischen Forschung in wichtigen Punkten. Nachdem bislang die Politik, mit der Stalin zum Entstehen des Zweiten Weltkrieges und zu dessen Verlauf bis 1941 beigetragen hat, wesentlich nur auf Grund des von außen her erkennbaren Verhaltens und publizistischer sowjetischer Quellen beurteilt werden konnte, entsteht nun aus der Innensicht heraus ein sehr viel klareres, differenzierteres Bild, das insbesondere auch das zeitweilig abweichende Vorgehen auf der durch den Einsatz der Kommunisten im Westen gegebenen Handlungsebnen deutlich macht.

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