Cover
Titel
Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte


Autor(en)
Steinbacher, Sybille
Reihe
Beck'sche Reihe 2333
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
128 S., 1 Abb., 5 Kart. & Pl.
Preis
€ 7,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Owzar, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Wie kein anderer Ort ist Auschwitz zu einem Synonym für die nationalsozialistische Terrorpolitik geworden. Mit Majdanek teilt die Stadt das Schicksal, sowohl ein Konzentrations- als auch ein Vernichtungslager beherbergt zu haben. Mindestens 1,1, möglicherweise sogar anderthalb Millionen Menschen wurden in Auschwitz ermordet, vor allem europäische Juden, aber auch nichtjüdische Polen, Sinti und Roma. Mit Monowitz und seinen Nebenlagern befand sich hier zudem „das erste von einem Privatunternehmen initiierte und finanzierte Konzentrationslager“ (S. 43). Jenseits dieses dreiteiligen Lagerkomplexes sollte in Auschwitz eine deutsche Musterstadt entstehen. Auf den Reißbrettern nationalsozialistischer Visionäre avancierte die Stadt „zum Ideal ökonomischer Erschließung und rassischer Auslese, zum Zukunftsmodell der deutschen Herrschaft im eroberten Land“ (S. 51). Kurzum: an keinem anderen Ort manifestierte sich die symbiotische Verbindung zwischen Lebensraum und Vernichtung deutlicher als in dieser im deutsch-polnischen Grenzgebiet gelegenen Stadt. Dies rechtfertigt es, Auschwitz eine Überblicksdarstellung in einer Reihe (C. H. Beck Wissen) zu widmen, deren historische Veröffentlichungen in der Regel größere Epochen behandeln, zumal über Auschwitz noch immer keine Monografie erschienen ist.

Die Verfasserin, die an der Universität Bochum arbeitende Historikerin Sybille Steinbacher, holt weit aus: Sie beginnt mit der mittelalterlichen Ostkolonisation und führt den Leser auf wenigen Seiten durch die Jahrhunderte, in denen Katholiken und Juden in Auschwitz friedlich neben- und auch miteinander lebten, bis ins Kriegsjahr 1939, in dem das Grauen seinen Ausgang nahm. Im zweiten Kapitel schildert sie den 1940 in Angriff genommenen Aufbau und Ausbau des Konzentrationslagers und verortet Auschwitz im nationalsozialistischen Lagersystem. Besonderes Gewicht legt sie auf die Behandlung der Häftlinge, unter denen sich zunächst vor allem politische Häftlinge befanden, insbesondere Mitglieder der polnischen Parteien und Angehörige der polnischen Intelligenz. Juden gab es hier vorerst nur wenige. Schließlich war das Lager nicht von Beginn an als Zentrum des Massenmordes an den europäischen Juden konzipiert worden. Einfühlsam beschreibt Steinbacher den Alltag der Häftlinge, wobei sie zutreffend darauf hinweist, dass sich „das individuelle Leid eines Häftlings [...] kaum in Worte fassen“ lässt (S. 27). Angesichts dieser Problematik erweist es sich als gelungenes Stilmittel, dass Steinbacher an den Beginn des Buches Auszüge aus drei Erinnerungsberichten gestellt hat. Anschaulich wird darin beschrieben, was Menschen von Menschen in Auschwitz erdulden mussten. Dabei versäumt es die Verfasserin nicht, auch die Konkurrenzsituation der Häftlinge untereinander zu thematisieren. Denn was Lutz Niethammer für das KZ Buchenwald eindrucksvoll hat belegen können 1, galt auch für Auschwitz: Die Lagerinsassen bildeten keineswegs „eine homogene ‚Häftlingsgemeinschaft‘, zu unterschiedlich waren nationale Herkunft, soziale, politische und religiöse Prägungen“ (S. 30). Gleichzeitig fanden sich in der polnischen Bevölkerung immer wieder Menschen, die trotz hohen Risikos und drakonischer Strafen das Wagnis auf sich nahmen, den KZ-Insassen zu helfen. Selbst in einem Gebiet, in dem die Besatzer extreme Kontroll- und Strafmaßnahmen anwandten, ließ sich die Bevölkerung „nicht atomisieren“ (S. 33), so Steinbachers Fazit. Angesichts der vielfältigen Denk- und Verhaltensweisen, die uns im besetzten Polen begegnen, mag dieser Befund irritieren. Wissen wir doch nicht erst seit der Jedwabne-Debatte 2 um das ambivalente, teils positive, teils gleichgültige, teils von starkem Antisemitismus geprägte Verhältnis der nicht-jüdischen Polen zum polnischen Judentum. 3

Insgesamt waren es rund 7.000 SS-Leute, die bis zum Kriegsende ihren Dienst in Auschwitz verrichteten. Keineswegs handelte es sich dabei nur um pathologische Fälle. Auch von einer kollektiven Bewusstseinsspaltung der SS-Leute, die sich nach ihrem Morden in den häuslichen Frieden ihrer Familien zurückzogen, kann kaum die Rede sein. Im Gegenteil: Steinbacher beschreibt plausibel, wie „das beharrlich gepflegte Familienidyll das Töten im Lager“ beförderte (S. 36), indem es den SS-Männern die nötige psychische Stabilität verlieh, das Morden durchzuhalten. Handelten diese Vollstrecker oftmals aus ideologischen Motiven, so standen bei den Managern und Technikern der IG-Farben vor allem ökonomische Interessen und opportunistisches Zweckdenken im Vordergrund. Im dritten Kapitel beschreibt Steinbacher, wie sich das Privatunternehmen in Auschwitz etablierte und wie die Konzernmanager „als Erfüllungsgehilfen des Regimes, aber auch in bemerkenswerter Eigeninitiative“ ihren Wirtschaftsauftrag und ihren Beitrag zur ‚Eindeutschung‘ des Ostens lieferten (S. 40). Unmissverständlich macht sie dabei klar, dass der Arbeitseinsatz „nicht die Antithese der Vernichtung, sondern die Brücke zum Massenmord“ bildete (S. 50). Denn angesichts des nicht abreißenden Nachschubs einsatzfähiger Zwangsarbeiter brauchte man auf die Gesundheit der Ausgebeuteten keine Rücksicht zu nehmen. Mithin führte der Arbeitseinsatz mittelfristig ebenso zur Vernichtung wie der Mord in den Gaskammern oder durch Erschießung.

Ausführlich beschreibt Steinbacher im fünften und sechsten Kapitel die „Endlösung der Judenfrage“: den Entscheidungsprozess, den Aufbau des Vernichtungslagers Birkenau, die Einrichtungen und die Techniken des Massenmordes. Dabei gelingt es ihr, auf wenigen Seiten die wichtigsten Aspekte zu thematisieren, ohne dass dies auf Kosten der Komplexität geschieht. In Übereinstimmung mit neueren Darstellungen zur Vernichtungspolitik 4 geht Steinbacher davon aus, dass es nicht einen einzigen Befehl Hitlers gegeben habe, sondern dass der Plan zur systematischen Ermordung das Ergebnis eines langen Entscheidungsprozesses gewesen sei, „der vermutlich im Herbst 1941 konkretisiert und dessen Umsetzung dann stufenweise in Gang gesetzt und ab Frühsommer 1942 systematisch vollzogen wurde“ (S. 66). Ohne die zentrale Rolle Hitlers „als oberste moralische und politische Legitimationsinstanz“ (S. 66) in Frage zu stellen, integriert die Verfasserin in ihr Erklärungsmodell auf diese Weise Hans Mommsens in den letzten Jahren zusehends in den Hintergrund getretene These einer „kumulativen Radikalisierung“ des Vernichtungsprozesses. 5 Steinbachers Fazit: „Die Eigeninitiativen nachgeordneter Organe und der Verwaltungsperfektionismus der Berliner Zentrale verschmolzen am Ende zum verbrecherischen Vernichtungsprogramm.“ (S. 66)

Über diese Ausführungen verliert Steinbacher die Opfer nicht aus dem Blick. Anschaulich beschreibt sie deren Alltag bis zu den 1944 einsetzenden Todesmärschen und behandelt den Aufstand des Sonderkommandos. Auch die Angaben zur Gesamtzahl der Opfer diskutiert sie. Denn noch immer schwanken die Angaben zwischen 5,3 und 6,1 Millionen. Was wussten die nichtjüdischen Deutschen von all dem? Mehr als 6.000 Reichsdeutsche hatten bis Oktober 1943 ihren Wohnsitz nach Auschwitz verlegt: Beamte, Gewerbetreibende und Unternehmer, Arbeiter und Angestellte. An dem Lager scheinen sie sich nicht gestört zu haben. Getrieben von Pioniergeist und Geschäftstüchtigkeit wollten sie ihr Glück machen in einer Stadt, die man zum „Bollwerk des Deutschtums im Osten“ (S. 51) auserkoren hatte. Wahnwitzig muten die städtebaulichen Zukunftspläne an, die man für Auschwitz entworfen hatte. Dass man dafür einen Großteil der polnischen Bevölkerung deportiert oder eingesperrt hatte, daran nahm man ebenso wenig Anstoß wie an der Existenz des Vernichtungslagers, das „offensichtlich weder ästhetisch noch politisch als Störfaktor“ wirkte (S. 54). Es ist nicht auszuschließen, dass viele unter ihnen von den grausigen Einzelheiten nichts wissen wollten: „Dunkle Ahnungen wurden von Alltagssorgen und privaten Angelegenheiten in den Hintergrund gedrängt.“ (S. 62f.) Das gilt wohl auch für die zahlreichen Eisenbahner, die Zeugen der Selektionen wurden.

Der Indifferenz, mit der weite Teile der einheimischen Bevölkerung auf die Gerüchte um das Mordgeschehen reagierten, entsprach eine gewisse Zurückhaltung im nichtbesetzten Ausland, diesen Aspekt reißt Steinbacher im siebten Kapitel an (allerdings ohne die zum Teil kontrovers diskutierten Motive der Alliierten herauszuarbeiten). Obwohl die polnische Exilregierung dank eines blitzschnell arbeitenden Nachrichtennetzes vor Ort schon im Juli 1942 über Vergasungsexperimente berichtet und die BBC London im Herbst 1943 die Weltöffentlichkeit über die Verbrechen informiert hatte, verhielten sich die Alliierten eher zurückhaltend. Dabei lag Auschwitz seit der Errichtung eines Luftstützpunktes im italienischen Foggia Anfang 1944 nicht mehr außerhalb der Reichweite alliierter Bomber. So mussten die Überlebenden auf die Rote Armee hoffen, die das Lager schließlich am 27. Januar 1945 befreiten.

Ein Jahr später sollten die Sowjets den größten Teil des ehemaligen KZ, das bis dahin u.a. vom NKWD als Internierungslager genutzt worden war, an die polnische Verwaltung übergeben. Schon im Juli 1947 wurde hier eine staatliche Gedenkstätte mit Ausstellungen, Archiv und Bibliothek errichtet. Leider erfährt der Leser in diesem Zusammenhang nichts über den Stellenwert, den Auschwitz im kollektiven Gedächtnis der Polen einnimmt, auch nichts über die damit einhergehenden Kontroversen. Schließlich gibt es noch heute signifikante Unterschiede zwischen der polnischen und der (west- bzw. ost)deutschen Behandlung des Themas. 6 Stattdessen konzentriert sich die Verfasserin auf den strafrechtlichen Umgang. Ausführlich beschreibt sie, wie polnische und alliierte Stellen daran gingen, diejenigen SS-Angehörigen, derer man habhaft geworden war, vor Gericht zu stellen. Und wie der Verfolgungsdruck erheblich nachließ, „als die Ermittlung von NS-Tätern Sache der Justizbehörden der neu gegründeten Bundesrepublik wurde“ (S. 111). Nicht nur die Lager-Ärzte mussten kaum noch mit einer Anklage rechnen. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges kamen auch die deutschen Industriellen, die für die wirtschaftliche und rüstungstechnische Sicherung Westeuropa als unentbehrlich eingestuft wurden, glimpflich davon. Erst seit Anfang der 1960er-Jahre, nicht zuletzt infolge des Auschwitz-Prozesses, setzte in Westdeutschland ein Umdenken ein. Längst ist seither die Tabuisierung der konsequenten Aufarbeitung gewichen. Angesichts dessen spielt das von Steinbacher in ihrem Schlusskapitel thematisierte Häuflein radikaler Revisionisten und Negationisten, das sich nach wie vor am Leugnen des Holocaust versucht, kaum noch eine Rolle.

So vielfältig die mit Auschwitz verbundenen Aspekte auch sind: die Verfasserin behandelt sie durchweg in einer sachlichen, wissenschaftlich exakten Sprache. Nur ganz selten bedient sie sich missverständlicher Formulierungen, etwa wenn sie gleich zu Beginn des Buches suggeriert, es habe seit dem 13. Jahrhundert eine Kontinuität deutschen Expansionismus gegeben, der mit der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik seine ‚Vollendung‘ gefunden habe (S. 9) – immerhin wird das in Anführungsstriche gesetzt und auf der folgenden Seite richtig gestellt. Insgesamt jedenfalls handelt es sich um eine dem komplexen Thema sprachlich wie inhaltlich vollauf gerecht werdende Darstellung. Das einzige wirklich schwerwiegende Manko hat nicht die Verfasserin zu verantworten, sondern der Verlag. Denn die Reihe C.H. Beck Wissen verzichtet grundsätzlich auf Anmerkungen. Damit aber stellt sich die Frage nach dem Adressatenkreis der Reihe. Denn wer sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit, auch einer akademischen Abschlussarbeit, mit Auschwitz beschäftigt, der wird auf andere Studien zurückgreifen müssen, um die zahlreichen von Steinbacher aufgebotenen Fakten stichhaltig zu belegen. Insofern ist der Nutzen der Darstellung begrenzt, sie richtet sich ausschließlich an solche Leser, die sich erstmals in das Thema einarbeiten wollen. Diesem Zweck wird das Buch durchaus gerecht. Steinbacher hat es geschafft, fast sämtliche Aspekte auf knappem Raum angemessen zu behandeln. Allerdings muss auch sie ein gewisses Vorwissen voraussetzen. Wer nichts über die zumindest in Detailfragen auch heute noch geführte Debatte zwischen Strukturalisten und Intentionalisten weiß, der wird ihre sachkundigen und ausgewogenen Ausführungen zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik (S. 63-69) kaum angemessen nachvollziehen können, zumal der Verweis auf einige aktuelle Forschungsberichte auch in der ansonsten kompetent zusammengestellten Auswahlbibliografie am Ende des Bandes (S. 123-126) fehlt 7. Ein knapp gehaltener Fuß- oder Endnotenapparat hätte den Text mithin nicht belastet, sondern ihn vielmehr bereichert und auch für Erstsemester (denen wissenschaftliches Arbeiten durchaus zuzutrauen ist) nützlicher gemacht. Die Furcht vor einem Zuviel an Wissenschaftlichkeit, eine Furcht, die neuerdings immer mehr Verlage umherzutreiben scheint, bereitet dem wissbegierigen Leser nicht nur unnötiges Recherchieren und Blättern, sie unterschätzt ihn auch.

Anmerkungen:
1 Siehe: Niethammer, Lutz (Hg.), Der ‚gesäuberte‘ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald. Dokumente, u. Mitarb. von Hartewig, Karin; Stein, Harry; Wannemacher, Leonie, eingel. von K. H. und L. N., Berlin 1994.
2 Zur Debatte um das im Mai 2000 auf polnisch und ein Jahr später auf deutsch veröffentlichte Buch des amerikanischen Soziologen Gross, Jan Tomasz, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, mit einem Vorwort von Adam Michnik, München 2001, siehe u.a. Borodziej, Wlodzimierz, Abschied von der Martyrologie in Polen? In: Sabrow, Martin; Jessen, Ralph; Große Kracht, Klaus (Hgg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003, S. 288-305.
3 Siehe etwa Hilberg, Raul, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945, Frankfurt am Main 1992, S. 224-230.
4 Vgl. etwa Longerich, Peter, Der ungeschriebene Befehl. Hitler und der Weg zur „Endlösung“, München 2001.
5 Mommsen, Hans, Die Realisierung des Utopischen. Die „Endlösung der Judenfrage“ im „Dritten Reich“, in: Geschichte und Gesellschaft (1983), S. 381-420, hier S. 399.
6 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Kritik Hartmut Ziesings, dass Steinbacher die Wirkungsgeschichte von Auschwitz unzulässig verkürze <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-029>.
7 Etwa auf Kershaw, Ian, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek 2001; Pohl, Dieter, Die Holocaust-Forschung und Goldhagens Thesen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45 (1997), S. 1-48.

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