P. Collmer: Schweiz und Russisches Reich 1848-1919

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Titel
Die Schweiz und das Russische Reich 1848–1919. Geschichte einer europäischen Verflechtung


Autor(en)
Collmer, Peter
Reihe
Die Schweiz und der Osten Europas 10
Erschienen
Zürich 2004: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
650
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carmen Scheide, Historisches Seminar, Universität Basel

Nach den Napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress sah sich Russland als ein Garant der Schweizer Unabhängigkeit. Der Eidgenossenschaft wurde seit November 1815 ewige Neutralität und territoriale Integrität zugestanden, auch, um innerhalb Europas eine „friedvolle europäische Mitte“ (S. 13) zu bilden. Deshalb bedeutete die Gründung eines liberalen schweizerischen Bundesstaates nach einem kurzen Bürgerkrieg 1847/48 für die Unterzeichner der Wiener Verträge eine diplomatische Herausforderung, zumal das Russische Reich unter Nikolaus I. bis zu seinem Tod 1855 als ein Bollwerk gegen revolutionäre Umtriebe galt. Obwohl die beiden Staatswesen sich deutlich voneinander unterschieden, gab es doch bis zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch die Schweiz zu Beginn der 1920er Jahre eine reichhaltige Beziehungsgeschichte, die nun im vorliegenden Standardwerk gründlich aufgearbeitet wurde. Die vorliegende Arbeit beruht auf einer intensiven Archivrecherche im Schweizer Bundesarchiv in Bern und in den beiden Archiven des Außenministeriums der Russischen Föderation in Moskau. Peter Collmer hat zahlreiche Dokumente ausgewertet und gibt besonders in den Fußnoten wertvolle Verweise auf weitere Forschungsdesiderate und Themen.

Wegweisend nennt Peter Collmer seinen Untertitel „Geschichte einer europäischen Verflechtung“, der auf dem gelungenen Versuch beruht, eine Brücke zwischen den beiden eher selten verknüpften historischen Gebieten Osteuropäische und Schweizer Geschichte zu schlagen. Diese programmatische Benennung bietet eine Perspektive für eine erweiterte europäische Geschichte.

In vier Kapiteln untersucht der Züricher Historiker die staatlichen Beziehungen zwischen Russland und der Schweiz in den Jahren 1848 bis 1919. Die Beziehungsgeschichte der beiden Staaten bettet er in die jeweiligen außenpolitischen Grundzüge, die diplomatischen Beziehungen und Institutionen sowie gegenseitige Wahrnehmungen in chronologischer Folge ein. Mit einem mikrohistorischen Blick fokussiert Peter Collmer besondere Ereignisse, wichtige Personen oder Fallbeispiele, die den Umgang der beiden Staaten miteinander im Spannungsfeld des jeweiligen unterschiedlichen Selbstverständnisses beleuchten. Dabei bietet er insgesamt nicht nur einen guten Überblick, sondern auch zahlreiche Anregungen für weitere Themen.
Während das Russische Reich seit Peter dem Grossen eine imperiale Großmachtpolitik verfolgte, kultivierte die Schweiz eine selbstgenügsame Kleinstaatlichkeit. Angesichts dieser Asymmetrie stellt sich die Frage, welches Interesse und welche Beziehungen es zwischen diesen ungleichen Staatswesen gab.

Nach 1848 mussten die einzelnen Schweizer Kantone zu einer gemeinsamen, zentral ausgeführten Außenpolitik übergehen. Obwohl bei der Umsetzung einer gemeinsamen Politik durchaus Reibungsverluste entstanden, war es Konsens, die Außenpolitik inhaltlich und institutionell auf ein Mindestmaß zu beschränken. Viele in Russland tätige Schweizer Konsule erhielten kein oder nur geringfügige Gelder für ihre Tätigkeiten zur Verfügung gestellt.
Angesichts der Wirtschaftskrise um 1873 gab es verstärkte politische Bemühungen, die Schweizer Auslandsvertretungen für den Handel zu stärken. Exportiert wurden Uhren, Textilien, Maschinen, Schokolade, Schmuck sowie Chemikalien. Die Importe aus Russland in die Schweiz wie Öl, Metalle, Hanf, Getreide oder Rohstoffe waren aber größer.
Durch die Wahrung ihrer Neutralität und die geographische Lage im Zentrum Europas wuchs die Schweiz in die Rolle eines Vermittlers in internationalen Koordinations- und Vertragsfragen, was zu ihrem noch heute bestehenden Renomée führte.

Im Russischen Reich lebten zahlreiche Schweizer Auswanderer – bekannt sind die Käser oder Gouvernanten – deren Interessen durch verschiedene Konsulate vertreten werden sollten. Für Schweizer Unternehmer war Russland ein wichtiger Handelspartner und Absatzmarkt. Der Niederlassungs- und (Handels-)Vertrag von 1872 gewährte eine gegenseitige Niederlassungs-, Handels- und Gewerbefreiheit.

Das Interesse Russlands an der Schweiz war vergleichsweise gering. Die prominente Rolle Alexanders I. und der Sieg über Frankreich bildeten eine historische Grundlage der staatlichen Beziehungen, zudem sah Russland die neutrale Schweiz als einen guten Standort für seine Präsenz in Europa. Kamen zunächst russische Adelige als Touristen in die Schweiz, so stieg seit den 1860er Jahren die Zahl der politischen Emigranten. Unter ihnen befanden sich prominente Namen wie Alexander Herzen, Petr A. Kropotkin, der nach der Ermordung Alexander II. 1881 aus der Schweiz ausgewiesen wurde, Angelina Balabanova und zahlreiche spätere Bolševiki, unter ihnen Aleksandra Kollontaj oder Lenin. Sie zogen die Aufmerksamkeit nicht nur der russischen Diplomaten, sondern auch von speziell entsandten Geheimagenten auf sich. Ihr Status und ihre Tätigkeiten im Gastland stellten in den bilateralen Beziehungen einen Konfliktpunkt dar. Peter Collmer führt dazu einige neue Fallbeispiele an.

Bis zum Ersten Weltkrieg durften Ausländer, solange sie nicht straffällig oder unterstützungsbedürftig waren, relativ problemlos in der Schweiz bleiben. Frauen konnten früher als in anderen europäischen Ländern eine Hochschule besuchen, zudem gewährte die liberale Schweiz Freiheitsrechte, die im autokratischen Zarenreich nicht denkbar waren. Die Schweiz war also eine attraktive Zuflucht für politisch Unterdrückte und Verfolgte, was immer wieder zu Kritik der Nachbarmächte führte. Die russische Gesandtschaft drang deshalb verstärkt auf eine normierte Asylpraxis für zarische Untertanen in der Schweiz. 1904 vereinbarten nach einer sogenannten Anarchismuskonferenz zahlreiche Staaten Europas Maßnahmen. Erst zwei Jahre befürwortete die Schweiz ein verschärftes Antianarchismuskonzept. „Zwischen legitimer politischer Aktion und gemeiner Kriminalität auf der einen sowie innen- und außenpolitischen Interessen auf der anderen Seite vollzog sich also die zunehmend restriktive Normierung des schweizerischen Asyls.“ (S. 339)

Einen breiten Raum nimmt im letzten Teil des Buches der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Beginn der 1920er Jahre ein. Dieser Teil liest sich wie ein historischer Krimi und zeigt einen schwierigen Prozess auf, in dem es nicht nur um die Beziehungen zwischen Russland und der Schweiz ging, sondern um die Einbettung in Europa und das eigene Staatsverständnis.

Nach der Februarrevolution 1917 wurden neue russische Gesandte in die Schweiz geschickt, jedoch brach nun eine Zeit des Chaos an, da es zeitweise nicht klar war, wer nun offiziell Russland repräsentierte und welche Politik vertrat. Deshalb reagierten die Schweizer Behörden zurückhaltend und anerkannten die neuen Regierungen nicht ohne weiteres. Da diplomatische Beziehungen in der Regel spiegelbildlich funktionieren, musste die Schweiz aber auch ihre Interessen wahren. Konkret bedeutete dies, nicht die Ausweisung Schweizer Diplomaten aus Russland zu provozieren, die sich um die dort leben Schweizer kümmern mussten.

Der Konflikt eskalierte angesichts des Schweizerischen Landesstreiks 1918, der in einer breiten Öffentlichkeit als Produkt geheimer russisch-bolschewistischer Agitation betrachtet wurde. Peter Collmer argumentiert mit Detailkenntnissen aus den Archivakten gegen diese „Konspirationsthese“, die dennoch zu einer Ausweisung der Sowjetmission aus der Schweiz führte. Im Hintergrund befürchteten die Bundesbehörden, Lenin und Trockij könnten nach einem möglichen Misserfolg in Russland politische Zuflucht in der Schweiz suchen. Am 14.11.1918 musste die Sowjetmission aus der Schweiz ausreisen, im Gegenzug wurde die Schweizer Gesandtschaft in Petrograd geschlossen.

„Die schweizerische Wahrnehmung der Oktoberrevolution lässt sich in verschiedener Hinsicht mit der zarischen Perzeption der Revolutionen um 1848 und der schweizerischen Bundesgründung verglichen. Angst und Abscheu vor dem vermeintlichen Chaos finden sich hier wie dort, die Kriminalisierung und Pathologisierung des Neuen durch das diplomatische Establishment sowie die Prognose eines baldigen elendiglichen Untergangs ebenfalls, und in beiden Fällen wurde der überkommene diskursive Gegensatz zwischen Russland und Europa als Deutungsrahmen evoziert und erneuert.“ (S. 569)

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