J. Jackson: The Fall of France and the Nazi Invasion of 1940

Cover
Titel
The Fall of France. The Nazi Invasion of 1940


Autor(en)
Jackson, Julian
Erschienen
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
$14.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Wirsching, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg

Das hier zu besprechende Buch behandelt ein Thema, bei dem sich Zeitzeugenschaft, Schuldzuschreibungen und frühes historisches Urteil besonders eng miteinander verschränken. Der Auseinandersetzung um die britische Appeasement-Politik vergleichbar, haben der „drôle de guerre“ und der spektakuläre Zusammenbruch Frankreichs im Jahre 1940 seit jeher die Frage nach dem Warum ebenso nachhaltig aufgeworfen wie diejenige nach den Verantwortlichen. War die Niederlage dem persönlichen Versagen der militärischen und politischen Führung zuzuschreiben? Oder besaß sie längerfristige kollektive und in der Geschichte der Dritten Republik angelegte Ursachen? Unmittelbar nach 1940 stand die Suche nach Sündenböcken und moralischen Verfallsursachen im Vordergrund. Und bis in die 1970er-Jahre hinein dominierte eine Deutung, die Frankreichs Niederlage als mehr oder minder zwangsläufige Folge einer umfassenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen „Dekadenz“ betrachtete, das Jahr 1940 also in die Kontinuität der dreißiger Jahre stellte. Marksteine in dieser Richtung waren etwa William Shirers populäre Darstellung über den Zusammenbruch der Dritten Republik1 und Jean-Baptiste Duroselles große Analyse der französischen Außenpolitik während der 1930er-Jahre mit dem leitmotivischen Titel „La décadence“.2 Jackson, ein exzellenter Kenner der französischen Geschichte der 1930er und 1940er-Jahre 3, schreibt seine Version des Dramas der Dritten Republik in bewusster Distanzierung von den Konflikten der Mitlebenden und widmet sich seinem Thema sine ira et studio, fern von Klängen der Polemik und der Anklage. So neu, wie er es suggeriert (S. 4), ist dies freilich nicht. Vieles, ja das meiste des hier Ausgebreiteten ist aus einer ebenso umfassenden wie eingehenden Forschung bekannt, an der sich auch deutsche Autoren maßgeblich beteiligt haben.4

Die Vorzüge des Buches liegen in der konzisen und farbigen Darstellungsweise. Weitaus den größten Umfang nimmt der erste Teil – die „Story“ – ein, in der das dramatische Geschehen in einer phasenweise geradezu spannenden Erzählform entfaltet wird. In vier Kapiteln erläutert Jackson jeweils den militärischen Ablauf des Jahres 1940, die komplizierte und problematische bündnispolitische Lage im Hinblick auf Großbritannien und Belgien, die politische Vor- und Problemgeschichte der Dritten Republik, schließlich die Stimmung und Erfahrungsdimension der französischen Bevölkerung. Ein zweiter, weitaus weniger umfangreicher Teil wendet sich den „Gründen“ und „Konsequenzen“ der Niederlage zu. Auch wenn diese konzeptionelle Trennung zwischen historischer „Erzählung“ des französischen Zusammenbruchs und der Analyse seiner „Gründe“ eher artifiziell wirkt, so enthält das Buch doch eine Vielzahl interessanter Überlegungen. Stets ausgewogen und differenziert argumentierend, thematisiert Jackson die wichtigsten historiografischen Streitfragen. Der viel um- und bestrittenen Kompetenz der französischen militärischen Führung um Gamelin stellt auch er insgesamt kein positives Zeugnis aus. Bedeutsamer aber war die schwierige bündnispolitische Situation mit Großbritannien. Was für die gesamten 1930er-Jahre galt, so lassen sich Jacksons Ausführungen zusammenfassen, bestätigte sich 1940: Gemeinsam wären Großbritannien und Frankreich zuerst politisch, dann auch militärisch stark genug gewesen, das nationalsozialistische Deutschland in die Schranken zu weisen. Aber die komplizierte und durch viele Animositäten gekennzeichnete Geschichte des französisch-britischen Bündnisses setzte 1940 eine Kette von Unentschlossenheit und mangelnder Kommunikation, von Missverständnissen und Misstrauen frei, die eine kraftvoll koordinierte Kriegführung verhinderte. Hier würde man sich freilich wünschen, dass die langfristigen, in der gegensätzlichen Interessenstruktur beider Länder begründeten Gegensätze stärker herausgearbeitet würden. Stattdessen überwiegt eine Erzählung der Ereignisse, die gelegentlich auch die anekdotischen oder gar karikaturhaften Züge der französischen Kriegführung hervorhebt.

Im Hinblick auf die seit jeher stark umstrittene Frage, inwieweit die Niederlage durch die Entwicklung der französischen Politik und Gesellschaft während der dreißiger Jahre vorbereitet wurde, bezieht Jackson eine vermittelnde Position. So betont er im Einklang mit der neueren Forschung, dass unter der Regierung Daladier 1938/39 eine deutliche wirtschaftliche Erholung und politische Konsolidierung Frankreichs eintrat. Andererseits warnt er zu Recht davor, von hier aus den inneren Zusammenhalt der französischen Gesellschaft zu überschätzen, und weist darauf hin, dass Daladiers „public image of earthy solidity“ auch den Charakter einer „Fassade“ besaß (S. 119).

Ohne die krisenhaften Aspekte in der französischen Geschichte der 1930er-Jahre zu leugnen, knüpft Jackson doch teilweise und zumindest implizit an jene „revisionistischen“ Autoren der jüngeren Zeit an, welche die These eines linearen Niedergangs der Dritten Republik zurückweisen und infolgedessen die kurzfristigen oder gar kontingenten Faktoren des Jahres 1940 betonen. Ein Schwergewicht seiner Darstellung liegt folgerichtig auf der militärischen und bündnispolitischen Entwicklung im Mai und Juni 1940. Gamelins Fehleinschätzungen, später auch diejenigen seines Nachfolgers Weygand, die mangelhafte Koordination der französischen Streitkräfte und – vor allem – die Fehlleistungen des militärischen Nachrichtendienstes bewirkten demzufolge gemeinsam, dass die Deutschen ihren wichtigsten Trumpf ausspielen konnten: die gelungene Überraschung (S. 219). Zwar unternimmt Jackson immer wieder erhellende und ertragreiche Rückblicke auf die 1930er-Jahre, in denen er etwa die mangelnde Modernisierung der französischen Armee, die schweren französisch-britischen Differenzen oder die inneren politischen Gegensätze in den Blick nimmt. Aber die Situation des Jahres 1940 erscheint bei ihm doch immer offen. Frankreich sei 1939 besser für den Krieg gerüstet gewesen als 1914, und wäre mehr Zeit zur Adaption an den Krieg geblieben, so wäre auch das Ergebnis nicht unbedingt eindeutig gewesen. In diesem Zusammenhang gewinnt die von Jackson affirmativ vorgetragene These des kanadischen Historikers Talbot Imlay Gewicht, wonach die entscheidende Demoralisierung in der französischen Gesellschaft wie auch in der Armee keineswegs das unausweichliche Resultat einer „Dekadenz“ während der 1930er-Jahre gewesen sei, sondern die Frucht des „Phoney War“ von September 1939 bis Mai 1940.5 In dieser Phase hätten es die französischen Politiker von Daladier bis Reynaud nicht vermocht, ihre Möglichkeiten zu nutzen und einen nationalen Konsens – ähnlich dem von 1914 – zu schaffen.

Eine monokausale Antwort auf die Frage nach der Wirkung langfristiger Ursachen und ihrem konkreten Mischungsverhältnis mit kurzfristigen Faktoren ist freilich nicht zu geben. Und welche unterschiedlichen Wirkungen der Zusammenbruch Frankreichs auf das Selbstverständnis und den Deutungshorizont des mitlebenden Historikers ausüben konnte, illustriert symbolhaft die Reaktion der beiden „Annales“-Protagonisten Marc Bloch und Fernand Braudel: Während Bloch sich unter dem überwältigenden Eindruck der Ereignisse zur Niederschrift seiner eigenen Analyse der „seltsamen Niederlage“ herausgefordert sah, wandte sich Braudel in deutscher Gefangenschaft dezidiert von den „événements“ ab und schrieb aus dem Gedächtnis sein Meisterwerk über das Mittelmeer zur Zeit Philipps II. von Spanien.

Anmerkungen:
1 Shirer, William L., The Collapse of the Third Republic. An Inquiry into the Fall of France in 1940, New York 1969.
2 Duroselle, Jean-Baptiste, La décadence: 1932-1939. Politique étrangère de la France, Paris 1979.
3 Zuletzt Jackson, Julian, France. The Dark Years, 1940 – 1944, Oxford 2001.
4 Heimsoeth, Hans-Jürgen, Der Zusammenbruch der Dritten Französischen Republik. Frankreich während der „Drôle de Guerre“ 1939/40, Bonn 1990; Grüner, Stefan, Paul Reynaud (1878-1966). Biographische Studien zum Liberalismus in Frankreich, München 2001.
5 Imlay, Talbot C., Facing the Second World War. Strategy, Politics and Economics in Britain and France 1938 – 1940, Oxford 2003.

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