P. C. Hartmann: Französische Verfassungsgeschichte

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Titel
Französische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450-2002). Ein Überblick


Autor(en)
Hartmann, Peter Claus
Erschienen
Anzahl Seiten
235 S.
Preis
€ 34.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helke Rausch, Zentrum für Höhere Studien/ Frankreichzentrum, Universität Leipzig

Während die deutsche Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren begonnen hat, Verfassungsgeschichte verstärkt vergleichend anzugehen 1 und dabei zu wichtigen Relativierungen vermeintlicher Spezifika gerade des deutschen Konstitutionalismus im 19. Jahrundert vorgedrungen ist 2, legt nun der in Mainz lehrende Historiker P.C. Hartmann knapp zwanzig Jahre nach dem Erscheinen seiner Gesamtdarstellung zur französischen Verfassungsgeschichte noch einmal eine überarbeitete Neuauflage einer Länderstudie vor, in der der französische Untersuchungsfall gelegentlich auch durch einen deutsch-französisch vergleichenden Blick zusätzliche Außenkontur gewinnt (z.B. S. 17). Als nicht hintergehbares Zäsurdatum seiner Überblicksdarstellung wählt Hartmann das epochale Ereignis der Französischen Revolution von 1789 und unterscheidet dementsprechend eine erste Periode „materiell-rechtlicher“ (un)geschriebener Grundgesetze von einer zweiten postrevolutionären „Epoche der geschriebenen modernen Verfassungen“ (S. 15), mit der Frankreich zum Impulsgeber für den europäischen Konstitutionalismus wird.

Besonders im zweiten, knapp ein Drittel des Gesamttextes ausmachenden Teil wird Frankreich als Land des permanenten konstitutionellen Umbruchs gekennzeichnet. Hartmann zeigt, wie seit der Menschenrechtserklärung von 1789 die Nation als Souverän firmierte und 1791 die Gewaltenteilung verankert wurde, während das Prinzip staatsbürgerlicher Egalität lange deklaratorischen Charakters blieb. Die radikaldemokratische Verfassung von 1793 mit ihren weit reichenden Rechtszusagen war im Schatten von Diktatur und Terror wirkungslos, bevor die kollektive Aufstockung von Exekutive und Legislative in der Direktorialverfassung der Opposition Zugang zur Macht bis zum Staatsstreich und zur Militärdiktatur Napoleons verschaffte. Die napoleonischen Verfassungen blähten die Exekutive weiter auf, sicherten aber die revolutionäre Rechtsgleichheit weiter ab. Hinter die Gewaltenteilung, das zentralisierte Verwaltungssystem und einen grundrechtlichen Konsens ging dann auch die restaurierte Monarchie nach 1814 nicht mehr zurück. Präsidialverfassung und Kaisertum reduzierten nach 1852 die republikanische Verfassung (1848) zunächst zur demokratischen Episode, bevor sie seit 1871 nach einer schwierigen Etablierungsphase in Gestalt der Dritten Republik bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkmächtig wurde. Hier nun arbeitete die neue Verfassung der Vierten Republik nach Kriegsende 1945 zwar die Verfehlungen von Vichy ab, wurde aber von überbordenden Dekolonialisierungskonflikten und einer disziplinlosen Parteiendemokratie zerschlissen. Erst die Verfassung der Fünften Republik, die schließlich am einlässigsten behandelt wird, sicherte mit einem freilich bisweilen prekären, semipräsidentiellen Herrschaftssystem demokratische Stabilität.

So griffig Hartmann seinen Gegenstand präsentiert, könnten gerade dem Leser einer Überblicksdarstellung orientierende Klärungen fehlen. Etwa wird keine konzise Definition der neuzeitlichen „Verfassung“ als dem zentralen Untersuchungsgegenstand angeboten, die nicht nur auf die Festlegung von Regierungsformen und die Zuschreibung von Kompetenzen an Institutionen und Kollektive oder individuelle Amtsträger abhebt, sondern auf die historische Primärfunktion der Verfassung verweist, die Bedingungen legitimer Herrschaft festzulegen (statt sie vorauszusetzen) und die jetzt überhaupt erst legitimationsbedürftig gewordene politische Macht umfassend zu verrechtlichen und faktisch neu zu begründen.3 Ohne dergleichen grundlegende Erläuterungen droht etwa die „revolutionäre“ Qualität der Rechtstexte von 1789 und 1791 fast mehr der „Verschriftlichung“ (S. 15) und dem Austausch der Herrschaftsträger (S. 56ff.) als ausdrücklich der gedanklichen und faktischen Neukonstituierung legitimer Gewaltsamkeit zugerechnet werden zu müssen.

Auch vermisst womöglich besonders der um Einarbeitung bemühte Leser ein abrundendes Schlusskapitel, in dem die disparaten Entwicklungslinien, die Hartmann über einen Zeitraum von über 500 Jahren zieht, zuletzt zu bündeln und im Blick auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten im historischen Kontext abzuwägen wären. Die insbesondere im zweiten Teil dargestellte Serie von Verfassungen hätte, typologisch aufbereitet (z.B. unterschieden nach der Qualität des Wandels im Sinne von Modifikation, substantieller Revision und komplettem Bruch, oder unterschieden nach Anlass, Motiv und Trägern des Wandels), aus ihrer relativen Autonomie gelöst werden können. So würde zugleich die Dynamik des Wechsels von parlamentarischen und monarchischen Regimen und ihrer Verfassungen noch einmal zur auffälligen Kontinuität der institutionellen Infrastruktur (v.a. Zentralstaatlichkeit und eine spezifische Version parlamentarischer Praxis) in Beziehung gesetzt.

Ohne einen breiteren Rekurs auf Initiatoren und Träger der Verfassungsbewegungen, auf ihre Veränderungsinteressen als dem eigentlichen Motor der normativen Verfassungstexte und auf informelle Prozesse und Einflüsse, die die Verfassungswirklichkeit jenseits der Verfassungsnorm prägen, bliebe ein Verfassungsgeschichte allzu statisch. Nun scheint aber bei Hartmann das komplizierte Geflecht von Aushandlungsprozessen, von Macht- und Interessenkalkülen im Hintergrund zeitgenössischer Verfassungsdiskussionen auf, wenn im zweiten Darstellungsteil die Verfassungsentwicklung im Dreischritt „Vorgeschichte“, „Verfassung“ und „Anwendung“ durchdekliniert und jeweils in der ersten und dritten Analyserubrik soziopolitische Kontexte hergestellt werden. Die symbolische Valenz der französischen Verfassung als Kernelement politischer Kultur mindestens im 18. und 19. Jahrhundert bleibt freilich ganz außer Acht.4 Die engen Darstellungsgrenzen einer verfassungsgeschichtlichen Einführung, die rigorose Stoffkonzentration unvermeidlich macht und Problemverkürzungen gebietet, scheinen aber weitgehend ausgereizt.

Zuletzt folgen der übersichtlichen und sprachlich klaren Darstellung eine griffige Auswahlbibliografie und ein Anhang mit tabellarischen Listen zur Entwicklung der Verfassungsstruktur, eine Chronologie der Staatsoberhäupter und Minister(präsidenten) sowie schematische Darstellungen von Parlamentswahlergebnissen im Untersuchungszeitraum und eine Departement- und Regionenkarte Frankreichs. Den selbst gesetzten Anforderungen an eine „knappe, klare und verständliche“ (s. Vorwort) Einführung in die Entwicklung der französischen Verfassungsgeschichte wird der Autor auch hier vollends gerecht und liefert damit insgesamt ein sicherlich gerade für studentische Belange im Grundstudium geeignetes Hilfsmittel zur ersten Annäherung an einen komplexen Forschungsgegenstand.

Anmerkungen:
1 Vgl. Reinhard, Wolfgang, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2002; Fenske, Hans, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2001.
2 Vgl. Kirsch, Martin, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 150), Göttingen 1999.
3 Vgl. z.B. Grimm, Dieter, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, Frankfurt am Main 1988, S. 10-13; Schmale, Wolfgang, Art. Constitution, Constitutionnel, in: Reichhardt, Rolf; Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hgg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich, 1680-1820, München 1992, Bd. 12, S. 31-63.
4 Vgl. u.a. Schmale, Wolfgang, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung. Zur Mentalitätsgeschichte der Verfassung in Frankreich, 1715-1794, Berlin 1988.

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