Cover
Titel
Willy Brandt.


Autor(en)
Seebacher, Brigitte
Erschienen
München 2004: Piper Verlag
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Schwarz, Berlin

Die Publikation Brigitte Seebachers, einer promovierten Historikerin und letzten Ehefrau Willy Brandts, ist keine systematische, in sich geschlossene Abhandlung über Leben und Werk des früheren Bundeskanzlers und langjährigen SPD-Vorsitzenden. Vielmehr besteht das Buch aus einem Gemisch biografischer Daten, sehr persönlicher Erinnerungen und einer Fülle teilweise mit giftigen Pfeilen versehener Bemerkungen über Politiker, zu denen Brandt enge Kontakte oder dienstliche Beziehungen unterhalten hatte. Insgesamt ist eine stark subjektiv gefärbte Studie entstanden, die kritische Rückfragen und Kommentare provoziert.

Die Form der persönlich gestimmten Betrachtungsweise lässt in vielen Fällen keine eindeutige Unterscheidung zu, welche Gedanken originär Willy Brandt oder vielleicht doch eher der Autorin zuzuordnen sind. Als Leser stößt man zuweilen auf eine seltsame Ideenmixtur, aus der eine starke Hinwendung Brandts zu nationalem Denken hervorgehen soll. Seebacher behauptet dies, obwohl der Porträtierte ein Leben lang mit internationalistischen Idealen verbunden war und sich im Rahmen der internationalen Politik aktiv betätigt hat. Dieses Engagement reichte von seiner Mitgliedschaft in der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) während der 1930er-Jahre bis zu seiner viel beachteten Tätigkeit als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission und der Sozialistischen Internationale bis 1992.

An einigen Stellen geht Seebacher noch weiter: Sie überhöht Brandts angebliche Gedankenwelt geradezu ins Mystische und Mythische, gelegentlich sogar mit Hinweisen auf eine Art nationalrevolutionärer Anwandlungen. Er sei „Mystiker und Melancholiker“ gewesen, „Charismatiker und Künder eines Ziels“ (S. 35). Er habe sich nicht als Intellektueller gesehen, „und analytische Kraft ging ihm ab, wie sie allen Charismatikern abgeht“ (S. 59). An anderer Stelle meint die Autorin, in seiner Auseinandersetzung mit Herbert Wehner um 1973/74 habe ihn „auch noch die düstere Ahnung [beschlichen], dass Kräfte am Werk waren, die sich der Ratio entzogen. Die Ahnung versuchte er zu bekämpfen, auch dadurch, dass er Wehner zu Hause empfing und mit ihm Rotwein trank“ (S. 266).

Überhaupt führt Seebacher den Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers im Mai 1974 auf eine infame Intrige, auf ein Komplott zwischen Herbert Wehner, Erich Honecker und Moskauer Stellen zurück. Beweise hierfür fehlen. Stattdessen berichtet die Autorin, sie habe im November 2001 den Föderalen Sicherheitsdienst in Moskau (den vormaligen KGB) ersucht, ihr aus dem Zentralen Archiv Dokumente zugänglich zu machen, die Brandt in seiner Zeit als Bundeskanzler betreffen. In mehreren Gesprächen sei ihr „bedeutet“ worden, „dass drei Personen im engeren Umfeld des Kanzlers für die andere Seite gearbeitet“ hätten (S. 239).

Sodann teilt sie mit, dass im siebten Kellergeschoss der Lubjanka 185 Tonbänder und Kisten lagerten, „jede mit 1.000 Seiten gefüllt“. Im Sommer 2003 habe sie eine Liste (!) mit 500 Dokumenten erhalten, die sich auf die Jahre 1969 bis 1974 beziehen und 8.000 Seiten umfassen würden. Sie entstammten den Archiven des Politbüros der KPdSU und des KGB: „Der überwiegende Teil scheint [!] Alltägliches zu enthalten.“ (S. 239) Den Titeln nach versprächen nur zwanzig Dokumente „aufschlussreich“, vier „wichtig“ und eines „sehr wichtig“ zu sein. Diese „fünf wichtigen“ Stücke seien nicht freigegeben worden. Allein schon die Titel der ausgewählten Dokumente deuteten „auf Verwicklungen“ hin, „die oft erahnt, aber nie bewiesen und auch als Hirngespinste W.B.s abgetan worden sind“ (S. 239). Die gebotene Beweislage für ein Komplott Wehner – Honecker – Moskau gegen Brandt ist also von äußerster Dürftigkeit. Zudem ist zu fragen, welche Vorteile sich Honecker und „Moskauer Stellen“ für den Fall eines Sturzes Brandts – insbesondere hinsichtlich der Ostpolitik – ausgerechnet haben sollten.

Dessen ungeachtet geht Seebacher so weit, Wehner eines groß angelegten Doppelspiels seit Kriegsende zu verdächtigen. In suggestiver Frageform deutet sie derartige Moskauer Überlegungen bereits für seine Übersiedlung im September 1946 von Schweden nach Hamburg an: „Könnte eine Karriere Wehners im Westen nicht auch nützlich sein?“ (S. 256) Die Autorin meint zudem, seit dem triumphalen Sieg der SPD in den Bundestagswahlen von 1972 habe Wehner „offene Obstruktion gegen den Bundeskanzler und Parteivorsitzenden“ betrieben (S. 259). Auch habe es 1973/74 vier bis fünf Geheimtreffen zwischen Wehner und Honecker gegeben. Hierfür bezieht sich Seebacher auf Äußerungen des SED-Politbüromitglieds Alfred Neumann (S. 271).

Eigenartig wirkt auch der wiederholte mystifizierende Hinweis der Autorin auf das Jahr 1913. Auf mehreren Seiten berichtet sie, welche Ereignisse in jenes Jahr gefallen seien: Es sei das Geburtsjahr Brandts und das Todesjahr August Bebels gewesen, darüber hinaus aber auch das Jahr zahlreicher Ereignisse in Musik und Malerei, Physik und Sport; zudem habe Henry Ford 1913 seine erste Fließbandfabrik in Detroit eröffnet – alles unbestreitbar, nur: Was sollen diese Daten (S. 101ff.) für Leben und Wirken Willy Brandts bedeuten?

Eine störende Eigenart Seebachers ist die Angewohnheit, wichtige Politiker fast aller Schattierungen, die mit Brandt zu tun hatten, mit knappen, stichelnden Bemerkungen abzuwerten, sie in ihrer Autorität zu beschädigen. Dem französischen Präsidenten Mitterrand wirft sie eine Art Doppelgesicht vor. Er sei zwar „formvollendet“ gewesen, doch habe er sich „Überzeugungen wie Kleider“ zugelegt: „Es zählten die Interessen eigener Macht.“ (S. 28) In welchem Land war dies eigentlich anders? Mitterrand habe „überhaupt keine Skrupel“ gekannt, und ein „hintergründig diabolisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel“ (S. 34). Nicht viel anders sieht Seebacher die Eigenheiten des damaligen deutschen Staatsoberhaupts: „Richard von Weizsäcker lag ihm [Brandt] nicht, Wesen und Art, Politik zu machen, blieben ihm fremd.“ (S. 86) Was die Volksverbundenheit angeht, hätten Welten zwischen beiden Politikern gelegen: „Ein Weizsäcker konnte gar nicht anders, als auf die Masse herunterzusehen. Aber auch im Verhältnis zum eigenen Land tat sich ein Bruch auf.“ (S. 320)

Dem Vorgänger Brandts im Amt des SPD-Vorsitzenden, Erich Ollenhauer, bescheinigt die Autorin, dass sich dessen Horizont während der Emigration – in Prag, Paris und London – „kaum erweitert“ habe: „Draußen gewesen zu sein war keine Gewähr für Weltläufigkeit.“ (S. 162) Abwertend kennzeichnet sie in einer Nebenbemerkung den 1989 amtierenden Regierenden Bürgermeister von Westberlin, Walter Momper (S. 296). Auch habe es „dauerhaft“ einen Gegensatz zwischen Brandt und Egon Bahr gegeben, der bis zuletzt gemeint habe, deutsche Einheit und westeuropäische Integration schlössen sich aus. Bahr habe in Gegensätzen und Ausschließlichkeiten gedacht, Brandt gerade nicht (S. 18f.). Im Vergleich zu solchen barschen Attacken schneidet Helmut Kohl bei Seebacher geradezu rühmlich ab.

Den Rezensenten macht stutzig, dass die Autorin, selbst befähigte Publizistin, ausgerechnet den konservativen Klaus Rainer Röhl, der von seiner ursprünglich linken Position konvertiert ist, für die Endfassung ihres Manuskripts herangezogen hat und ihm im Vorwort für dessen „mühe- und liebevollen Schliff“ dankt. Völlig unverständlich muss bleiben, dass Seebacher sich mit zwei wichtigen Publikationen der letzten Zeit weder inhaltlich auseinandergesetzt noch diese in ihre Bibliografie überhaupt aufgenommen hat. Das bezieht sich auf den vorwiegend beschreibenden Band von Gregor Schöllgen1 sowie auf die grundlegende und voluminöse Biografie von Peter Merseburger2, die der geschichtlichen Rolle Brandts im 20. Jahrhundert gerecht wird und nachfolgenden Generationen ein gültiges Lebensbild vermittelt. Ein solches Minimum an Sorgfalt hätte man erwarten dürfen.

Anmerkungen:
1 Schöllgen, Gregor, Willy Brandt. Die Biographie, Berlin 2001. Siehe hierzu meine Rezension in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 1121ff.
2 Merseburger, Peter, Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart 2002. Siehe hierzu meine Rezension: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-1-009>.

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