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Titel
Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Frevert, Ute
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
218 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Pape, Historisches Institut, RWTH Aachen

Ute Frevert fragt nach den „guten Europäern“, die daran gearbeitet haben, negative Traditionen Europas wie Nationalismus, Erbfeindschaft und Zivilisationsdünkel zu überwinden und die Staaten und Völker einander anzunähern. Sie spürt den Erinnerungen, Deutungen, Wahrnehmungen und Haltungen nach, die den Kontinent in seiner Besonderheit erfassen helfen sollen, und nennt dies „Eurovisionen“. In fünf Kapiteln geht es um die Ausformung von Nationalismus, Kolonialismus, „europäischem Bürgerkrieg“ und Kaltem Krieg, um das „europäische Projekt“ nach 1989 und die Erinnerung an zweihundert Jahre Geschichte.

Der schmale Buchumfang zwingt zur Auswahl. Ausgeblendet sind bei Frevert alle Fragen von Religion und Konfession. Die beiden Hauptthesen lauten: Europa- und Nationalbewusstsein, so unterschiedlich sie in den einzelnen Ländern auch ausgeprägt sind, bedeuten heute keinen Widerspruch; und die Europäer bilden ihre Identifikation in der Auseinandersetzung mit den Nichteuropäern heraus. Das führe zu teils „hysterischen Abgrenzungen“ gegenüber Fremdkulturellem (Freverts Stichwörter sind der Islam und der EU-Beitritt der Türkei) sowie zu aufgeregten Debatten über „nationale Leitkulturen“ und Immigration. Frevert möchte dazu beitragen, diese Fragen „rational“ zu verhandeln. Tut sie das wirklich?

Im Kapitel über den Nationalismus des 19. Jahrhunderts resümiert sie den Forschungsstand, greift Sheehans Wort von der „Erfindung der Nationen“ aus dem Geist des revolutionären und antirevolutionären Nationalismus auf und stellt zu Recht die Nachwirkungen der napoleonischen Reformen in Europa heraus. Dazu hätte die Frage gehört, mit welchen „Eurovisionen“ sich ältere reichspatriotische Konzepte des „Dritten Deutschland“ im Westen und Südwesten des Alten Reichs mit Napoleon als einem neuen „Charlemagne“ verbanden, um auf ein erneuertes Reich an der Seite Frankreichs hinzuarbeiten. Das war die Gegenkonzeption zu dem später von Preußen geeinten Nationalstaat, den diese Kosmopoliten (von der Geschichtsschreibung bis ins 20. Jahrhundert als „Reichsverräter“ wahrgenommen) vermeiden wollten und den Metternich (kein „guter Europäer“?) nach 1815 noch einmal aufhalten konnte.

Frevert unterstreicht die lange Tradition der „Barbarisierung“ auf dem europäischen Kontinent, ignoriert aber die Dialektik der historischen Prozesse in Form der ständigen Versuche, Krieg und Gewalt einzudämmen. Waren Zar Alexander I., der nach 1815 neue Wege der Friedenswahrung entwickelte, Henri Dunant, der das Rote Kreuz gründete, Bertha von Suttner, die am Beginn der modernen Friedensbewegung steht, oder Alfred Nobel, der den Friedenspreis stiftete, keine „guten Europäer“?

Frevert zeigt, wie sich die „guten Europäer“ im Eigenbild der Kolonial- und Weltausstellungen entweder als „barmherzige Christen“ oder als „vernünftige Aufklärer“ dargestellt, faktisch aber ihre Konkurrenz in Übersee ausgetragen und mit Kolonialismus und Rassismus anderen Kontinenten ihr Ordnungs- und Wertesystem aufgebürdet haben (dies ist die Sicht post festum des ‚Klügergewordenen‘). Das koloniale Projekt sei ein „männliches Unternehmen“ gewesen und als solches im 19. Jahrhundert, das sich „geradezu obsessiv mit der Markierung der Geschlechterdifferenz beschäftigt“ habe, auch wahrgenommen worden. Doch ist damit alles über diese Zeit gesagt? Die Weltausstellungen dienten auch dem Vergleich der Kulturleistungen im fin de siècle. Die Kunst verlor ihre dekorative Funktion und wurde zur Lebensmacht. Die Öffentlichkeit wurde von Paris, Wien, München, Dresden und Berlin her in ästhetischen Fragen polarisiert: für oder gegen die Opern Richard Wagners, die Zwölftonmusik, die gebrochenen Farben des Impressionismus, die grellen des Expressionismus. Die Künste setzten Energien frei, die bis heute nachwirken. Von alledem ist in Freverts Buch nichts zu spüren.

Das Zeitalter der Weltkriege macht Frevert am Heldenkult und an der „Gedächtnispolitik“ nach 1918 fest. Sie stellt heraus, dass selbst die Gräber der Gefallenen nach Nationen getrennt worden seien (als ob anderes denkbar gewesen wäre). Die bolschewistische Revolution habe modernisierend gewirkt, sei im Westen aber als „tendenziell barbarisch“ wahrgenommen worden. Faktum ist, dass der Bolschewismus in Theorie und Praxis barbarisch war, sowohl in den Anfängen als auch unter Stalin (der Name fällt nicht). Faktum ist auch, dass nicht Hitler, sondern Hitler UND Stalin den Zweiten Weltkrieg ausgelöst haben und nicht Hitler Polen „hernach“, sondern bereits zuvor mit Stalin geteilt hat. In dieser Periode sind „gute Europäer“ kaum auszumachen. Aber Papst Benedikt XV. unternahm im Ersten Weltkrieg, wenn auch vergeblich, eine Friedensvermittlung und konnte zumindest die Kriegshärten lindern. Und Papst Pius XII. verurteilte, wie sein Vorgänger Pius XI., im Zweiten Weltkrieg öffentlich den Rassenantisemitismus und konnte durch die diplomatischen Kanäle der römischen Kurie mindestens 700.000 Juden in vielen Ländern Europas das Leben retten – wenn auch die spätere Wahrnehmung eine andere ist (Hochhuths „Stellvertreter“ und die Folgen). Waren während der Weltkriege vielleicht die Päpste die „guten Europäer“?

Es fehlen kurze Rückblenden in die mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte, ohne die das moderne Europa nicht zu verstehen ist. Frevert will ‚ihr‘ Europa nicht auf das Karolingerreich beziehen (das wollten schon national orientierte Protestanten und Sozialdemokraten in der Ära Adenauer nicht); die „Sucht nach Einheit“ und eine Europa verbindende Idee wie das „christliche Abendland“ lehnt Frevert ab. Folgt man indessen den Quellen, stößt man auf die christlich-antiken Grundlagen Europas, die über Humanismus und Neustoizismus vielfältig in die Neuzeit hineingewirkt haben. Stattdessen lenkt Frevert den Blick auf die heterogenen Einflüsse, die von den Randregionen und den Minderheiten ausgingen (Juden, Muslime). Sie würdigt den Wertekanon der Aufklärung als „zentrales Fundament“ Europas. Dahinter verschwindet völlig das Erbe der Reformation. Es hat in seiner stärksten politisch-ökonomischen Ausprägung in Form des Calvinismus (Schweiz, Niederlande, Preußen) auf Europa tief gewirkt. Es hat im Alten Reich seit 1648 nicht zuletzt die politische Kultur geprägt, indem es zum friedlichen konfessionellen Ausgleich führte, Reich und Bistümer, Staat und Landeskirchen dauerhaft einander zuordnete, während sich in England und Frankreich Staatskirchen etablierten. Die konfessionellen Prägungen und Unterschiede wirken bis heute nach – in Freverts Geschichtsbild sind sie ausgelöscht.

Der Leser erfährt auch nichts vom Föderalismus als frühneuzeitlichem Erbe des deutschsprachigen Raumes für Europa, woran heute die Idee des „Europas der Regionen“ anknüpft. Der Föderalismus bildet die Voraussetzung für die Autonomie von nationalen Minderheiten, worum in vielen Randregionen gerungen wird (Nordirland, Baskenland, Südtirol, Balkan). Darüber haben österreichische Gelehrte wie der Sozialdemokrat Karl Renner noch in der Habsburgermonarchie Grundlegendes erarbeitet. Renner taucht genausowenig unter den „guten Europäern“ auf wie die Intellektuellen, Publizisten und Politiker diesseits und jenseits des Rheins, die seit den 1920er-Jahren (im Zeichen der Abendlandidee!) den Brückenschlag suchten, den Jugendaustausch in Gang setzten, Zeitschriften gründeten – und von denen nicht wenige das Aufbauwerk nach 1945 fortführten. Frevert erwähnt kurz Reinhold Schneider, ohne ihn konfessionell zuzuordnen und seine Trauer über den Verlust des katholisch-universalen Reiches in Erinnerung zu rufen – wiederum eine prägnante Form der Europawahrnehmung nach 1945. Auch beim Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der Fäden nach Europa spann, wäre an dessen Rückbindung an das christliche Wertefundament zu erinnern.

Frevert erkennt richtig, dass Europa nach 1950 von den breiten Massen, auch den Arbeitsmigranten, als Raum und Garant wirtschaftlichen Wohlstandes und sozialer Sicherheit wahrgenommen wurde. Aber kann man das europäische Sozialstaatsmodell preisen, ohne zunächst auf dessen Wurzeln in der katholischen Soziallehre und in den päpstlichen Sozialenzykliken sowie auf die Wirkungen der neoliberalen Genfer Schule als Reaktion auf den Staatssozialismus unter Hitler und Stalin hinzuweisen? Kann man übergehen, dass die Gründungsväter des sich einigenden Europas nach 1945 fast alle Christliche Demokraten waren, die zusammen mit Liberalen den zentralistisch-nationalen, auf die Planwirtschaft setzenden Linksparteien in Deutschland, Frankreich, Italien ihre Europa-Vision entgegensetzten und diese politisch-ökonomisch zu einem Erfolgsmodell machten, während Nicht-EWG-Länder wie England und Österreich den Weg in die Staatsverschuldung gingen?

Das Schlusskapitel ist eine Moralpredigt gegen die „Festung“ Europa, ihre „restriktiven Einwanderungsregelungen“ gegenüber Armutsflüchtlingen und ihre Ausgrenzungspolitik gegenüber dem Balkan und der Türkei. Dabei bezieht Frevert Position gegen Hans-Ulrich Wehler, der auf das in der Türkei fehlende Fundament der Aufklärung verwiesen hat. Aus Soldatenfriedhöfen (eines von Freverts Leitmotiven) und Vernichtungslagern solle eine „Gedächtnisoffensive im europäischen Maßstab“ unter Einbeziehung der Orte der Verbrechen in den Kolonialgebieten entstehen.

Das Buch ist quellenfern und bildungsarm, die Sprache teils salopp („Österreich fraß aus des Korsen Hand“), teils politisch überkorrekt („Bürgerinnen und Bürger“), von argen Druckfehlern („Giovane Europa“) und der verlagseigenen (weder bewährten noch konsequent neuen) Rechtschreibung entstellt. Das Personenregister ist unvollständig, die Literaturbelege in den Anmerkungen enthalten keine Rückverweise – wofür unterhält Fischer ein Lektorat?

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