E.A. Schmidl (Hg.): Die Ungarnkrise 1956 und Österreich

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Titel
Die Ungarnkrise 1956 und Österreich.


Autor(en)
Schmidl, Erwin A.
Erschienen
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Foitzik, Außenstelle Berlin, Institut für Zeitgeschichte

Das Jahr 1956 bildet nicht nur eine Zäsur in der Nachkriegsgeschichte der Ost-West-Beziehungen, sondern auch in der Binnengeschichte des europäischen Kommunismus. Für Österreich, das erst ein Jahr zuvor mit der Erklärung der Neutralität und dem Abzug der Besatzungstruppen die Souveränität wiedererlangt hatte, besaß die Reaktion auf den ungarischen Volksaufstand und dessen Niederwerfung durch sowjetische Truppen 1956 einen besonderen nationalhistorischen Stellenwert: Sie löste die erste politische Bewährungsprobe der neuen Neutralität aus, die langfristig eine konstitutive Bedeutung für ihre politische und kulturpolitische Ausgestaltung haben sollte.

Die Publikation der Landesverteidigungsakademie Wien stellt in vier thematischen Abschnitten 15 Beiträge österreichischer, ungarischer, US-amerikanischer, russischer, polnischer, schweizerischer und französischer Historiker vor. Sieben Beiträge sind auf Quellen aus US-amerikanischen, britischen, französischen, ungarischen und hauptsächlich mehreren österreichischen Archiven gestützt, die Übrigen referieren Sekundärliteratur. Vier Beiträge sind in englischer Sprache veröffentlicht.

Im ersten Abschnitt gehen drei ungarische Historiker detailliert auf die ungarische Entwicklung ab 1937 ein, die in den letzten Monaten des Jahres 1956 eskalierte. Vorwiegend militärorganisatorische Aspekte der sowjetischen Intervention thematisiert der Beitrag des russischen Historikers V. Vartanov über die Sowjetunion und Ungarn im Jahr 1956. In seiner Analyse des Stellenwerts des Jahres 1956 im ungarischen Gedächtnis und in der öffentlichen Meinung konstatiert der amerikanisch-ungarische Historiker István Deák nicht nur, dass der kollektiven Amnesie bis in die 1970er-Jahre hinein dann in den 1980er-Jahren eine politische Rehabilitierung des Volksaufstand durch Spitzenfunktionäre der regierenden kommunistischen Partei folgte, sondern er macht auch darauf aufmerksam, dass als Folge des friedfertigen Übergangs von Diktatur zur Demokratie 1989/90 die Überbewertung des Mythos des Jahres 1956 einem Bedürfnis nach „revolutionärer Legitimation“ des Umbruchs entsprach.

Der zweite Abschnitt thematisiert den internationalen Kontext der Ungarnkrise. Unter der Fragestellung „Eindämmung und Koexistenz oder ‚Rollback’ und Befreiung?“ setzt sich Günter Bischof ausführlich mit der Historiografie des Kalten Kriegs auseinander. Nicht nur wegen der präsentierten Fakten ein informativer Beitrag. László Borbi fokussiert seine Aufmerksamkeit genauer auf das Verhältnis USA-Ungarn im Jahr 1956 und wirft abermals im Detail alte Kontroversen über Interventions- und Nicht-Interventionspolitik der USA in Osteuropa auf. Hans Rudolf Fuhrer, ein Vertreter der schweizerischen Militärgeschichte, präsentiert die militärischen Aspekte der Doppelkrise Ungarn und Suez anhand französischer und britischer Archivquellen. Zwei Aspekte interessierten ihn dabei: Das Verhältnis zwischen Politik und Militär sowie die propagandistisch behauptete Kausalität zwischen der Entstehung beider Krisen. Zum letzten Punkt fällt die Aussage eindeutig aus: Es gab keine direkte Verbindung zwischen der Suez-Krise und den Ereignissen in Ungarn, beide Interventionen verliefen autonom voneinander, eine wechselseitige politische Beeinflussung trat erst nach Abschluss der militärischen Operationen ein. Zwei Beiträge beschäftigen sich mit den ungarischen Ereignissen aus französischer und polnischer Perspektive: Den nach 1956 rapide sinkenden politischen und gesellschaftlichen Einfluss der französischen Kommunisten wog im gewissen Sinne Gomulka auf, der vor dem Hintergrund der spontanen Solidarität der polnischen Bevölkerung mit Ungarn noch eine Zeitlang lavierte, bis er sich 1958 wieder in die Moskauer „Generallinie“ eingliederte.

In dem „Österreich und die Ereignisse 1956“ überschriebenen dritten Abschnitt beschäftigt sich Bianca L. Adair mit dem österreichischen Staatsvertrag von 1955 und den österreichisch-ungarischen Beziehungen 1955/56. Sie weist nach, dass der im Mai unterschriebene und im Oktober 1955 vom österreichischen Parlament ratifizierte Staatsvertrag in Ungarn die Erwartung des Abzugs der sowjetischen Truppen ausgelöst hatte, die dort laut Friedensvertrag von 1947 zur Sicherung der Verbindungslinien zu sowjetischen Besatzungstruppen in Österreich unterhalten wurden. Chruschtschows Phrase von der „friedlichen Koexistenz“ und seine Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU spielten dabei eine Rolle, doch der Warschauer Pakt scheint in Ungarn außer Acht gelassen worden zu sein. Catherine C. Nielsen lenkt ihre Aufmerksamkeit mehr auf die österreichische Situation und die noch einige Jahre anhaltende „Frustration“ der USA über die Neutralitätspolitik Österreichs: Auf der einen Seite die Befürchtungen der USA, für die sowjetische Außenpolitik wäre die österreichische Neutralität ein Modell für Deutschland, auf der anderen Ängste in Österreich, die Neutralität könnte durch die sowjetische Propaganda gegen US-amerikanische Subversion in Osteuropa beschädigt werden. Manfried Rauchensteiners (stellenweise mit leichter Feder geschriebener) Aufsatz lockert die Konzentration auf Details auf, wenn er eingangs feststellt, dass das Jahr 1968 (Prag) im österreichischen Massenbewusstsein dominanter sei als das Jahr 1956: Nicht nur nationale Vorurteile, die er selbst bei Bruno Kreisky aufspürt, seien im Spiel gewesen, sondern vor allem habe man 1956 „noch in Kategorien der Besatzungszeit“ gedacht. Angesichts der laschen Realisierung des österreichischen Selbstverteidigungsbeitrags seien die Ereignisse in Ungarn 1956 politisch unterschätzt und militärisch überschätzt worden, als am 26. Oktober 1956 anderthalb Tausend Mann des Bundesheeres an der Grenze Sicherungsmaßnahmen ergriffen, um bewaffnete ungarische und sowjetische Einheiten in Österreich notfalls mit Waffengewalt zu entwaffnen. Am 30. Oktober quittierte das die östliche Gegenpropaganda mit dem Vorwurf, Österreich verletze die Neutralität. Rauchensteiner resümiert, dass die meinungsbildenden Prozesse zwischen Oktober und November 1956 identitätsstiftend für das österreichische Neutralitätsbewusstsein waren und den eigentlichen Nationalfeiertag darstellten. Die militärorganisatorischen und militärpolitischen Details des Einsatzes des österreichischen Bundesheeres an der ungarischen Grenze 1956 analysiert der Herausgeber Erwin A. Schmidl, wobei neben Archivmaterialien auch Ergebnisse zahlreicher Interviews mit damaligen Entscheidungsträgern benutzt wurden. Hubert Speckner vertieft dies mit einer Darstellung der Rolle des Bundesheeres in der Flüchtlingsbetreuung. Den Abschluss des Bandes bildet ein Ausblick von Lászlo J. Kiss über die österreichisch-ungarischen Beziehungen von 1955 bis 1990, die ab den 1960er-Jahren als „Sonderbeziehungen“ bezeichnet werden. Informativ sind die abgedruckten Fotografien aus dem aufständischen Budapest, von der österreichisch-ungarischen Grenze und Schnappschüsse aus der Flüchtlingsarbeit 1956.

Auch fehlt das Bild nicht, auf dem der österreichische und der ungarische Außenminister am 27. Juni 1989 „den Eisernen Vorhang“ durchschnitten. Mit den vorliegenden Analysen wurde nicht nur ein informatives, sondern auch ein lesenswertes Buch vorgelegt, in dem die nationalhistorische Perspektive der „Ungarnkrise“ im Kontext der Ost-West-Beziehungen plastisch vorgestellt wurde. Einige vorgestellte Argumentationslinien und zahlreiche Einzelhinweise verdienen unbedingt weitere Beachtung. Doch fällt auf, dass in russischen, ungarischen und polnischen Archiven keine „neuen“ Quellen zu den Ereignissen des Jahres 1956 zugänglich waren.

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