R. Dahrendorf: Der Wiederbeginn der Geschichte

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Titel
Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak. Reden und Aufsätze


Autor(en)
Dahrendorf, Ralf
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Hacke, Institut für Sozialwissenschaften und SFB "Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel", Humboldt-Universität zu Berlin

Jedes Jahr (mindestens) ein neues Buch von Lord Ralf Dahrendorf – wer ein international so gefragter Vortragsreisender ist wie der anglisierte Soziologe, bei dem fällt stets genug ab, um es zwischen zwei Buchdeckel zu pressen. Unter dem etwas pompösen Titel „Der Wiederbeginn der Geschichte“ hat Dahrendorf, rechtzeitig zu seinem 75. Geburtstag, 24 Reden und Aufsätze seit dem Mauerfall gesammelt. Die implizierte Gegnerschaft zu Fukuyamas „Ende der Geschichte“ entpuppt sich lediglich als ein Streit um Worte, denn auch Dahrendorf geht von der Alternativlosigkeit der liberalen Demokratie aus. Ähnlich wie Odo Marquard, der von 1989 als „Rückkehr in die Geschichte“ gesprochen hat, rekurriert Dahrendorf mit der Formel des „Wiederbeginns“ einseitig auf das Ende des sozialistischen Alpdrucks für den ehemaligen Ostblock.1

Wesentlich Neues wird auch den gelegentlichen Dahrendorf-Leser kaum erwarten, denn die Geltungsbedingungen des Liberalismus nach seinem Sieg hat der ehemalige Direktor der London School of Economics bereits oft genug ausgebreitet.2 Schreitet man ins Pantheon für Dahrendorfs Heilige der politischen Theorie, kommt es zu vertrauten Begegnungen: die „ungesellige Geselligkeit“ des Königsberger Weltbürgers, der republikanische Geist Tocquevilles, Hayeks „Verfassung der Freiheit“ und Poppers „offene Gesellschaft“ finden sich dort – für Weber, Schumpeter und Aron bleibt auch noch ein bisschen Platz, Hegel sitzt auf der Strafbank. Aus dem Geist der Klassiker soll die liberale Gesellschaft erneuert werden, und Dahrendorf aktiviert auch in diesem Band virtuos sein über Jahrzehnte hinweg appliziertes Vokabular, spricht von „öffentlichen Tugenden“, vom schöpferischen Chaos der „Bürgergesellschaft“, von notwendigen „sozialen Ligaturen“ (andere nennen es „traditionelle Bindungen“), von der Verankerung der Demokratie in einer liberalen Ordnung unter der Herrschaft des Rechts.

Doch die Vertrautheit mit Dahrendorfs grundlegenden Gedankengängen muss in diesem Fall kein Nachteil sein. Der deutsche Vorzeigeliberale hat sich der Mühe unterzogen, den einzelnen Kapiteln einleitende Texte beizufügen, in denen er den ursprünglichen Anlass und die Entwicklung der eigenen Positionen noch einmal erläutert. Auf diese Weise ist eine gut lesbare Einführung in Dahrendorfs Werk entstanden. Die Lektüre ist kurzweilig, denn mit stilistischer Gewandtheit pendelt Dahrendorf zwischen politischer Theorie, soziologischen Beobachtungen, außenpolitischer Analyse und universalhistorischer Gesamtschau: Sein „Spiegel“-Essay über „das (kurze) sozialdemokratische Jahrhundert“ ist beeindruckend in der Linienführung; seine Einordnung von Blair und Schröder aus liberaler Sicht ebenso treffsicher wie seine Kritik an der EU, die ihre Integrationsdefizite durch die Aufnahme zusätzlicher Mitglieder zu kompensieren suche und damit ihre Kräfte zu überspannen drohe. Seine Wende zum Regionalismus („Glokalisierung“), aber auch seine Annäherung an den außenpolitischen Realismus, aus dessen Perspektive Dahrendorf die Politik der USA und den Waffengang im Irak unterstützt hat, lassen einen gewissen „Alterskonservatismus“ des ehemaligen sozialliberalen Nationalpädagogen erkennen.

Dass das liberale Vokabular des 19. Jahrhunderts mittlerweile zum Konservativen neigt, ist freilich keine neue Entdeckung. Dahrendorfs Vorbilder – die aufrechten „Cold War Liberals“ seiner Vätergeneration (Aron, Berlin, Hayek, Popper) – mussten sich aufgrund ihres rigiden Antikommunismus ein ums andere Mal Konservatismusvorwürfe gefallen lassen. (Das Buch über sie, das Dahrendorf seit einigen Jahren ankündigt, wird vermutlich mehr Interesse finden als seine zu Redundanzen neigenden Rekonstruktionsversuche der Bürgergesellschaft.) Interessant ist allerdings, dass Dahrendorf auch denjenigen entgegengekommen ist, die er einst als neokonservative Rechtshegelianer und Institutionalisten brandmarkte.3 Die im „Homo sociologicus“ 1958 vertretene und spätestens 1968 einflussreich gewordene These vom Menschen als entfremdetem Wesen, als Träger von sozialen Rollen, aus denen er sich zu befreien habe, hat Dahrendorf mittlerweile zugunsten einer anerkannten Stabilisierungs- und Leitungsfunktion von Institutionen korrigiert (S. 58ff.). Dabei bleibt sein Begriff von Institutionen, „sozialen Ligaturen“ und Leitwerten weiterhin blass; zur inhaltlichen Präzisierung fällt dem stets geschmeidig argumentierenden Dahrendorf wenig ein. Nicht zuletzt seine simultane Kritik an einem blutarmen Verfassungspatriotismus einerseits und einem kommunitaristischen „Kollektivismus“ andererseits offenbaren sein Lavieren zwischen den Denkrichtungen – Zivilreligion mag eine brauchbare Sache sein, aber schön wäre es doch, wenn die bürgerlichen Tugenden rationaler entwickelt würden. „Im Grunde bleibe ich Individualist“, bekennt Dahrendorf dann auch relativ freimütig – und erklärt so implizit die ganze vorgeschobene Wertedebatte, an der er sich eher halbherzig beteiligt, für überflüssig: „Demokratie und Marktwirtschaft“ seien nämlich darum wünschenswert, „weil sie kalte Projekte sind, die keinen Anspruch erheben auf die Herzen und Seelen von Menschen“ (S. 86).

Dahrendorfs seit dem „Lob des Thrasymachos“ (1966) angedeutete machtbewusste, elitäre politische Perspektive offenbart sich nicht nur in der Diktion. Er hält nach wie vor Ausschau nach den Männern, die Geschichte machen, und vermisst die „Persönlichkeit von Führern“ (S. 142). Obwohl es – nach seiner kulturpessimistischen Diagnose – keine solchen Führer mehr gebe, fühlt er sich in der Gesellschaft ihrer Ersatzleute ganz wohl. Die politische Elite Europas ist sein Freundeskreis, und nicht ohne Eitelkeit referiert der Lord en passant seine Begegnungen mit der europäischen Prominenz, obwohl er „immer eine gewisse Verlegenheit“ verspüre, wenn er für seine „europäischen Verdienste gelobt“ werde (S. 195). Dass dem europäischen Weltbürger die britische Heimat die liebste ist, scheint in den Texten des Öfteren durch. Umstandslos stellt sich Dahrendorf in die Tradition des Volkswirtschaftlers John Maynard Keynes und des Sozialreformers William Beveridge, preist an anderer Stelle die britische Königinmutter als „milde und mutige Dame, die Wärme und Gutheit“ ausstrahle, und gelangt zu subtilen gesellschaftlichen Analysen, die dem gemeinen Kontinentaleuropäer zu denken geben: Erst der gewaltsame Tod von Lady Di „machte weithin sichtbar, dass die Moderne auch an Großbritannien nicht spurlos vorbeigegangen war“ (S. 222).

Doch solche Sticheleien sollten nicht ins Gewicht fallen, wenn es darum geht, den exzeptionellen Rang dieses politischen Intellektuellen anzuerkennen. In einer Zeit, in der Umfragen zufolge noch weit über die Hälfte der Bürger in den neuen Bundesländern den Sozialismus für eine gute Idee halten, bietet sich der Rückgriff auf liberale Grundkurse von der Qualität der Dahrendorfschen Schriften ohne Frage an.

Anmerkungen:
1 Vgl. Fukuyama, Francis, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992, und Marquard, Odo, Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2000, S. 98.
2 So zuletzt in Dahrendorf, Ralf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert, München 2003.
3 Vgl. etwa Dahrendorf, Ralf, Kulturpessimismus vs. Fortschrittshoffnung. Eine notwendige Abgrenzung, in: Habermas, Jürgen (Hg.), Stichworte zur geistigen Situation der Zeit, Bd. 1: Nation und Republik, Frankfurt am Main 1979, S. 213-228.

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