Titel
Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich


Autor(en)
Weichlein, Siegfried
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 137
Erschienen
Düsseldorf 2004: Droste Verlag
Anzahl Seiten
442 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartwin Spenkuch, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Siegfried Weichleins an der Berliner Humboldt-Universität entstandene Habilschrift führt thematisch mehrere anglo-amerikanische Arbeiten der letzten Jahre fort, die die deutsche Nationsbildung des 19. Jahrhunderts im Rahmen von Mittelstaaten untersucht haben 1, sie wertet die reiche landesgeschichtliche Literatur zu Bayern und Sachsen unter diesem Blickwinkel aus, und stellt mit einer Analyse von sechs weit gefächerten Untersuchungsfeldern eine empirisch gut untermauerte Synthese zu diesem Thema her. Durch die Breite seiner Untersuchungsfelder, die von Eisenbahn und Post über Niederlassungsrecht und Kommunalverwaltung bis zu Volksschule und politischer Feier reichen, geht Weichlein über bisherige Autoren hinaus; in den Schlussfolgerungen bekräftigt er weitgehend die jüngere Forschungsmeinung. Der Band besticht trotz zahlreicher Einzelergebnisse also weniger durch gänzlich neue Erkenntnisse oder Erschließung unbekannter Quellen denn durch eine systematisch durchgehaltene Frageperspektive, die konkrete Sachverhalte in eine insgesamt überzeugende, differenziert abwägende und klar gegliederte Argumentationskette zur Beziehungsgeschichte von Reich und Staaten 1866/70–1890 umsetzt.

Im Bereich der Kommunikation kann Weichlein belegen, dass Staatseisenbahnen wie Reichspost „im Parterre der Gesellschaft“, wie es entsprechend einer Formulierung Dieter Langewiesches mehrfach heißt, mindestens so sehr die Einzelstaaten Bayern und Sachsen stärkten wie sie die national-deutsche Integration förderten. Denn zum Beispiel der Linienbau der Eisenbahnen wurde vor wie nach 1866/70 auf die in München bzw. Dresden erwünschten, innerstaatlich belangvollen Strecken konzentriert, die Beschäftigten waren bayerische bzw. sächsische Beamte, und die Verwaltungen wachten misstrauisch über ihre speziellen Fahrplan- und Tarifgestaltungen. Im unter Heinrich von Stephan zentralisierten Postwesen erlaubte zwar ein Einheitsporto die reichsweite Kommunikation und die Briefträger waren Repräsentanten des Nationalstaats, aber der Brief- wie der Postzeitungsverkehr blieben im Untersuchungszeitraum quantitativ auf die Heimat in Bayern, Sachsen oder jedenfalls Süddeutschland konzentriert. So lautet denn das diesbezügliche Fazit (S. 184): „Der Faktor Region wurde durch die tendenzielle Nationalisierung der Kommunikationssysteme nicht zum Verschwinden gebracht.“

Auch die Nationsbildung durch Recht stärkte keineswegs allein die Loyalität zum Reich. Denn parallel zur großen einheitlichen Rechtskodifizierung der 1870er-Jahre – im Falle Bayerns unter Chlodwig Hohenlohe sogar schon einige Jahre davor – modernisierten auch die Einzelstaaten ihre Gesetze, teilweise, wie beim armen- und gewerberechtlich relevanten Niederlassungsrecht, zu Lasten der Kommunen, teilweise, etwa in der liberalen Umorganisation der kommunalen Selbstverwaltung, zugunsten der Gemeinden. Ob Weichlein in seinen Ausführungen zur Kommunalverwaltung durchgängig alle vertrackten Details ins rechte Verhältnis setzt, muss der Rezensent hier unerörtert lassen. Jedenfalls zielten die Reformen auf Loyalitätssicherung gegenüber den Einzelstaaten ab, und insbesondere Bayern bewahrte sich seine auf München zentrierte Einzelstaatlichkeit im Bismarckreich durch anschlussfähige Rechts- und Verwaltungsreformen. Dabei beobachtete die beamtenliberale Münchener Regierung grosso modo ein besseres Verhältnis zur katholisch-konservativen Landtagsmehrheit als die konservativ orientierte Dresdener Regierung, die bei alltäglichen Verwaltungsfragen vielfach in einen Antagonismus zur frühzeitig starken Sozialdemokratie im Lande geriet. Kampf gegen die SPD und Kulturkampf sieht Weichlein durchaus zu Recht als die Großkonflikte an, die die reichsweite Mobilisierung und Zusammengehörigkeit von Gesinnungsgemeinschaften in den 1870er/80er-Jahren am meisten förderten, ohne jedoch dem neuen Reich die Existenz im Sinne von Sezessionismus zu bestreiten.

In einem innovativen fünften Kapitel werden mit analytischer Akribie Volksschulgesetzgebung, Lehrplan und Schulbuchinhalte dargestellt. Hier zeigt sich Weichlein zufolge eine deutlich „nationalere“ Herangehensweise in Sachsen, wo die sächsische in die deutsche Geschichte eingeflochten wurde, während in Bayern dessen staatlich-monarchische Geschichte vorrangig und quantitativ dominierend behandelt werden sollte (S. 315f.). Unterschiedliche Entwicklungen zeigten sich zudem in Facetten wie dem stundenzahlmäßig sehr starken, konfessionellen Religionsunterricht in Bayern und der national gefärbten „Kulturalisierung“ der Unterrichtsfächer in Sachsen.

Im letzten Kapitel entdeckt Weichlein auch bei politischen Feiern ähnliche bayerisch-sächsische Unterschiede von Orientierung auf Staat und Dynastie einerseits, sächsischer Beziehungsgeschichte zu Kaiser und Reich andererseits. Der quantitativ dominierende ländliche Katholizismus schwang sich zum Siegelbewahrer bayerischer Identität auf, während in Sachsen das liberal-konservative Bürgertum nationale Feste feierte, die sozialdemokratischen Arbeiter hingegen beißenden Spott daran übten. Insgesamt freilich existierte in beiden Mittelstaaten die wohlbekannte Idee vom „engeren und vom weiteren Vaterland“ (S. 318). Diese im Band nur beiläufig genannte Kurzformel eignet sich auch, um die doppelte Identität aus regionaler Eigenart und national-deutscher Einbindung bildhaft zu erfassen, zumal sie die Zeitgenossen wie die spätere Historiografie durchaus benutzten.

Es ist zweifellos das lobenswerte Verdienst Weichleins, dass er die innere Staatsbildung Bayerns und Sachsens mitsamt ihren widerstreitenden Akteuren über zwei Jahrzehnte so genau in den Blick genommen und dass er sechs gut gewählte Themenfelder als Indikatoren so systematisiert untersucht hat. Zuweilen stellt sich gar überraschender Erkenntnisgewinn ein; so wird (S. 328) die über den Untersuchungszeitraum hinausweisende Beobachtung formuliert, dass die in sächsischen Lesebüchern vorfindbare, das ungeliebte preußische Berlin überspringende Perspektive auf „Deutschland in der Welt“ die mentale Grundlage für aggressiven Nationalismus gerade in Sachsens Städten stärkte.

Kritisch anmerken möchte der Rezensent kurz dreierlei. Einmal weist das Buch vereinzelte Sachfehler auf. So verweigerten keineswegs alle Staaten gewählten sozialdemokratischen Stadträten die Bestätigung (S. 282), vielmehr gab es 1911 in Württemberg, Bayern und Baden fast 100 SPD-Mitglieder in Stadtregierungen.2 Ferner verlief beim Staatsbürgerschaftsrecht i. w. S. der säkulare Übergang vom (mittelalterlichen) Personen- zum (modernen) Territorialverband, nicht umgekehrt (S. 283). Sprachlich wird für manchen Geschmack mitunter zu viel modisch-moderne Terminologie für gut bekannte Zusammenhänge verwendet, etwa Inklusion–Exklusion statt Einbeziehung–Ausgrenzung bei Rechtssetzungen oder kognitive Landkarten im Kontext der Massenpresse bis hin zum Neologismus „konsentiert“ (S. 241). An einigen Stellen werden Allgemeinweisheiten durch ein Stakkato von unvermittelten Kernsätzen aus dem Zettelkasten wiederholt (z.B. S. 280f.). Schließlich fragt man sich, ob bei der Gesamtdeutung der Integrationsprozesse 1866–1890 die jahrhundertealte deutsche Besonderheit des institutionalisierten Spannungsverhältnisses von Reich und Einzelstaat sowie die Revolution 1848/49 als geistesgeschichtliche bzw. realhistorische Vorläufer nicht etwas stärker zu berücksichtigen wären. Denn die innere Staatsbildung der Mittelstaaten – übrigens auch Preußens – wurde ja nicht erst durch die Reichsgründung vor neue Herausforderungen gestellt. Staatliche Bürokratien hatten das nach 1806/15 wie nach 1848/49 bereits vielfach erprobt, in Bayern insbesondere gefördert von gleich drei Königen. Insofern könnten die Kontinuitäten im Handeln und bei den Denkstrukturen größer gewesen sein, als sie im Band erscheinen. Doch darüber lässt sich selbst nach der gut argumentierten, weitgespannten und verdienstvollen Synthese Weichleins weiter forschen und debattieren.

Anmerkungen:
1 Die seit Sheehan, James, German History 1770–1866, Oxford 1989, einschlägigen Arbeiten von Applegate, Celia, A Nation of Provincials, Berkeley 1990; Confino, Alon, The Nation as a Local Meaphor, Chapel Hill 1997; Green, Abigail, Fatherlands. State-Building and Nationhood in Nineteenth Century Germany, Cambridge 2001, nennt Weichlein selbst. Da hierzulande v.a.D. Langewiesche und W. Hardtwig sowie diverse Landeshistoriker diesen Fragenkreis erkundet haben, ist die Formulierung innere Staatsbildung und Nationswerdung seien bisher „nur vereinzelt“ (S. 23) untersucht worden, wohl etwas überspitzt.
2 Vgl. die SPD-nahe Zeitschrift Kommunale Praxis 1911, Sp. 1123f.