D. Dakowska u.a. (Hgg.): Die Überlieferung der Diktaturen

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Titel
Die Überlieferung der Diktaturen. Beiträge zum Umgang mit Archiven der Geheimpolizei in Polen und Deutschland nach 1989


Herausgeber
Dakowska, Dorota; Bensussan, Agnés; Beaupré, Nicolas
Erschienen
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katarzyna Stokłosa, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

Der Sammelband von Agnés Bensussan, Dorota Dakowska und Nicolas Beaupré bietet einen Vergleich „der deutschen und polnischen Erfahrungen in ihrem jeweiligen Umgang mit den Polizeiarchiven des Kommunismus“ (S. 12). Die meisten Buchbeiträge betreffen die Öffnung der Archive der Geheimpolizeien und deren Auswirkungen auf politische und wissenschaftliche Debatten in Deutschland und Polen. Durch die vergleichende Perspektive beabsichtigen die HerausgeberInnen, „über die nationalen Einzelheiten des jeweiligen Kontextes hinaus, auch mögliche Analogien bzw. Konvergenzen fest[zu]stellen“ (S. 13). Leider befasst sich nur ein Aufsatz mit dem Umgang mit Quellen der Geheimpolizei in Tschechien, so dass das Ziel, „die Perspektive zu erweitern“ (S. 12, Anm. 10), nur bedingt erfüllt wird. Der Sammelband gliedert sich in zwei Teile: „Geheimpolizeiarchive: Archive wie andere?“ (I.) und „Geschichte schreiben“ (II.).

Die AutorenInnen des ersten Teiles, die überwiegend MitarbeiterInnen der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und des polnischen Instituts für Nationales Gedenken (IPN) sind, beschreiben die beiden Institutionen, ihre Funktionsweisen, die Gründungsgeschichten sowie Möglichkeiten und Probleme, die sich aus dem Zugang zu den Archivquellen ergeben. Pawel Machcewicz, Krzysztof Persak und Bernadetta Gronek analysieren Entstehung und Arbeit des Instituts für Nationales Gedenken. Die Tatsache, dass die Polen bei der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit „so weit hinter den Deutschen und Tschechen zurückgeblieben sind“ (S. 37), begründet der Historiker Machcewicz mit dem unterschiedlichen Regimewechsel und den Differenzen im Charakter der kommunistischen Herrschaftssysteme. Besonders in den letzten Jahren vor der „Wende“ von 1989 sei die Herrschaftspraxis in der VR Polen weniger repressiv gewesen als in der DDR und der Tschechoslowakei (S. 38). Gronek, Leiterin der Abteilung Zugänglichmachung und Archivierung im IPN, gibt einen Überblick darüber, wie Opfer des polnischen Geheimdienstes und Wissenschaftler den Zugang zu den für diese beiden Gruppen wichtigen Dokumenten am schnellsten bekommen können (S. 73-78). Bei der Analyse der rechtlichen Voraussetzungen kommt der Historiker Persak zu dem Schluss, Wissenschaftler hätten leichteren Zugang zu den Akten als die „Geschädigten“ selbst (S. 59).

Wegen der unterschiedlichen Perspektiven der Beiträge noch interessanter ist die Betrachtung des Archivs der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU). Günter Bormann schildert aus der BStU-internen Perspektive die Arbeit der Behörde mit dem Ziel, die für die Wissenschaftler relevanten Probleme und Chancen erkennbar zu machen. Er stellt fest, das Archiv der Bundesbeauftragten sei „ein besonders schwieriges, anspruchsvolles und in der Erschließung befindliches Archiv“ (S. 67), das den Wissenschaftlern mit Einschränkungen zur Verfügung stehe. Bei der Schilderung des aktuellen Diskussionsstandes um das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) und des Ergebnisses der StUG-Novelle kommt im Artikel von Johannes Beleites deutliche Kritik zum Ausdruck. Sie betrifft vor allem den Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit durch die Vorauswahl der vorzulegenden Unterlagen seitens der BStU und den begrenzten Zugang zu Findmitteln (S. 86f.). Weiter plädiert Beleites für uneingeschränkten Aktenzugang und die Anonymisierungspflicht nicht schon vor der Auswertung der Unterlagen, sondern erst vor deren Veröffentlichung (S. 97).

Bezüglich der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Tschechien konstatiert Muriel Blaive: „[D]ie Tschechen sind schnell und entschlossen vorgegangen, als es um die prinzipielle Verurteilung des kommunistischen Regimes ging. Sie haben hingegen langsam und vorsichtig gehandelt, als der Moment gekommen war, die persönliche Verantwortung festzustellen.“ (S. 125)

Im Teil II des Sammelbandes beschäftigen sich deutsche und polnische Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologen mit Themen, die dank der Nutzung der Akten der Geheimdienste der DDR und der VR Polen wissenschaftlich bearbeitet werden konnten. Andrzej Paczkowski, Marcin Kula und Antoni Dudek bieten eine Analyse zu Quellen des polnischen Sicherheitsapparates an. Paczkowski stellt Themen vor, die mit Hilfe von Akten der polnischen Geheimpolizeiarchive bearbeitet wurden. Zu den zwei großen Bereichen Forschungen zum Sicherheitsapparat und Forschungen zum gesellschaftlichen Alltag sind verschiedene Arbeiten entstanden, wie etwa Biografien und Memoiren der führenden Funktionäre, Studien zur operativen Tätigkeit des Sicherheitsapparates, Arbeiten über den gesellschaftlichen Widerstand oder die Stimmung in der Bevölkerung (S. 134-145). Auf vielen Gebieten gibt es jedoch weiterhin Forschungslücken (S. 146). Das zeigt auch Kula, dessen Beitrag größtenteils aus Fragen besteht, auf die er aufgrund der Auswertung der Akten der polnischen Geheimpolizeiarchive gern Antworten hätte. Er kommt zu dem Schluss, dass wegen des großen Umfangs der Geheimdienstbestände neue analytische Methoden erforderlich seien, die sich Historiker erarbeiten müssten (S. 203). Unter polnischen Politikern und Wissenschaftlern sind bezüglich der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit immer noch zahlreiche Meinungsunterschiede festzustellen, was Antoni Dudek nachweist (S. 214-224). In der polnischen Gesellschaft überwiege Enttäuschung über „die neue kapitalistische Realität“ und die politische Elite. Das führe dazu, dass ein großer Teil der polnischen Öffentlichkeit „in der Zeit der Diktatur mehr positive als negative Elemente“ sehe (S. 225).

Der Quellenwert der Unterlagen des Archivs des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wird aus der wissenschaftlichen Perspektive vom Historiker und Politologen Jens Gieseke sowie aus der Sicht der ehemaligen DDR-Oppositionellen Ulrike Poppe erläutert. Gieseke stellt fest, in Deutschland gebe es bezüglich der DDR-Aufarbeitung einen delegitimatorischen und einen analytischen Diskurs. Das sei der Unterschied zu anderen postkommunistischen Gesellschaften, in denen der analytische Diskurs nur schwach ausgeprägt sei (S. 151). Poppe schildert am eigenen Beispiel, welche Informationen die Betroffenen durch die Einsicht in die personenbezogenen MfS-Akten bekommen. Doch nicht nur Unterlagen aus dem Archiv des MfS sind für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit von großem Belang. Thomas Lindenberger plädiert für eine stärkere Berücksichtigung der Quellen der Volkspolizei, die differenzierte „Einblicke in die Interaktion von Staat und Gesellschaft“ gewährten (S. 181).

Im abschließenden Artikel formuliert Konrad H. Jarausch ein „Plädoyer für eine differenzierte DDR-Geschichte“. Nach der Darstellung des Themenspektrums der DDR-Forschung und der unterschiedlichen Diskurse bezüglich des SED-Regimes weist Jarausch auf Probleme hin, die sich für die Forscher aufgrund der Arbeit mit Stasi-Unterlagen ergeben. Wenn die Welt zu stark aus der Sicht des Geheimdienstes betrachtet werde, drohe eine „dichotomische Perspektive“, „die überall Feinde sieht, wo nur Andersdenkende vorhanden sind, und Verschwörungen auch dort wittert, wo es nur um unabhängige Aktivitäten geht“ (S. 236). Zur Vermeidung der genannten Fehler, aber auch zur Erweiterung des Horizonts spricht sich Jarausch für einen „systematischen Vergleich“ auf vier Ebenen aus: 1. NS-Diktatur, 2. Nachbarstaaten in Ostmitteleuropa, 3. Bundesrepublik und 4. „der internationale technologische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wandel, der die jeweiligen Blockgrenzen übersteigt“ (S. 237f.).

Der verdienstvolle Sammelband weist einige Mängel auf. So ist zu bedauern, dass in keinem der Beiträge eine vergleichende Perspektive für beide Länder eingenommen wird, sondern das Augenmerk der einzelnen AutorenInnen jeweils auf Deutschland oder Polen liegt. In der Einleitung wird dieser Vergleich nur teilweise geleistet. In den Aufsätzen über das Institut für Nationales Gedenken werden dieselben Informationen mehrmals wiederholt. Eine große Stärke bildet demgegenüber die interdisziplinäre Auswahl der Beiträge, deren Autoren sowohl Wissenschaftler als auch Praktiker sind. Für diejenigen, die mit Unterlagen der Geheimdienstarchive arbeiten, wird sich der Band mit Sicherheit als nützliches Nachschlagewerk erweisen. Auch allen anderen, die sich mit der Aufarbeitung der kommunistischen Diktaturen beschäftigen, kann er sehr zur Lektüre empfohlen werden.

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