Cover
Titel
Theatralität und Gedächtnis. Deutschsprachiges Geschichtsdrama seit Brecht


Autor(en)
Breuer, Ingo
Reihe
Kölner Germanistische Studien 5
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
507 S.
Preis
€ 67,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Krankenhagen, Humboldt-Universität zu Berlin

Schon die einleitende Bestimmung des zu untersuchenden Materials lässt ahnen, dass in Ingo Breuers Arbeit zum deutschsprachigen Geschichtsdrama Definitionen abgearbeitet werden (S. 3): „Es geht im folgenden um Werke, in denen Geschichte thematisiert wird, und um die Geschichte der Aneignung von Geschichte in literarischer Form.“ Derart verschachtelt geht es nicht weiter. Im Gegenteil, Breuer hat ein gut geschriebenes und äußerst materialreiches Buch vorgelegt – hervorgegangen aus seiner Marburger Dissertation –, das die Frage stellt, wie viel Geschichte eigentlich im Geschichtsdrama enthalten sein muss.

Breuer nähert sich dieser Frage über ein erstes Kapitel, in dem er die Bezugsgrößen seiner Untersuchung – Geschichte, Geschichtskultur und Geschichtsdrama – begriffshistorisch in Kürze vorstellt, um sie dann aufeinander zu beziehen. Deutlich wird, dass mit Goethes „Götz von Berlichingen“ die Parameter nicht nur der dramatischen Gattung, sondern auch diejenigen des „Nexus von Historie und Nation“ (S. 31) vorgegeben wurden, die das Geschichtsdrama fortan zu einem „poetologischen und gesellschaftspolitischen Programm“ (S. 34) werden ließen. Eine Gemengelage aus Geschichte, Mythos und Drama kulminierte in der Rede vom nationalen Gefühl, für das Vergangenheit und Gegenwart in eins fallen sollten. Dass auf dieser Grundlage heute kein Begriff von Geschichtsdrama mehr entwickelt werden kann, ist evident; dass die Literaturwissenschaft diese Konsequenz an vielen Stellen aber nicht gezogen hat, ist ein Antrieb für Breuers Neuformulierung.

Breuer entlastet das Geschichtsdrama von der Verpflichtung zu Faktizität oder Dokumentarismus, ohne damit der Versuchung nachzugeben, die Gattungsdefinition zu umgehen. „‚Geschichtsdrama’ wird hier unter systematischen Gesichtspunkten gefaßt, das heißt, daß es nicht als historisch auf das späte achtzehnte und das neunzehnte Jahrhundert fixierte Form begriffen wird, sondern als historisch wandelbares literarisch-theatralisches Modell der Aneignung und Darstellung von Historizität, das in enger Beziehung zu anderen Verfahren wie Historiografie, kulturelles bzw. kollektives Gedächtnis und historische Romane sowie generell zu Vorstellungen von Geschichtlichkeit steht. Erkauft wird ein solches Modell durch den Verzicht auf feste Dramenformen; sein Gewinn besteht darin, daß keine Geschichtsphilosophie und keine Vorstellung von Geschichte den jeweiligen Werken vorgeschaltet wird, sondern die dramatischen Aneignungen von Geschichte selbst historisch begreifbar und vergleichbar werden.“ (S. 73) Die Bestimmung des Geschichtsdramas ist damit selbstreflexiv, nicht unähnlich Adornos Analyse in seinem „Versuch, das Endspiel zu verstehen“1 – ein Referenztext, den Breuer nennt, der aber auch in seinen Überlegungen zu Sinnlosigkeit und Sinnhaltigkeit dargestellter Wirklichkeit aufscheint (vgl. S. 88, Anm. 258).

Gleichzeitig präsentiert sich die Arbeit als eine kulturwissenschaftliche Reformulierung des Geschichtsdramas im Kontext der Germanistik und knüpft hier, bewusst oder unbewusst, an die Arbeiten der Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal an.2 Wie diese für ihre Disziplin plädiert Breuer für eine vielschichtige Kontextualisierung der Germanistik, für eine Öffnung in Richtung der performativen und medialen Aspekte von Literatur und Theater als (Mit-)Produzenten von Bedeutung sowie gegen die Instrumentalisierung der Kulturwissenschaften im Kampf um Stellen und Mittel (S. 82-88). Dieses Modell einer kulturwissenschaftlich orientierten Germanistik leuchtet besonders in Bezug auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand ein. Denn das Nachdenken über Nationalität, über Geschichte und Theater orientiert sich längst an transnationalen, narrativen und performativen Modellen. Dabei wird die zentrale Rolle der Literatur/des Dramentextes als Forschungsobjekt von Breuer nicht in Frage gestellt, und seine Methode bezieht sich auf den kulturorientierten Kontext der Philologie des frühen 19. Jahrhunderts.3

In den folgenden vier Kapiteln trägt Breuer seine entwickelten Analysekriterien, die sich weniger an Historizität als an „Signalen der Historizität“ (S. 94) orientieren, an die Stücke von Brecht, Kipphardt, Weiss, Frisch, Forte, Müller, Jelinek und Goetz heran. Dabei nimmt Brecht eine neue Leitfunktion ein: Er löst gewissermaßen Goethes „Götz“ in seiner Funktion als stilbildendes Beispiel für das deutsche Geschichtsdrama ab. Bei Brecht findet Breuer ein geschichtsdramatisches Verständnis entwickelt, das sich mit dem Mittel der Satire als Sprach- und Diskurskritik begreift und dabei performative Praxis – die Interferenz von Text und Inszenierung – in der Gleichzeitigkeit der diskontinuierlichen Zeitebenen verwirklicht. Der Brechtsche Lösungsansatz besteht Breuer zufolge in der Erkenntnis, „daß ‚wir’ keine in sich konsistenten Subjekte, sondern ein ‚Ensemble’ von Gegenwärtigem und Vergangenem darstellen“ (S. 102). In der Figur der stummen Kattrin in „Mutter Courage“ werde zudem ein Moment grundlegender Kulturkritik sichtbar (S. 121): „[A]ls Fluchtpunkt [bleibt] nicht Kultur und Literatur, sondern ein Handeln, das zudem am Schluß auf der Nächstenliebe und nicht auf taktischen (‚listigen’) und kommerziellen Erwägungen beruht.“ So stellt sich Brechts episches Theater nach der Lektüre dieses Kapitels als eine Montage disparater kultureller Zeichen dar, deren ästhetische Konfrontation jedoch Lukács’ Realismus-Begriff zum Vorbild haben dürfte.

Auch für Peter Weiss und Heiner Kipphardt steht Sprache als Instrument der Herrschaft im Zentrum ihrer Stücke, die den zweifelhaften Ruf genießen, dokumentarisches Theater zu sein. Dass Breuer den „Mythos ‚Dokumentartheater’“ (S. 146) dekonstruiert, dürfte nicht sonderlich verwundern. Er ist jedoch so klug, den unbedingten Wahrheitsanspruch der Autoren genauso herauszustellen wie deren Zweifel an einem quasi natürlichen, über Dokumente ermöglichten Zugang zu Geschichte. Es geht um ‚bloße’ Wirklichkeit versus objektive Wirklichkeit, die in ihrer Objektivität jedoch immer hergestellt ist. Die „Ermittlung“ ist hierfür ein geeignetes und vielzitiertes Beispiel. Breuer beschreibt konsequent die ästhetischen (Selbst-)Distanzierungsstrategien des Stückes bei gleichzeitig stattfindender und unvermeidlicher Kulturalisierung des Symbols Auschwitz – eine Position, in die sich die Künstler und Literaten ‚nach Auschwitz’ und ‚nach Adorno’ gesetzt sahen. Ziel ist das „Einbrechen der Vergangenheit in die Gegenwart“ (S. 239). Eine solche Durchdringung vollzieht sich sowohl bei „Bruder Eichmann“ als auch in der „Ermittlung“ über die literarische Fokussierung auf den leidenden Körper. Die Präsenz des geschundenen Körpers als Fels in der semiotischen Brandung garantierte Weiss und Kipphardt ihre authentische Vergegenwärtigung von Geschichte.

Dass sich bereits aus „der bloßen Stoffwahl“ (S. 67) ein spezifisches Verständnis des Autors für geschichtliche Prozesse ableiten lasse – eine von Breuer zitierte These Werner Kellers –, kann umstandslos auf die Stücke von Heiner Müller übertragen werden. Dessen Auseinandersetzung mit deutschen Geschichtsmythen lässt das kollektive Gedächtnis als Nivellierung biografischer Momente erscheinen, besonders der traumatischen unter ihnen. Die Arbeit, das Kollektiv mit dem Individuum auf streng subjektivistischer Basis kurzzuschließen, hat Einar Schleef fortgesetzt und setzt Christoph Schlingensief heute fort. Für Breuer ist Müller wichtig, weil mit ihm das „Choc-Theater im Sinne Artauds“ (S. 356) auf eine geschichtsreflexive Basis gestellt worden sei. Geschichte stellt sich für Müller als eine Flut von Zitaten, Diskursen, Ideologien und evozierten Bildern dar. Nicht Reduktion, sondern Überschwemmung ist sein ästhetisches Mittel. Müllers Zuschauer sieht in einer „dramatischen Revue“ (S. 247) auf die endlosen Trümmer der Katastrophen.

Breuers Arbeit zeigt das deutsche Geschichtsdrama seit Anfang des 20. Jahrhunderts als eine Verhandlung über Geschichte, als eine Diskurs- und Rezeptionsforschung in eigener Sache. Dass seine Neuformulierung des Genres auch Elfriede Jelinek und Rainald Goetz mit einbezieht, spricht für die Ernsthaftigkeit der Analyse. Von Pop Art und Popmusik geprägt, die Verbindung zwischen Feminismus und Marxismus bzw. zwischen Subkultur und Bildungskanon suchend, stehen Jelinek und Goetz weiterhin am Rand der Literaturwissenschaft. Ihre Beiträge zum Geschichtsdrama sind „Sprachhüllen“ (S. 403), das „Fragment einer Handlung“ (S. 416) und „Unklarheit“ (S. 461). Alle diese Momente erfüllen aber den Zweck, den auch die vorliegende Arbeit erfüllt: veränderte Wirklichkeit als Anlass für eine Reflexion ihrer Darstellung zu nutzen.

Anmerkungen:
1 Adorno, Theodor W., Versuch, das Endspiel zu verstehen, in: Ders., Noten zur Literatur II, Frankfurt am Main 1961, S. 188-236.
2 Bal, Mieke, Kulturanalyse, Frankfurt am Main 2002. Für die folgenden Überlegungen vgl. S. 7-27.
3 Vgl. hierzu Böhme, Hartmut; Matussek, Peter; Müller, Lothar (Hgg.), Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 26-30.

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