C. Jansen (Hg.): Nach der Revolution 1848/49

Titel
Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung - Realpolitik - Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten 1849-1861


Herausgeber
Jansen, Christian
Erschienen
Düsseldorf 2004: Droste Verlag
Anzahl Seiten
813 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Frölich, Friedrich-Naumann-Stiftung, Archiv des Liberalismus

Über den Sinn und Unsinn von Editionen lässt sich trefflich streiten. Diese hier gehört zweifellos zu den verdienstvollen, obwohl sie eine vollständige Wiedergabe ihres Gegenstandes weder erreichen kann noch eine solche anzustreben vorgibt (S. XVIII). Aber auch als immer noch sehr umfangreiche Auswahl bietet sie – nicht nur aus Sicht der Parteien- und Liberalismus-Forschung – eine äußerst sinnvolle und hilfreiche Ergänzung bisheriger Editionen.1 Zudem kann man sie gewissermaßen als Dokumentenband zu Jansens Habilitationschrift nehmen, wobei das hier behandelte politische Spektrum weiter gefasst ist. 2

Abgedruckt werden 418 Briefe aus der Zeit von Mitte 1849 bis Anfang 1862. Sie stammen fast alle von Männern aus dem Bürgertum, die sich zu dieser Zeit der Demokratie oder dem konstitutionellen Liberalismus zurechneten. Frauen sind als Schreiber oder Empfänger nur ganz wenige vertreten, u.a. Fanny Lewald und Jenny Marx; über sie wird vor allem in familiären Zusammenhängen gesprochen. Formal und chronologisch fällt nur das letzte Dokument aus dem Rahmen, für das ein eigener Anhang geschaffen wurde. Gut 10 Prozent der 418 Dokumente sind zumindest zum Teil bereits früher publiziert worden. Zahlenmäßig ragen unter den Absendern Hermann Baumgarten, Heinrich Becker, Hermann Schulze(-Delitzsch) und Carl Vogt heraus. Unter den Adressaten sind es Georg Gervinus - dessen Heidelberger Nachlass überhaupt einen reichen Fundus einbringt -, Carl Mayer, Fedor Streit, Moritz Hartmann sowie Ludwig Bamberger und Max Duncker, was schon das breite politische Spektrum beleuchtet.

Der Bearbeiter und Herausgeber hat das Textcorpus zeitlich in drei Abschnitte aufgegliedert (S. XVIf): die unmittelbare nachrevolutionäre Epoche (bis Ende 1851), der Übergang zur Realpolitik (bis Mitte 1857) sowie die Reorganisation der national-liberalen Bewegung (bis Ende 1861). Er will damit einerseits der seines Erachtens künstlichen historiografischen Trennung zwischen einer Revolutions- und einer Reichsgründungsphase entgegenwirken 3, zum anderen aber auch innerhalb der Epoche neue Einschnitte herausstellen. Während man dies in einem Fall, der Installierung des neobonapartischen Regimes im Dezember 1851, noch gut nachvollziehen kann, weil die Politik Napoleons III. mittelbar vor allem unter den Emigranten, aber nicht nur dort, zu einem erbitterten Streitpunkt wurde, erscheint die Vorverlegung des „liberalen Aufbruchs“ in den späten 1850er Jahren doch etwas problematisch. Dazu muss man nicht allein hinsichtlich der Bewertung der Neuen Ära in Preußen – deren Beginn für Jansen „als Zäsur bei weitem überschätzt“ wird (S. XVII, S. 610 Anm. 4) – anderer Ansicht sein. Durch den Einschnitt von 1857 wird das Wiederaufleben der liberalen Nationalbewegung in Deutschland auch zu sehr von den von Italien ausgehenden Impulsen abgelöst, deren große Bedeutung aber weder von inländische Aktivisten wie Fedor Streit (Nr. 352) noch von Emigranten wie Heinrich Simon (Nr. 361) bestritten wurde. Ganz unverständlich bleibt die Abtrennung eines als „Anhang a)“ verkleideten Abschnitts IV „Aus den Anfängen der Fortschrittspartei“; die dort abgedruckten Briefe unterscheiden sich thematisch und formal nicht von denen am Ende des vorhergehenden Teils, da sie ebenfalls mehrheitlich dem Umfeld des Nationalvereins entstammen.

Dennoch und trotz einiger kritischer Anmerkungen zur insgesamt sehr guten Kommentierung – etwa die Verwechslung der liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine mit den so genannten arbeitgeberfreundlichen „gelben“ Gewerkschaften (S. XXVI) oder von Frau und Mutter des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (S. 648); bei dem auf S. 343 genannten Langendorff dürfte es sich um den „Verschwörer“ Dr. Ladendorff handeln 4 – bedeutet der Band eine überaus anerkennenswerte editorische Leistung, die jeder nachvollziehen kann, der einmal mit Handschriften des 19. Jahrhunderts aus privater Provenienz, womöglich noch mit Konzepten, zu tun hatte. Diese Leistung ist umso mehr herauszustellen, als die Briefe in der Regel nicht auf das vermeintlich „politisch Bedeutsame“ gekürzt wiedergegeben werden. Dadurch erhält man ungeheuer viele Einblicke in die Seelenlage der Schreiber, die vor allem bei den Emigranten zunächst sehr angespannt war, aber auch in die alltäglichen Probleme, mit denen die Revolutionäre innerhalb und außerhalb Deutschlands zu kämpfen hatten. Nicht von ungefähr dreht sich ein großer Teil der Korrespondenz in den ersten Jahren vorrangig um finanzielle Dinge, aber häufig auch um Krankheiten. Julius Fröbels enthusiastische Beschreibung des Lebens in New York stellt schon eine extreme Ausnahme dar. Allerdings war dieser Brief (Nr. 35) offensichtlich von vornherein zur Publikation gedacht. Aber auch von den im Lande verbliebenen Ex-Revolutionären liegen erschütternde Zeugnisse vor, vor allem wenn sie ihr politisches Engagement ins Gefängnis geführt hatte (Nr. 17, 22, 27, 79, 113). Selbst bei denen, die wie Ludwig Aegidi, Theodor Mommsen oder Hermann Baumgarten nicht vertrieben oder direkt verfolgt wurden, stellten sich große Sorgen bezüglich der beruflichen Zukunft und des Broterwerbs ein, denn unter der „Reaktion“ litten auch der Wissenschaftsbetrieb und die Publizistik, bis dato zentrale Erwerbsquellen bürgerlicher Politiker. Überhaupt bietet der Band viel Material zur Pressegeschichte, angefangen von den zwangsläufigen Querelen zwischen jeweils um ihre Existenz fürchtenden Journalisten und Verlegern (etwa Nr. 41, 96, 117, 127, 139) über zahlreiche, weitgehend missglückte Versuche später, neue Publikationsorgane ins Leben zu rufen oder an alte anzuknüpfen (Nr. 115, 174, 244ff., 328), bis hin zu den Problemen bürgerlicher Journalisten, ein volkstümliches Massenblatt zu kreieren (Nr. 112, 350).

Für die Erhellung der politischen Diskurse ist vor allem das breite Spektrum und die Einbeziehung von Emigranten und Nichtemigranten, resp. „nachwachsenden“ Politikern bedeutsam. Es ist sicher kein Zufall der Auswahl, dass die Korrespondenz vorrangig nicht nur entlang politischer Scheidelinien, etwa Konstitutionelle hier, Demokraten dort, sondern auch geografischer Grenzen verlief: Zumeist korrespondierten „Inländer“ ebenso unter sich wie die Exilierten, wobei sich dann bei Letzteren nochmals bestimmte Subzentren wie die Schweiz, Paris und England herausbildeten. Nur von Württemberg aus bestand offensichtlich einer engerer Kontakt zur Emigrantenszene in der Schweiz. Während jedoch die „Inländer“ später einen gewissen Schub zur politischen „Grenzüberschreitung“ und nationalen Vernetzung erhielten, der organisatorisch seinen Ausdruck im Nationalverein fand, verlief unter den Emigranten die Entwicklung genau umgekehrt: Die Klüfte und Gegensätze nahmen zu und wurden in der Öffentlichkeit bis hin zu Gerichtsprozessen ausgetragen. Bereits im September 1850 stellte Ludwig Simon fest: „Dass die deutsche Emigration, welche täglich das Maul voll Völker Verbrüderung nimmt, derweil nicht besseres zu thun weiß, als sich täglich zu entbrüdern, ist eine alte Geschichte.“ (Nr. 71) Insbesondere über die italienische Frage entzweiten sich die Emigraten seit 1859, wobei weniger Italien an sich der Streitpunkt war, sondern die Frage, von wem die größere Bedrohung für Freiheit und Einheit in Deutschland ausginge: Österreich oder Napoleon III.? Dass sich sowohl die preußische Neue-Ära Regierung als auch – unter anderen Auspizien – der Nationalverein bei der Antwort darauf dilatorisch verhielten, einte die Emigranten zumindest in ihrer Abneigung gegen die politischen Entwicklungen in der Heimat. Karl Nauwerck kam deshalb im Oktober 1860 zu dem wohl für jede Generation typischen Schluss: "Bei aller Bescheidenheit müssen wir 48er uns gestehen, dass wir noch kaum ersetzt sind.“ Denn alle Nachrichten stimmten darüber ein, „dass daheim sehr geringer tüchtiger Nachwuchs zu verspüren sei [...] Die studirte Jugend aus den schlimmsten Reaktionsjahren soll meist unter aller Kritik sein: kein Gedanke über Amt und Brod und Genußleben hinaus“ (Nr. 372). Und Ludwig Bamberger konstatierte ein halbes Jahr später: „Es ist meine innige Überzeugung, dass Deutschland von seinem Jammer nur durch ein Guillotinen-Zeitalter befreit werden kann, und das werden wir nicht mehr erleben.“ (Nr. 390) Der spätere Anschluss an den Nationalliberalismus ist bei Bamberger hier noch ebenso wenig abzusehen wie bei Johannes Miquel (Nr. 160).

Nicht zu verkennen ist allerdings, dass ein Teil der Linken von 1848, auch unter den Emigranten, insofern Anschluss an den neuen Kurs im liberalen Lager fand, als das nationale und machtpolitische Element immer mehr in den Vordergrund trat (Nr. 336, 361), wie andererseits aus ähnlichen Gründen auch unter den gemäßigten Kleindeutschen die Enttäuschung über den Verlauf der Neuen Ära wuchs (Nr. 317, 340). Die Neugruppierung der politischen Kräfte seit 1859 entsprang sicherlich nicht nur einem strategischem Moment, das – wie Heinrich Sybel meinte – zu einem „unnatürlichen Bündnis“ von Gemäßigten und Radikalen führte.5 Den Nationalverein sowie bald darauf die Fortschrittspartei einte auch eine große Übereinstimmung im Hinblick auf die für Deutschland gewünschte Zukunft, und so ist es kein Wunder, dass das Thema Nationalverein sich in den letzten 120 Briefen immer mehr in den Vordergrund schiebt. Wer, aus welchen Gründen auch immer, Probleme mit dem dahinter stehenden Programm hatte, etwa weil er Österreich als einen unabänderlichen Bestandteil Deutschlands ansah oder weil er die Zusammenarbeit von ehemaligen Konstitutionellen und Demokraten ablehnte oder weil er in einem integrativ-abwartenden Kurs des Nationalvereins keinen Sinn erblickte, geriet wie beispielsweise Julius Fröbel, Karl Rodbertus oder die gesamte englische Exilgruppe schnell ins Abseits oder in die Isolierung. Im Falle von Ferdinand Lassalle lagen dem aber wohl weniger politische als vielmehr persönliche Gründe zugrunde. (Nr. 240, 321)

Die Briefe verdeutlichen sehr schön, wie die kleindeutsch-konstitutionelle Argumentationslinie im politischen Diskurs des liberalen und demokratischen Bürgertum seit 1858/59 die Hegemonie gewann und die Gründung des Nationalvereins eigentlich „folgerichtig“ war, so sehr über seinen politischen Kurs von Anfang an in- und extern im Detail gestritten wurde. Angesichts dieses Amalgams aus Konstitutionalismus und Demokratie, aus Patriotismus und Freiheitsbestrebungen ist aber nicht ganz nachvollziehbar, warum der Bearbeiter diese Richtung wiederholt als „nationalistisch“ charakterisiert. Wie schrieb doch der von Jansen als „großdeutscher Republikaner“ (S. XXVII) apostrophierte Georg Fein 1860 an Carl Vogt: „Die Tage einer weltbürgerlichen Überschwänglichkeit [...] liegen schon längst hinter mir. Allem voran Deutschlands Ehre, Unabhängigkeit und Macht, und damit folgerecht auch seine Freiheit!“ (Nr. 336) Die Frage, ob Macht und Einheit das freiheitliche Elemente überdecken oder ganz verdrängen sollten, lag noch vor diesen Liberalen. Deshalb ist es, auch zur Unterscheidung von weit späteren Entwicklungen, wohl angemessener, von „nationalliberaler“ oder ggf. auch „nationaler“ Bewegung zu sprechen.

Am Schluss bleibt aber vor allem, noch einmal die immense Leistung herauszustreichen, die diese imposante Quellendokumentation hervorgebracht hat. Wir bekommen in Hülle und Fülle Material und Einblicke in die politischen, sozialen, mentalen und alltäglichen Horizonte des nachrevolutionären Bürgertums in Deutschland, welches zugleich das Bürgertum der Reichsgründung ist. Für dessen Geschichte stellt die Edition eine äußerst wichtige Dokumentation dar.

Anmerkungen
1 Vgl. etwa Heyderhoff, Julius (Bearb.): Die Sturmjahre der preußisch-deutschen Einigung 1859-1870. Politische Briefe aus dem Nachlaß liberaler Parteiführer. Bonn 1925. Nachdruck Osnabrück 1970; Silberner, Edmund (Hrsg.): Johann Jacoby – Briefwechsel 1850-1877. Bonn 1978; Biefang, Andreas (Bearb.): Der Deutsche Nationalverein 1859-1867. Vorstands- und Ausschußprotokolle. Düsseldorf 1995.
2 Jansen, Christian: Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politk in der nachrevolutionären Epoche 1849-1867. Düsseldorf 2000.
3 Vgl. dazu auch Jansen, Christian: Politischer Streit mit harten Bandagen. Zur brieflichen Kommunikation unter den emigrierten Achtundvierzigern. In: Jürgen Herres/Manfred Neuhaus (Hrsg.): Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Berlin 2002, S. 49-100, bes. S. 52f.
4 Vgl. dazu Löwenthal, Heinrich: Die Ladendorff’sche Verschwörung. In: Staat und Recht 3 (1954), S. 487-522.
5 Sybel, Heinrich von: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Vornehmlich nach den preußischen Staatsacten. Volksausgabe 2. Aufl. Berlin/München 1908, Bd. 5, S. 271.