J. Berger: Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach

Titel
Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach (1739-1807). Denk- und Handlungsräume einer ‚aufgeklärten’ Herzogin


Autor(en)
Berger, Joachim
Erschienen
Anzahl Seiten
679 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Coester, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Schon der Untertitel der vorliegenden Studie über Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach verortet ihren Autor Joachim Berger im Lager derjenigen Biografieforscher, die sich von einer chronologisch-narrativen Beschreibung des angeblich selbst bestimmten Lebenslaufes ihres Protagonisten bzw. ihrer Protagonistin abwenden und die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Untersuchung von „Lebensbereichen“, „Umfeldern“ oder „Wirkungskreisen“ und deren Interdependenzen und Konflikte konzentrieren. „Denk- und Handlungsräume einer ‚aufgeklärten’ Herzogin“ lautet der Untertitel, der nicht nur mit den Begriffen „Denkraum“ und „Handlungsraum“, sondern auch durch die Setzung des Wortes „aufgeklärt“ in Anführungszeichen Bergers Programm vorwegnimmt. Anna Amalia wird nämlich nicht automatisch als Begründerin des so genannten Weimarer Musenhofes (auch dieses letzte Wort findet sich nur in Anführungszeichen), ihr Umfeld nicht von vornherein als herausragend verstanden, sondern beides – der Hof und die Herzöge – als durchschnittlich, verglichen mit anderen deutschen Kleinstaaten und ihren Fürsten am Ende des Alten Reiches. Schließlich habe man es bei der Behauptung, Anna Amalia sei die Begründerin dieses „Musenhofes“, mit einer Legende zu tun; und hinsichtlich der Vorstellung, die kleine Residenzstadt sei das Zentrum klassischer (auch dies in Anführungszeichen) deutscher Literatur gewesen, säße man einer „konsequenten Selbststilisierung Weimars“ auf, verbreitet nicht zuletzt durch die „publizistische Offensive“ Goethes (S. 17). Mit seiner Untersuchung möchte Berger diese Legende „methodisch kontrolliert dekonstruieren“ (S. 9), was aber letztlich – um dies gleich vorweg zu nehmen – zur Schaffung eines „Anti-Mythos“ führt, der auf kaum weniger forcierte Weise als die „Musenhof-Legende“ selbst, diese in ihr Gegenteil zu verkehren sucht.

Das große Verdienst Bergers besteht unzweifelhaft darin, überhaupt die erste heutigen Anforderungen an eine wissenschaftliche Biografie genügende Untersuchung zu Anna Amalia vorgelegt zu haben. So unglaubwürdig es klingen mag: Von einigen romantisierenden Darstellungen ohne jeden theoretischen Anspruch abgesehen, in denen das Leben der Herzogin in chronologischer Abfolge erzählt und in nur unzureichender Weise auf übergreifende Fragestellungen eingegangen wird, datiert die letzte ernsthafte Auseinandersetzung mit der angeblichen Begründerin des „Weimarer Musenhofes“ vom Anfang des letzten Jahrhunderts. 1 Für sein Buch hat Berger erstmals den gesamten Nachlass der Herzogin durchgearbeitet, sich dem nicht unproblematischen Briefwechsel gewidmet und noch einige weitere Quellen eingesehen. Lücken in der Überlieferung werden nicht überspielt, sondern als solche kenntlich gemacht (z.B. S. 341). Die überwältigende Fülle an Material gliedert Berger nicht nach chronologischen Gesichtspunkten, sondern anhand eines Rollenmodells, aufgrund dessen sich die einzelnen Kapitel der Protagonistin als „Tochter und Schwester“, „Ehefrau und Mutter“, „Landesmutter“ (d.h. als Regentin in der Zeit der Obervormundschaft), „Dilettantin“ (d.h. als selbst tätig werdende Künstlerin), „Mäzenin und Zentralfigur der Geselligkeit“ sowie „Reisende“ widmen.

Obwohl dieses Vorgehen grundsätzlich einleuchtet, wirkt der Aufbau der Studie etwas schwerfällig, was nicht zuletzt auf die ungenügende Selektion des Stoffes und dessen streckenweise unzureichende Durchdringung zurückzuführen ist. Dieses letzte Problem wird etwa an Punkt drei des ersten Kapitels deutlich, der sich Anna Amalias Rolle als fürstliche Schwester widmet: Nacheinander werden zuerst die Brüder, dann die Schwestern der zukünftigen Herzogin abgehandelt – zwar immer mit Blick auf die Beziehung, in der sie jeweils zu Anna Amalia standen, doch ohne synthetisierenden Zugriff. Für den Erkenntnisgewinn wäre es sicher besser gewesen, sämtliche Geschwister in einem Kapitel zu behandeln und die Ergebnisse zu bündeln, anstatt sie auf sechs verschiedene Unterkapitel zu verteilen. Hinsichtlich der nur unzureichend erfolgten Selektion des Stoffes und des manchmal erdrückenden Detailreichtums sei auf Bergers Ausführungen über die (letztlich nie realisierten) Eheprojekte Constantins verwiesen. Ausführlich werden die Liebesbeziehungen und Heiratswünsche von Anna Amalias jüngerem Sohn beschrieben, ohne dass jedoch der Fokus auf die Mutter gerichtet wäre, um die es in dieser Biografie ja eigentlich gehen müsste (S. 209-215). Natürlich besitzen derartige Teiluntersuchungen große Bedeutung und sind für das Verständnis des Weimarer Hofes unabdingbar – doch sollte ihnen gerade in einer Biografie der Stellenwert eingeräumt werden, den Berger ihnen zugesteht, während auf der anderen Seite eine für die Protagonistin prägende Bekanntschaft wie die mit Giuseppe Capecelatro, der von ihr selbst als „mein beste[r] Freund“ bezeichnet wurde (S. 580), auf zweieinhalb Seiten abgehandelt wird?

Die Tatsache, dass es Berger an vielen Stellen nicht wirklich gelingt, die Figur Anna Amalias plastisch aus dem Text hervortreten zu lassen, liegt wohl auch an der nur spärlichen Verwendung von direkten Zitaten aus den Quellen. Natürlich darf eine wissenschaftliche Biografie nicht von wörtlichen Zitaten dominiert werden, doch kann an den Kapiteln über die Beziehung der Fürstin zu ihren Brüdern die Bedeutung von Quellenzitaten für die Belebung der Hauptfigur demonstriert werden. Während nämlich Anna Amalias Verhältnis zu ihrem Bruder Leopold etwas farblos bleibt, gelingt es dem Autor, ihre Beziehung zu Friedrich August mithilfe von Zitaten aus den Briefen äußerst plastisch werden zu lassen (S. 83). Aus der Sekundärliteratur zitiert Berger hingegen gern, wobei die Auswahl der Stellen oft nicht nachvollziehbar ist. Warum muss der Allgemeinplatz, dass bürgerliche Lehrer adliger Kinder weisungsgebunden waren, wörtlich aus der Forschungsliteratur zitiert werden (S. 121f.)? Warum die Feststellung, der Aufbau einer Bibliothek biete einer Fürstin die Möglichkeit, eigenständig kulturell zu handeln (S. 414)?

Hinsichtlich des Geschlechteraspekts sieht sich Berger offensichtlich mit dem Problem konfrontiert, zwar die Biografie einer Frau zu schreiben, die Entwicklungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte der letzten Jahre (und Jahrzehnte) aber nur en passant verfolgt zu haben. Um das „weibliche Selbst- und Fremdverständnis Anna Amalias“ (S. 27) dennoch in die Darstellung mit einzubeziehen, fügt er den Kapiteln resümierende Schlusskapitel bei, in denen die jeweiligen Ergebnisse hinsichtlich der „Handlungsspielräume“, „Geschlechtsspezifika“ und „Aufgeklärtheit“ (wieder in Anführungszeichen) zusammengefasst werden. Der Kategorie „Geschlecht“ sind dabei nur wenige Absätze gewidmet, in denen etwa zu lesen ist, Anna Amalias Kunstliebhaberei sei zu einem „spezifisch weiblichen Rückzugsraum“ geworden, dem sie „geschlechtsspezifische Deutungen“ verliehen habe (S. 385), oder dass ihre Reisetätigkeit kaum in „formale Raster weiblicher Reisen“ eingepasst werden könne (S. 584). Auch an anderen Stellen hantiert Berger mit Begriffen wie „spezifisch weibliche Architekturikonographie“ (S. 409) oder dem „besonderen ‚weiblichen Blick’“ (S. 519), ohne näher auszuführen, was hierunter zu verstehen sei.

Der oben erwähnte Eindruck schließlich, der Autor wolle die „Musenhof-Legende“ in einen „Anti-Mythos“ verkehren, entsteht nicht zuletzt aufgrund des Blickwinkels, den er zeitweise einnimmt, um die Handlungen seiner Protagonistin zu beurteilen. So wird die charakterliche Erziehung der Söhne durch Anna Amalia als „Dressur“ (wenn auch in Anführungszeichen) bezeichnet (S. 137), der Fürstin werden, etwa im Falle ihrer Konformität mit der dynastischen Räson, „eigenständige Vorstellungen“ abgesprochen (S. 203), oder es finden sich unsere heutigen Ansichten über Liebe und Ehe auf ungerechtfertigte Art und Weise auf die Heiraten ihrer Söhne übertragen: Denn natürlich war die Gebärfähigkeit der Schwiegertochter wichtiger als die Frage, ob das Paar „zwischenmenschlich harmonisierte“, und natürlich reichte ein Tag für Braut und Bräutigam aus, um aneinander „Gefallen zu proklamieren“ (S. 197f.).

Die genannten Kritikpunkte können die Bedeutung dieses Buches für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach jedoch nicht schmälern. So muss abschließend Joachim Bergers Untersuchung, trotz der genannten Abstriche, als quellenmäßig fundierter und längst überfälliger Beitrag zu einer bedeutenden deutschen Fürstin betrachtet werden.

Anmerkung:
1 Bode, Wilhelm, Amalie, Herzogin von Weimar, 3 Bde., Berlin 1908. Als Beispiele für die neueren, unzureichenden Veröffentlichungen seien genannt: Salentin, Ursula, Anna Amalia. Wegbereiterin der Weimarer Klassik, Köln 1996; Werner, Charlotte Marlo, Goethes Herzogin Anna Amalia. Fürstin zwischen Rokoko und Revolution, Düsseldorf 1996.

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