U. Sträter u.a. (Hgg.): Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit

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Titel
Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. Beiträge eines Festkolloquiums zum 300jährigen Gründungsjubiläum der Franckeschen Stiftungen 1998


Herausgeber
Sträter, Udo; Neumann, Joseph N.
Erschienen
Tübingen 2003: Max Niemeyer Verlag
Anzahl Seiten
249 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Heusch, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Das 300. Gründungsjubiläum des berühmten Waisenhauses August Hermann Franckes gab 1998 Anlass zu einem internationalen Kolloquium, ausgerichtet vom Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Verbindung mit den Franckeschen Stiftungen. Als Ziel wurde dieser Veranstaltung gesetzt, der Bedeutung von Gründung und Bau des Waisenhauses nachzuspüren. 1 Allerdings weist bereits der weitgefasste Titel des Sammelbandes – „Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit“ – auf eine Erweiterung des ursprünglichen Konzepts hin. Tatsächlich stellen nicht alle der insgesamt 13 Tagungsbeiträge, die der von Udo Sträter und Josef N. Neumann herausgegebene Tagungsband versammelt, eine Verbindung zu Francke und seinen Erziehungsanstalten her. Vier Themenbereiche werden behandelt: erstens der Umgang mit unversorgten Kindern und die Entwicklung der Waisenhauspolitik in der Frühen Neuzeit, zweitens die pietistische Gründung selbst, drittens ihr möglicher Einfluss auf die zeitgenössische Waisenpflege und viertens ihre Einordnung in einen internationalen Kontext.

Die sozialgeschichtliche Einführung in das Thema besorgt Markus Meumann. Indem er die Entfaltung der institutionalisierten Kindesfürsorge seit dem Mittelalter nachzeichnet und dabei insbesondere das so genannte Jahrhundert der Waisenhäuser thematisiert, gelingt es ihm, die Neuartigkeit der Franckeschen Anstalten herauszustreichen. Während bis dahin der reine Versorgungsgedanke und die Arbeitserziehung der Kinder im Vordergrund standen, nahm bei Francke der religiöse und schulische Unterricht eine übergeordnete Bedeutung an. Am Beispiel der vier hessischen Armenspitäler illustriert dann Christina Vanja, wie noch im 16. und 17. Jahrhundert mit unversorgten Kindern und Jugendlichen verfahren wurde. Bei den Spitälern handelte es sich um Sammelanstalten für Alte, Arme und Kranke, die auf die Betreuung von Kindern letztlich nicht eingestellt waren. Wenn die Jungen und Mädchen auch nicht angemessen untergebracht waren, so wurde aber zumindest dafür gesorgt, dass sie einen elementaren Unterricht erhielten und, wenn möglich, einen Beruf erlernten.

Der zweite Teil behandelt das Franckesche Waisenhaus selbst. Thomas Müller-Bahlke weist zu Recht auf die Unschärfe des Begriffs hin, unter den nicht nur die unmittelbare Waisenpflege, sondern auch die Stiftungen August Hermann Franckes insgesamt sowie deren Gebäude subsumiert werden (S. 43). In seinem Beitrag rekonstruiert Müller-Bahlcke die frühen Verwaltungsstrukturen der Anstalt und umreißt die Aufgaben und Befugnisse des Personals. Juliane Jacobi hingegen wendet sich dem Adressatenkreis zu: Sie nimmt eine sozialstatistische Auswertung der überaus sorgfältig geführten Waisenalben in Hinsicht auf die Herkunft der Kinder vor. Ihre Befunde bestätigen die Meinung der Forschung, dass Francke mit seinem Waisenhaus die traditionellen Ziele von Armenfürsorge hinter sich ließ. 2 Er beabsichtigte grundsätzlich eine „Gesellschaftsreform durch Erziehung“ (S. 64) und im speziellen die „Bildung einer pietistischen Funktionsträgerschaft“ (S. 63). Wie dies genau vonstatten ging, bleibt indes unklar. Die Waisenalben reichten über die verwaltungstechnische Zweckmäßigkeit hinaus, da sie den Einfluss der pietistischen Erziehung auf den einzelnen Menschen festhalten sollten. 3 Wünschenswert wäre daher noch ein Beitrag gewesen, der sich mit Programmatik, Methodik und Realisierung dieser Erziehung beschäftigt hätte.

Im dritten Teil wird der Einfluss nicht nur des Halleschen Waisenhauses, sondern auch des Halleschen Pietismus allgemein auf andere zeitgenössische Gründungen und die medizinische Versorgung von Waisenkindern untersucht. Udo Sträter widmet sich dem 1713 eröffneten Waisenhaus im ostfriesischen Esens und seinem Gründer, dem mit Francke bekannten Oberpfarrer Wilhelm Christian Schneider. Auch wenn es signifikante strukturelle, organisatorische und inhaltliche Unterschiede zwischen den beiden Anstalten gab, kann Sträter doch den Vorbildcharakter Halles hinlänglich belegen. Dies gelingt in den beiden folgenden Beiträgen weniger, was den Aufsätzen als solchen allerdings keinen Abbruch tut. Während Elisabeth Quast Armenschule und Waisenhaus der theologischen Fakultät der Göttinger Universität untersucht, zeichnet Andreas Lindner die langwierige Gründungsgeschichte des Naumburger Waisenhauses nach. Es gelingt ihm dabei, die Interessen frömmelnder und profitorientierter Individuen an der Errichtung der Anstalt aufzudecken, wie sie sich wohl verallgemeinern lassen. In diesen Kontext fügt sich auch der Aufsatz von Iris Ritzmann, die den Stellenwert bemisst, den man im Ludwigsburger Waisenhaus am Ende des 18. Jahrhunderts der Gesundheit der Kinder zumaß. Anhand eines Streits zwischen dem Waisenhauspfleger und dem Direktor einer Tuchfabrik arbeitet sie die entsprechenden Positionen von Anstaltsleitung, Fabrikanten, Ärzten und Regierung heraus: Wenn der Krankheitsbekämpfung auch eine „hohe Bedeutung“ zukam, so doch nicht aus humanitären, sondern aus „wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Überlegungen“ (S. 152). Diesem Befund schließt sich die Darstellung Josef N. Neumanns zum so genannten Waisenhausstreit an. Er fasst die Hauptargumente zusammen, die von den verschiedenen Parteien für und wider die Anstaltserziehung und die Familienpflege vorgebracht wurden, bleibt in der Darstellung der Konsequenzen dieser Diskussion jedoch vage.

Im vierten Teil des Bandes wird das Franckesche Waisenhaus aus internationaler Perspektive betrachtet. Fred A. van Lieburg und Joke Spaans beschäftigen sich mit niederländischen Waisenhäusern, deren Modellcharakter für die Gründung Franckes bewiesen ist. Während van Lieburg die Bedeutung des reformierten Pietismus für die niederländischen Kinderanstalten herausarbeitet, zeichnet Spaans die Entwicklung von zwei unterschiedlichen Waisenhaustypen – dem ‚burgerweeshuizen‘ seit dem Beginn, dem öffentlichen Waisenhaus seit der Mitte des 17. Jahrhunderts – in den holländischen Städten nach und beleuchtet ihren Einfluss insbesondere auf Organisation und Finanzierung für Franckes Waisenhaus. Der langfristigen, über die Landesgrenzen hinausreichenden Wirkkraft, die nun wiederum Franckes Anstalten auf dem Feld des karitativen und sozialen Engagements ausübten, geht Renate Wilson nach. Susan L. Porter schließlich untersucht den Entstehungskontext öffentlicher und privater amerikanischer Waisenhäuser im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Sie kann dabei nachweisen, dass von deren Gründern immer wieder ein Bezug zu Franckes Waisenhaus hergestellt wurde, der tatsächliche Einfluss aber gering war: „Thus, while the man and his institution remained icons, neither became the models for American child welfare.“ (S. 242)

Das Verdienst des Sammelbandes insgesamt scheint nicht so sehr in einer Neubestimmung von Bedeutung und Einfluss des Franckeschen Waisenhauses zu liegen: Einige Beiträge stellen einen solchen Bezug nicht her, andere sind lediglich überarbeitete Publikationen. Dagegen trägt er zu einer Einbettung des Waisenhauses in den Kontext frühneuzeitlicher Kindesfürsorge bei, die ihrerseits etwa durch die medizinhistorischen Ausführungen von Ritzmann konkretisiert wird. Der Sammelband vereint dabei makrohistorische Darstellungen (Meumann, Neumann) mit soliden mikrohistorischen Untersuchungen (etwa Lindner) und erweist sich somit als facettenreiches Handbuch für die frühneuzeitliche Waisenhausproblematik. Dieser Entwicklung der Tagung tragen die Herausgeber des Buches durch den weit gefassten Titel der Publikation Rechnung. Ihr Wunsch, „das vielschichtige Spannungsfeld ordnungspolitischer, wirtschaftlich-merkantilistischer und religiös-caritativer Motivationen und Institutionalisierungen umfassender zu analysieren und damit auch die Bedeutung des Pietismus in diesem Spannungsfeld präziser als bisher bestimmen zu können“ (Vorwort, S. X), wurde durchaus erfüllt.

Anmerkungen:
1 „In diesem Kolloquium sollte die Bedeutung herausgearbeitet werden, die der Gründung und dem Bau des Waisenhauses in Glaucha vor Halle durch August Hermann Francke zukommt“ (Vorwort, S. VIII).
2 Vgl. etwa Sträter, Udo, Pietismus und Sozialtätigkeit. Zur Frage nach der Wirkungsgeschichte des „Waisenhauses“ in Halle und des Frankfurter Armen-, Waisen- und Arbeitshauses, in: Pietismus und Neuzeit 7 (1981), S. 201-230, hier: S. 220-222.
3 Müller-Bahlke, Thomas J., Einleitung, in: Jacobi, Juliane; Ders., „Man hatte von ihm gute Hoffnung...“. Das Waisenalbum der Franckeschen Stiftungen 1695-1749 ( Hallesche Quellenpublikationen und Repertoiren 3), Tübingen 1998 S. VII-XXII, hier S. VII.

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