Cover
Titel
Alcuin. Achievement and Reputation


Autor(en)
Bullough, Donald A.
Reihe
Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 16
Erschienen
Anzahl Seiten
566 S.
Preis
€ 133,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Hartmann, Historisches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Das hier anzuzeigende Werk ist ein Torso, da sein Verfasser im Sommer 2002 verstarb (dieses Datum ist übrigens im Buch nirgends angegeben) und das Erscheinen des Buches daher nicht mehr erleben konnte. Es umfasst nur einen Teil von Alkuins Lebenszeit, nämlich die Jahre bis zu seinem Rückzug ins Kloster St-Martin in Tours im Jahr 796. Damit ist zwar der weitaus überwiegende Teil von Alkuins Lebenszeit abgedeckt, aber die letzten Jahre bis zu seinem Tod im Mai 804 waren seine weitaus ertragreichsten als Schriftsteller und Briefschreiber - wenigstens wenn wir die erhaltenen Werke und Briefe ins Auge fassen.

Wie wir aus dem Vorwort von Giles Constable und aus der Einleitung von Donald Bullough selbst erfahren, wird mit dem Abschluss dieses Buches ein Versprechen eingelöst, das der Verfasser im Jahr 1980 gegeben hat, als er in Oxford sechs Vorlesungen über „Alcuin: Achievement and Reputation“ gehalten hatte. Der Vorgabe dieser Ford Lectures entsprechend befasste sich Bullough vor allem mit den angelsächsischen Wurzeln und Aktivitäten Alkuins, während sich die Literaturgeschichte sonst fast ausschließlich für Alkuins Wirksamkeit in der Umgebung Karls des Großen, für die so genannte karolingische Renaissance oder Erneuerung, interessiert hat.

In seiner Einleitung benennt Bullough selbst in seiner bescheidenen und sympathischen Art den Grund dafür, warum die gelehrte Welt so lange auf sein Buch warten musste, und auch, warum das Werk ein Torso geblieben ist und die späten Jahre Alkuins überhaupt nicht mehr behandelt werden: Es lag an seinem „refusal to take anything for granted“ und an seinem „obsessive perfectionism“. Dazu kamen – immer noch nach Bullough selbst – seine Zweifel an der Latinität des 8. Jahrhunderts; in diesem Bereich glaubt er, in seinem Buch einige Beiträge zur Wortkunde und Bedeutungslehre geliefert zu haben.

Das vorliegende Buch weist zwei Teile auf; der erste Teil unter der Überschrift „In Defence of the Biographical Approach. The Sources“ (S. 3-124) beschäftigt sich vor allem mit den wichtigsten Quellen zur Person Alkuins, nämlich der in den 820er-Jahren in Ferrières von einem Enkelschüler verfassten Vita und vor allem seinen Briefen. Der zweite Teil ist in vier unterschiedlich große Kapitel gegliedert, wobei das erste „Patria, Pueritia and Adoliscentia“ (S. 127-251), das zweite den lernenden und lehrenden Alkuin (S. 252-330), das dritte mit dem Titel „Between Two Courts“ (S. 331-432) die Jahre von 780 bis 794 und das vierte und kürzeste unter dem Titel „Unsettled in Aachen“ (S. 432-470) die Jahre 794 bis 796 behandelt. Es folgt eine ausführliche Bibliografie (S. 471-494) sowie eine Reihe von Indices, nämlich ein Index der zitierten Handschriften (S. 495-500), ein „Index on Alcuin“ (S. 501-507), ein Index der Schriften Alkuins (S. 508- 16), ein Index der Bibelzitate (S. 517f.) und ein „General Index“ (S. 519-566).

Diese Indices wurden von Alicia Correa bearbeitet und sind nicht genug zu rühmen. Erst durch diese Register nämlich lässt sich der reiche Inhalt des Buches erschließen, das - wie noch näher auszuführen sein wird - sich sonst nicht gerade durch eine klare, durchsichtige Gliederung auszeichnet. Vor allem sei hier auf den Index verwiesen, der eine Erwähnung aller Schriften Alkuins, auch eines jeden einzelnen Briefs im gesamten Buch bis in die Anmerkungen hinein verzeichnet. Da eine Hauptleistung Bulloughs, der sich ja ca. 30 Jahre mit Alkuin beschäftigt hat, darin besteht, zahlreiche Anmerkungen zur Überlieferung und zur Wertung der Textvarianten in einer Vielzahl von Schriften und Briefen Alkuins gemacht zu haben, ist dieser Index von allergrößtem Wert. Dies gilt natürlich auch für den Generalindex, der Bulloughs Erkenntnisse über die Überlieferung zahlreicher Werke der Spätantike und des frühen Mittelalters zugänglich macht.

Das vorliegende Buch ist nämlich - das dürfte durch diese Bemerkungen bereits angedeutet sein - nicht sehr leicht zu lesen, vor allem stellt es keine Biografie Alkuins dar, wie sie vor ca. 50 Jahren (1951) E. Duckett vorgelegt hat. Wichtige biografische Daten - wie etwa das Jahr seiner Geburt oder wenigstens das, was Bullough zu diesem Thema meint - sind so versteckt in dem umfangreichen Werk, dass man sie nur mit Hilfe des Registers (in diesem Fall dem „Index on Alcuin“) herausbekommen kann: Bullough hält (S. 34 mit Anm. 76) „a date of birth a year or two either side of 740“ für am wahrscheinlichsten. Auch andere Daten sind nicht leichter aus dem langen Text zu entnehmen, daher ist es eine glückliche Idee der Bearbeiter gewesen, eine „Chronology“ über Alkuins Lebensgang an die Spitze des Buches (S. XXIIIf.) zu stellen.

Für den kontinentalen Erforscher der Karolingerzeit ist die am meisten beachtenswerte Erkenntnis Bulloughs, die er auch etwas ausführlicher begründet (S. 336-346), die, dass Alkuin nicht schon gleich nach dem Treffen mit Karl dem Großen im Frühjahr 781 ins Frankenreich gekommen und dort mit Ausnahme einer kurzen Zeit (790-793) geblieben ist, sondern dass Alkuin wahrscheinlich erst im Herbst 786 seine englische Heimat verlassen hat, um zuerst für ca. vier und nach dem Sommer 793 nochmals knapp drei Jahre am Hof (oder in der Umgebung) Karls des Großen zu bleiben. Damit wird die Dauer des Aufenthalts Alkuins in der Nähe des Frankenkönigs so stark eingegrenzt, dass man sich fragen muss, ob die Bedeutung des Angelsachsen für die karolingische Erneuerung wirklich so groß war wie wir sie uns bisher vorstellen.

In Kürze soll noch der Inhalt der einzelnen Großabschnitte vorgestellt werden, damit die Interessenten wissen, was sie im Einzelnen erwartet:

Teil 1 enthält - entgegen seines Titels - nicht etwa eine ausgedehnte Diskussion der Problematik einer Biografie (diese Frage wird ganz knapp auf S. 117-120 behandelt) einer Person aus dem „portraitlosen Zeitalter“, wie man das frühe Mittelalter charakterisiert hat, sondern er bietet etwas anderes: nämlich eine sonst nirgends nachzulesende, bis in einzelne Textvarianten gehende Darstellung der einzelnen Sammlungen und Manuskripte, in denen sich die Briefe Alkuins erhalten haben. Aufgrund der hier ausgebreiteten Erkenntnisse müssten jetzt eigentlich diese Briefe neu datiert, angeordnet und ediert werden. Vorläufig wird man für jeden Brief über den Werkindex überprüfen müssen, was Bullough über seine Überlieferung, seine Zeitstellung und seine textlichen Besonderheiten sagt.

Kapitel 1 des 2. Teils enthält einmal eine Darstellung der politischen, sozialen und kirchlichen Verhältnisse in Northumbrien und vor allem in York, sodann - als Ersatz für unsere fehlenden Kenntnisse über Einzelheiten der Erziehung des jungen Alkuin - eine eingehende Behandlung der Liturgie, des Computus, der Bibelkenntnis und der Verwendung der Bibel für die Erziehung der jungen Kleriker.

Das 2. Kapitel dieses Teils versucht dann im Einzelnen die Yorker Vorlagen für bestimmte Kenntnisse des späteren Alkuin zu eruieren. Das Problem dabei ist - natürlich - vor allem, dass wir von Alkuin aus der Zeit vor den frühen 780er-Jahren überhaupt keine Schriften oder Briefe besitzen (auch für die folgenden ca. zehn Jahre bis 793 haben wir nur etwa 20 Briefe; während der Rest der 285 Briefe sich auf die folgende Zeit, vor allem die Jahre 798-801 konzentriert). Das bedeutet für die Ausführungen Bulloughs, dass er mit einer doppelten Schwierigkeit zu kämpfen hat: Zum einen ist ja überhaupt unsicher, ob ein Zitat oder die Kenntnis eines Werkes in einer seiner Schriften der 790er-Jahre auf Kenntnisse zurückgeht, die Alkuin sich in seiner Zeit in York erworben hat (die jetzt allerdings um ca. 5 Jahre bis 786 verlängert ist), zum andern haben sich nur ganz wenige Handschriften erhalten, die mit Sicherheit zwischen 750 und 785 in York gewesen sind. Als wichtigste Quelle für die Texte, die in York vorhanden waren, dient Bullough das Gedicht über York, in das Alkuin einen bereits 1987 von Peter Godman analysierten Abschnitt über die in York bekannten Autoren und Werke eingefügt hat. Bulloughs Ergebnisse gehen aber weit über die von Godman gewonnenen Erkenntnisse hinaus.

Im Kapitel 3 finden sich einige Ausführungen, die wiederum von allgemeinerem Interesse sind. Dabei wird (S. 346-356) die Frage nach Alkuins Mitwirkung an der Abfassung der Kanones der so genannten englischen Legatensynode von 786, die vor einigen Jahren C. Cubitt glaubte positiv entscheiden zu können, von Bullough mit „Nein“ beantwortet. Dagegen stimmt er der Ansicht zu, dass Alkuin bei der Formulierung der Admonitio generalis von 789, dem „Grundgesetz der Reichsreform Karls des Großen“, mitgewirkt hat (S. 379ff.). Zu den Aktivitäten Alkuins auf der Synode von Frankfurt 794 stimmt Bullough der Ansicht Wallachs zu, dass die beiden Schreiben der Synode (im Namen der fränkischen Bischöfe und im Namen Karls des Großen) von Alkuin stilisiert wurden (S. 421f.). Eine Mitwirkung am Kapitular und erst recht an den so genannten Libri Carolini (1998 unter dem Titel Opus Karoli regis adversus synodum von Ann Freeman in den MGH Concilia 2, Supplementum I als Werk Theodulfs von Orléans ediert) lehnt er jedoch mit der Mehrheit der heutigen Forschung ab.

Im Ganzen wird man sagen müssen, dass Bulloughs Buch die Erwartungen nicht erfüllt, wenn man von ihm eine biografische oder auch nur literaturgeschichtliche Darstellung des ganzen Alkuin erhofft hatte. Was das Buch aber bietet, sind zahlreiche Miniaturen und Einzeleinsichten über eine Vielzahl von Problemen und Schriften - nicht nur Alkuins - , die in den meisten Fällen über den bisherigen Forschungsstand weit hinausführen oder mindestens diskussionswürdig sind, da sie von einem Gelehrten stammen, der viele Jahre seines wissenschaftlichen Lebens dem vor 1.200 Jahren verstorbenen angelsächsischen Gelehrten gewidmet hat. Über die vorzüglichen Register können diese Erkenntnisse aufgespürt und für weitere Forschungen fruchtbar gemacht werden.

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