S.W. Tschernikow: Dworjanskie imenija Zentralno-Tschernosemnogo regiona

Titel
Dworjanskie imenija Zentralno-Tschernosemnogo regiona Rossii w perwoi polowine XVIII weka.


Autor(en)
Tschernikow, S.W.
Reihe
Noweischaja rossiiskaja istorija: issledowanija i dokumenty. Bd. 5
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität Berlin

„Eigentum“ bildet in der westlichen Geschichtsschreibung zu Russland schon lange ein wichtiges, wenn auch selten explizit behandeltes Thema. Das Hervorheben der Eigenart von bzw. der Mangel an Eigentumskonzepten und –rechten dient seit Jahren als ein Erklärungsansatz für die Abhängigkeit des russischen Adels von der Obrigkeit und für die Stärke des Staates.1

Russische Historiker haben das Thema nun in den letzten Jahren neu entdeckt.2 Sie greifen damit sowohl eine bedeutende Tradition der russischen Historiografie des 19. Jahrhunderts als auch Konzeptionen der sowjetischen Geschichtsschreibung auf. Im Mittelpunkt stehen dabei weitgehend das 16. und das 17. Jahrhundert, im Kontext der Eigentumsforschung meist konzeptualisiert als Zeit des Feudalismus. Mit ihrer deutlich sozialhistorischen Ausrichtung grenzen sich die Arbeiten klar von der ideengeschichtlich-rechtshistorischen Konzentration der umfangreichen Forschung des späten 19. Jahrhunderts ab.

S.W. Tschernikow geht in seinem Buch zunächst thematisch über diese Traditionslinien hinaus, indem er das 18. Jahrhundert ins Zentrum seiner Forschungen stellt. Klassische Themen wie die frühen Gesetzgebungen und die verschiedenen Versionen der ältesten Rechtskodifikation (Russkaja Pravda) oder des Gesetzesbuches (Uloschenie) von 1649 spielen ebenso wenig eine Rolle wie die im 19. Jahrhundert und auch heute wieder häufig gestellte Frage nach der Besonderheit der Vermögensrechte russischer Frauen. Sein Interesse gilt den konkreten Eigentumsverhältnissen und dem damit verbundenen Wandel der sozialen Struktur, der Lebensweise und vor allem der politischen Position des Adels im Zentralen Schwarzerdegebiet.

In dieser Region lässt sich für das 18. Jahrhundert deutlich ein in Gesetzgebung und Wirtschaftspolitik sowie außenpolitischen und Sicherheitsinteressen begründeter sozialer Wandel beobachten. Im Mittelpunkt stehen hier wie so häufig die Reformen Peters I. Seine aktiven Reformen zur Neugestaltung des Adelsstandes in einem durchgeplanten Staat haben die Situation im Schwarzerdegebiet ebenso verändert wie mittelbar wirkende Interessen. Fast selbstverständlich erscheinen das neuartige Dienstethos sowie die Veränderung des Adelsstandes durch Reformen wie die Einführung der Rangtabelle hier von großer Bedeutung. Landbesitz, seit dem 16. Jahrhundert als Lebensgrundlage für den Adel verteilt, der so in die Lage versetzt wurde, Militärdienst leisten zu können, erhielt nun – zumindest theoretisch – eine neue Funktion. Güter wurden nicht mehr in großer Zahl als Voraussetzung für den Dienst vergeben, sondern individueller und in der neuen Rolle als Belohnung oder Bezahlung. Dienst, nicht Land, bildete in Peters Weltbild das entscheidende Merkmal des Adels.

Entsprechend ist Tschernikows differenzierende Skepsis gegenüber der These berechtigt, mit der Verschmelzung von pomestje (theoretisch nicht vererbbares Dienstland) und votschina (Familien-, Erbland) im Jahre 1714 seien die Vermögensrechte des russischen Adels gestärkt worden. Zwar war die unmittelbare Verbindung zwischen Dienst und Land zerschnitten worden, doch verschiedene Regelungen und Praxen weisen darauf hin, dass nicht unbedingt das Allodialland dem Erbland angeglichen wurde. Vielmehr ging auch das Konzept der in der Familie verankerten und selbstverständlich vererbbaren votschina im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehr und mehr verloren: Peters – gescheiterter – Versuch, die Erbpraxis des Adels zu reglementieren, ist nur ein Zeichen dafür, dass man vom 18. Jahrhundert nicht als einer Zeit der Stärkung und Verbreitung von Vermögensrechten oder gar der Entwicklung von Eigentumsfreiheiten sprechen kann.

Dass die Eigentumsverhältnisse und in begrenztem Maße auch die Machtverhältnisse in der Gesellschaft sich dennoch verändert haben, zeigt Tschernikow anhand einer Vielzahl von Quellen. Neben zahlreichen Statistiken – in einem 150 Seiten starken Anhang dem Buch beigefügt – bildet Gesetzgebung die entscheidende Quelle, ergänzt von klassischen und in den letzten Jahren von russischen Historikern neu entdeckten Quellen wie den Instruktionen von Gutsherren an ihre Verwalter.

Das Schwarzerdegebiet veränderte sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich. Von einer eher unsicheren Grenzregion entwickelte es sich zu einem Zentrum adligen Landbesitzes. Einschränkungen für den Moskauer Adel, im Süden zu siedeln, wurden aufgehoben, und die Wünsche des Adels nach profitablen Gütern verbanden sich so mit dem Interesse des Staates an einer gut gesicherten Südgrenze des Reiches. Auch der Ehrgeiz des Provinzadels, sich gegen die alten und mächtigen Adelsfamilien zu behaupten, entsprach dem Interesse Peters und seiner Nachfolger, eine absolutistische Herrschaft ohne die traditionell starken Einflussmöglichkeiten der Bojarenfamilien zu etablieren.

Diese Vorstellungen von Wandel und Freiheit stießen bald an ihre Grenzen, wie Tschernikow zeigt. Zwar konnten kleinere Familien sich einen Namen machen, doch blieb der Hochadel reich und mächtig.

Es ist dieser Machtbegriff, an dem die Schwächen dieses solide recherchierten Buches deutlich werden. Zwar kann Tschernikow überzeugend zeigen, wie sehr Landbesitz, bei allen Reformen und Veränderungen, ein Machtinstrument der Zaren blieb. Land wurde nicht nur, dies sogar mehr als zuvor, als Belohnung vergeben; Konfiskationen blieben ein gern genutztes Mittel der zarischen Politik. Doch die Macht des Adels blieb schwach. Die These vom engen Zusammenhang von Landbesitz und Macht der herrschenden Klasse erscheint eher wie ein Axiom als wie ein Forschungsergebnis.

In dieser Hinsicht hätte die Arbeit überzeugender werden können, wäre Tschernikow über die sehr traditionelle, rein sozialhistorische Forschung hinausgegangen oder hätte er zumindest die Ergebnisse neuerer westlicher Literatur rezipiert. Leider fehlen in der Bibliografie für das Thema so entscheidende Arbeiten wie die von John LeDonne oder auch die älteren Texte David Ransels zur Patronagepolitik des Adels ebenso wie die einschlägigen neueren Arbeiten von Lee Farrow, Valerie Kivelson und vor allem Michelle Marrese; selbst die Klassiker von Michael Confino bleiben unerwähnt.3 Der sehr umfangreiche und nützliche Literaturbericht im ersten Kapitel des Buches erscheint insofern ebenso wie die kurze Diskussion des Feudalismus-Begriffs in gewisser Weise unfertig, da die gesamte Arbeit fast jeglichen Anschluss an aktuelle Theoriedebatten und Fragestellungen vermissen lässt.

So ist es auf der einen Seite unbedingt zu begrüßen, wenn prominente Forscher aus Russland, den USA und Deutschland wie B.W. Ananitsch, Terence Emmons und Stefan Merl sich zu einem Redaktionsbeirat zusammenschließen und eine Buchreihe von Arbeiten russischer Historiker betreuen. Auf der anderen Seite wäre diese Initiative sinnvoller, wenn auch inhaltlich auf eine stärkere Internationalisierung russischer Forschung geachtet und die Rezeption neuerer westlicher Literatur gefordert und – auch materiell – gefördert würde.

Anmerkungen:
1 Diese These wird besonders deutlich vertreten bei: Pipes, Richard, Property and Freedom, New York 1999.
2 Gorskaja, N.A.; Schweikowskaja, E.N. (Hgg.), Predstawlenija o sobstwennosti w rossiiskom obschtschestve XV-XVIII ww. Problemy sobstwennosti w obschtschestwennom soznanii i prawowoi mysli feodalnoi epochi, Moskwa 1998.
3 LeDonne, John P., Absolutism and Ruling Class. The Formation of the Russian Political Order 1700-1825, New York 1991; Ransel, David, The Politics of Catherinian Russia. The Panin Party, New Haven 1975; Farrow, Lee A., Peter the Great´s Law of Single Inheritance. State Imperatives and Noble Resistance, in: Russian Review 55 (1996), S. 430-447; Kivelson, Valerie A., The Effects of Partible Inheritance. Gentry Families and the State in Muscovy, in: Russian Review 53 (1994), S. 197-212; Lamarche Marrese, Michelle, A Woman's Kingdom. Women and the Control of Property in Russia, 1700-1861, Ithaca 2002; Confino, Michael, Domaines et seigneurs en Russie vers la fin du XVIIIe siècle. Étude de structures agraires et de mentalités économiques, Paris 1962.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension