F. Steger u.a. (Hg.): Gesundheit - Krankheit

Cover
Titel
Gesundheit - Krankheit. Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit


Herausgeber
Steger, Florian; Jankrift, Kay P.
Reihe
Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 55
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
267 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Weiner, Universität Erlangen

Das vorzustellende Buch ist ein bemerkenswerter Sammelband mit interessanten Beiträgen sowohl zum noch recht neuen Forschungsfeld ‚Kulturtransfer’, wie auch zur etablierten Medizingeschichte. Die teils heterogenen Wissenschaftsbereiche, aus denen die einzelnen Autoren stammen, werden mit dem Thema „Medizin und Krankheit” geschickt gebündelt, so dass jenes häufig angestrebte Ziel einer fruchtbaren Interdisziplinarität in der Tat einmal erfüllt ist. Dabei zeigt der Sammelband einen bemerkenswerten Ansatz: Texte, die nicht im engen Fokus der Fachrichtung Medizingeschichte liegen, bieten dennoch eine erstaunliche Fülle an Material, mit deren Hilfe sich der medizinische Alltag eines Kulturkreises besser rekonstruieren lässt, als mit den medizinischen Fachtexten allein.

Grundlage dafür ist die Einbettung des Kontextes „Kulturtransfer“ in die Medizingeschichte. Die Frage nach Krankheit, Gesundheit und Heilung unterliegt einem kulturellen Bedeutungswandel und erhält ihren Maßstab durch den jeweiligen Wissensstandard, sowie mittels sozialer Ansprüche, Erwartungen und Deutungsmuster eines Kulturkreises. Diese wiederum werden mitgebildet oder perturbiert durch Auftreten von Anderem und Fremdem, das aufgenommen und umgeformt oder aber abgelehnt werden kann. Vor diesem Hintergrund ist die fachübergreifende Ausrichtung dieses medizinhistorischen Sammelbandes nur folgerichtig.

Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Einleitung der Herausgeber. Sie bietet einen vollständigen Abriss über die aktuelle Forschungslage im Bereich Kulturtransfer und zeigt verschiedene Fragestellungen und Antwortmuster auf. Für alle, die sich mit der Frage Kulturtransfer auseinandersetzen wollen, ist dieser Beitrag von Florian Steger und Kay Peter Jankrift daher eine empfehlenswerte Lektüre.

Mischa Meier stellt in Von Prokop zu Gregor von Tours. Kultur- und mentalitätengeschichtlich relevante Folgen der ‚Pest’ im 6. Jahrhundert ein „kollektives Bewältigungsinstrument für eine Epidemie” vor, das die frühchristliche Kirche zur Seuchenbewältigung entwarf. Hiermit bietet der Autor eine plausible Erklärung für die Entstehung der Pestprozessionen.

Auf ähnliche Weise befasst sich Gernot Kirchner in Heilungswunder im Frühmittelalter. Überlegungen zum Kontext des vir Dei- Konzeptes Gregor von Tours mit der Beziehung von Kirchen- und Medizingeschichte. Er zeigt, wie in Gregors Heiligenviten die eigentlich unüberwindbare Kluft von der Krankheit zum Heil in der Wunderheilung gedacht wird, um so die Rechtmäßigkeit und Gottverbundenheit des wunderwirkenden Heiligen zu erweisen.

In The Christian Hospital in Late Antiquity - Break or Bridge? stellt sich Peregrine Horden die Frage nach dem ‚Neuen’, das Historiker für eine bestimmte Epoche oder geschichtliche Begebenheit immer wieder reklamieren. Neu sei an den von ihm untersuchten spätantiken Hospitälern, die vor allem im südöstlichen Mittelmeerraum entstanden, allein das Selbstverständnis, mit dem sie geführt wurden. Hingegen sei die Art und Weise der Gestaltung und Funktion des Hospitals eher als ein Brückenschlag zur Antike anzusehen.

Johannes Pahlitzschs führt dem Leser in Ärzte ohne Grenzen: Melkitische, jüdische und samaritische Ärzte in Ägypten und Syrien zur Zeit der Kreuzzüge ein Phänomen vor Augen, dass die wenigsten gekannt haben dürften. Demnach setzten sich zur Zeit der Kreuzzüge Ärzte über fast jegliche Glaubens- und Standesgrenzen hinweg und standen wechselweise in Diensten verfeindeter Parteien. Garant für ihre Immunität gegenüber jeglicher Kulturgebundenheit schien dabei allein ihr medizinisches Heilwissen zu sein. Dies zeigt zugleich die Wertschätzung von und den Bedarf an medizinischem Wissen zu jeder Zeit.

Piers D. Mitchell tritt in Evidence for Elective surgery in the frankish states of the Near east in the Crusader Period (12th-13th Centuries) der verbreiteten Lehrmeinung entgegen, die Beschreibung chirurgischer Eingriffe finde sich zwar in mittelalterlichen Lehrbüchern, sei aber in der Praxis nicht oder nur im äußersten Notfall angewendet worden. Der Autor führt Quellentexte an, die gezielte chirurgische Eingriffe belegen. Ungewöhnlich ist dabei seine Wahl der Quellen, weil sie den medizinischen Text bewusst vermeidet („By avoiding the medical text”, S. 137), um zu verlässlichen Aussagen über die medizinische Praxis zu gelangen.

Kay-Peter Jankrift verfolgt in Eigenes und Fremdes - Zur sozialen Stellung jüdischer Gelehrter und zu ihrer Rolle für die Vermittlung von Wissen im Mittelalter eine sehr interessante Frage: Welche sozialen Bedingungen müssen für Wissensvermittlung und Kulturtransfer gegeben sein? Obwohl jedoch Kay-Peter Jankrift mit fundiertem Detailwissen glänzt, bleibt er dem Leser die Beantwortung der so interessanten Frage nach den sozialen Bedingungen von Wissensvermittlung letztendlich schuldig und verläuft sich in einer unverbundenen Schilderung von Einzelfällen.

John Henderson zeigt mit The material culture of health - Hospitals and the Care of the Sick in Renaissance Italy einen Einblick in das Forschungsfeld ‚medizinischer Alltag’ innerhalb der Medizingeschichte. Anhand von Rechnungsbüchern, Inventarlisten und Personalakten eines Hospitals lässt sich für die Renaissance ein genaues Bild dieser Einrichtung und ihrer internen Abläufe rekonstruieren. Bemerkenswert ist, dass das Augenmerk dabei einmal nicht auf die Ärzte gerichtet wird, sondern auf die Patienten, das Pflegepersonal und die bauliche Einrichtung nebst deren Erhaltung.

Einen interessanten Beitrag zur Kulturtransferdiskussion steuert Renate Wittern mit Die Gegner Andrea Versals - Ein Beitrag zur Streitkultur des 16. Jahrhunderts bei. Der Anatom Andrea Versal hatte im 16. Jahrhundert einige Aussagen aus Galens Anatomie in seiner Schrift Fabricia als falsch nachgewiesen und damit eine Welle der Empörung ausgelöst. „Galen sei unfehlbar wie ein Gott” (S. 184) hatten ihm seine Kritiker entgegengehalten und so versucht, die tausend Jahre alte Autorität zu retten. Renate Witterns Schlussfolgerung ist überraschend: Erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts erschlossen sich die Mediziner und Humanisten Galen als Autorität, „und zwar paradoxerweise nicht, weil er alt ist, sondern weil ihn die Ärzte als neu erfahren” (S. 197). Es war im Grunde also dieses Neue, was sie sich durch Versals Kritik genommen sahen.

Florian Steger eröffnet mit dem Aufsatz Medizinische Streitkultur im 16. Jahrhundert - Zu einer kulturellen Kontextualisierung von Georgius Agricola „Bermannus sive de re metallica Dialogus” (1528) einen unerwarteten Einblick in die Wissenstransferdiskussion im Humanismus. Unerwartet ist das Dargelegte, weil sich hier eine vielschichtige und anregende Auseinandersetzung darüber findet, warum das reiche antike Wissen nicht besser verfügbar ist. So werden schlechte lateinische Übersetzungen und mangelnde Kenntnisse der zeitgenössischen Ärzte und Gelehrten als Gründe für den mangelhaften Transfer angeführt, zudem wird auf die unzureichende Lesbarkeit und den langweiligen Charakter einiger medizinischer Traktate verwiesen. Die Frage nach den Bedingungen für Wissenstransfer im Mittelalter und der Renaissancezeit sind also nicht erst in der rückblickenden Gegenwart aktuell.

Daniel Schäfers “De senectute” - Zur Rezeption medizinischen und nicht-medizinischen Wissens der Antike in der frühen Neuzeit untersucht die Quellen, die der frühneuzeitlichen Altenheilkunde zur Verfügung standen. Mag eine Auflistung verfügbarer Quellen für einen Zeitraum auch lehrreich sein, so stellt sich doch die Frage nach dessen Funktion für Transfer und Rezeption, denn, wie Schäfer selbst abschließend sagt: „Letztlich kann also eine exakte Beschreibung des Wissenstransfers nur am einzelnen Werk vorgenommen werden.” (S. 236) Genau eine solche Beschreibung wäre aber aufschlussreich gewesen.

Sandra Pott eröffnet dem Medizinhistoriker ein wahrscheinlich eher ungewohntes und, wie sie zeigt, unbearbeitetes Terrain. ’Medicus Poeta‘ - Poetisierung medizinischen Wissens über Pest und Blässe: Hans Folz und einige unbekannte Mediziner-Dichter behandelt literarische Werke von dichtenden Ärzten. Unter Poetisierung versteht sie dabei die Verarbeitung medizinischen Wissens in der Literatur, die dieses Wissen den ihr eigentümlichen Bedingungen unterordnet. Ist auch das vorgestellte Material spärlicher, als sie es zu Anfang suggeriert, so reicht es doch, um den Reiz einer Untersuchung von fachfremden Texten für die eigene Fachdiskussion aufzuzeigen.

Ein Wermutstropfen bleibt schließlich: Erst nach längerer Beschäftigung mit dem Sammelband wird einem die Kohärenz der einzelnen Beiträge ersichtlich, deren Auswahl auf den ersten Blick eher willkürlich und zusammenhanglos erscheint. Hier hätte man sich eine verbindende Darstellung zu Beginn des Bandes gewünscht. Zwar sind dort die einzelnen Beiträge kurz dargestellt, doch fehlt eine Angabe über ihren jeweiligen Bezug zum Gesamtthema. Die hätte die interessante Aufsatzsammlung allemal verdient.

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