J. Vötsch: Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum

Cover
Titel
Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum zu Beginn des 18. Jahrhunderts.


Autor(en)
Vötsch, Jochen
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
€ 65,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Schunka, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Ein Kennzeichen des europäischen Mächtesystems der Frühen Neuzeit sind die Personalunionen europäischer Fürstenhäuser, also die Staatenverbindungen, bei denen ein Herrscher über zwei getrennte und getrennt verwaltete Territorien gebot. Berühmte Beispiele, die das Heilige Römische Reich deutscher Nation betrafen und es mit der internationalen Staatenwelt verbanden, waren die Verbindungen zwischen Österreich-Ungarn, Brandenburg-Preußen oder die Herrschaft der Welfenkurfürsten von Braunschweig-Hannover über das britische Empire. Völkerrechtlich war es einem Herrscher in Personalunion sogar möglich, mit sich selbst Verträge zu schließen. In der Praxis kam dies kaum vor, auch wenn darüber etwa im Falle Großbritannien-Hannovers von den Zeitgenossen diskutiert wurde.

Die vorliegende Arbeit widmet sich einem lange vernachlässigten Mitglied in der Reihe europäischer Großmächte, dessen Stern zur Zeit seiner Personalunion aufgrund des Machtgewinns von Nachbarn wie Brandenburg-Preußen schon wieder im Sinken begriffen war: Kursachsen, dass seit dem Jahre 1697 eine Personalunion mit dem Königreich Polen verband. Die Untersuchung, die im Jahre 2001 an der Universität Erfurt als Dissertation angenommen wurde, behandelt die politischen Zusammenhänge nach der Konversion Kurfürst Friedrich Augusts I. von Sachsen (als König von Polen August II.), vorwiegend mit Blick auf das Reich und die mitteldeutschen Staaten. Dabei wird manches Mal Neuland betreten, ist doch die politische Geschichte Kursachsens im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert längst nicht so gut erforscht wie die anderer Territorien. Eine Ausnahme stellte die Person des Kurfürsten/Königs dar, der auch in der vorliegenden Arbeit eine wichtige Rolle einnimmt. Ging es bisherigen Untersuchungen aber vor allem darum, an August dem „Starken“ absolutistischen Prunk und den Ausbau Dresdens zu einer der schönsten europäischen Barockstädte aufzuzeigen, so rückt im vorliegenden Buch die Rolle Sachsens als Mitgestalter reichischer und europäischer Politik um die Wende zum 18. Jahrhundert in den Blick. Durch die politischen Umbrüche des Jahres 1989, die sich anschließende Neustrukturierung der sächsischen Landesgeschichte und die gewandelte Orientierung der Historiografie zum Alten Reich insgesamt werden nun die strukturellen Zusammenhänge deutlicher, die Sachsens politische Rolle angemessener als bisher hervortreten lassen.

Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden die Umstände der Konversion Augusts sowie ihre Auswirkungen auf die Konfessionspolitik im Reich und insbesondere des Corpus Evangelicorum geschildert, dessen Vorsitz der Sachse ja auch nach seinem Übertritt zum Katholizismus weiterhin innehatte. Nach der Analyse der Rolle Sachsen innerhalb des Corpus Evangelicorum und der politischen Auseinandersetzungen mit den Aufsteigermächten Hannover und Preußen kommt der Autor zum überraschenden und doch überzeugenden Befund, dass das katholische Direktorium Kursachsens im Corpus Evangelicorum und überhaupt sein Verbleib in der Gruppe protestantischer Reichsstände im Sinne nicht nur des Kaisers, sondern auch der Katholiken war, die sich der Kaiser- und Reichsorientierung Kursachsens relativ sicher sein konnten. Die Protestanten ihrerseits konnten durch die Garantien des Kurfürsten an die sächsischen Landstände beruhigt sein, dass es zu keiner Reformation der sächsischen Untertanen kommen würde. Zugleich vertrat Kursachsen vor dem Hintergrund des Pfälzer Konfessionskonflikts und der durch England beeinflussten Unionsbestrebungen Brandenburg-Preußens im Corpus Evangelicorum weiterhin eine orthodox-lutherische Linie. Sachsen, das sich hier zum Sprachrohr kleinerer Reichsstände machte, hatte sich seinerseits allerdings mit den Auswirkungen der konfessionellen Streitigkeiten in Polen herumzuschlagen.

Mitspieler im Konzert der europäischen Großmächte war der sächsische Kurfürst vor allem als König von Polen; Reichspolitik fand dagegen weiterhin vorwiegend in Dresden statt. Der zweite Teil der Untersuchung beschäftigt sich mit den politischen Positionen Kursachsens auf dem Reichstag, das in seinem Streben nach Virilstimmen im Reichsfürstenrat keine wirklichen Erfolge verbuchen konnte und somit eine eher traditionelle politische Haltung bewahrte, die sich über die Kurfürstenwürde und die guten Beziehungen zum habsburgischen Kaisertum definierte. Dem entspricht auch die sächsische Heiratspolitik: Nach der Konversion des Kurprinzen heiratete dieser eine Habsburgerin.

Im dritten Teil der Studie geht der Autor auf die Beziehungen Kursachsens zu seinen mitteldeutschen Nachbarterritorien ein, wobei hier zum einen die Sekundogenituren der Dresdner und die ernestinischen Landesteile, zum anderen die ‚reichsfernen’ Konkurrenten der Wettiner (Brandenburg-Preußen, Hannover) im Mittelpunkt stehen, die gerade zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf Reichs- und europäischer Ebene die Dresdner überflügeln sollten. Die Schwarzburger Standeserhebung oder die Auseinandersetzungen um Mansfeld bedeuteten eine zunehmende „Erosion der kursächsischen Positionen in der Region“ (S. 399), und zwar nicht nur gegenüber den sächsischen Nebenterritorien, sondern vor allem gegenüber den Konkurrenten in Norddeutschland, die aus dem Bedeutungsverlust der Schweden und ihrem eigenen internationalen Prestigegewinn auch reichspolitisch Kapital schlagen konnten, wenn sich auch Preußens Heiratspolitik im Vergleich zu Sachsen eher bescheiden ausnahm. Insgesamt konnte Sachsen nach dem Erhalt der polnischen Königswürde weniger Nutzen aus seiner Ostorientierung ziehen als umgekehrt Preußen aus seinem Weg nach Westen.

Ein Manko der Untersuchung ist, dass sie über der Behandlung zahlreicher Haupt- und Nebenschauplätze sächsischer Politik mitunter einen klaren Fokus vermissen lässt und sich bisweilen in Exkursen und Redundanzen ergeht. Eine stärker systematisierende Gliederung oder zumindest die einleitende Behandlung der komplizierten mitteldeutschen Raumsituation wäre wohl günstiger gewesen und hätte Vor- und Rückgriffe wenn nicht vermeiden, so doch reduzieren können. So umfasst etwa der dritte Hauptteil zu den „Raumkonkurrenten“ ein Kapitel zur sächsischen Haltung gegenüber Brandenburg-Preußen oder Hannover, obgleich die Dresdner Politik gegenüber den beiden ‚Aufsteigerterritorien’ sich doch vor allem über das Corpus Evangelicorum definierte, dessen Situation bereits zu Beginn der Untersuchung behandelt wird. Ähnliches ließe sich über die Behandlung der Schwarzburger Standeserhebung sagen, die für Kursachsen einen Prestigeverlust bedeutete und auf die im Buch immer wieder zurückgekommen wird. Störend wirken sich überdies die zahlreichen Druckfehler aus.

Hauptverdienst dieser fleißigen Studie ist zweifellos ihr enormer Materialreichtum. Die Arbeit, die sich auf eine sehr umfangreiche Quellen- und Literaturbasis stützt, ist meist flüssig geschrieben und bietet eine gute Aufarbeitung der sächsischen Geschichte zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die ohne ihre reichspolitischen und europäischen Zusammenhänge nicht angemessen gewichtet werden kann.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension