M. Kempe: Wissenschaft, Theologie, Aufklärung

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Titel
Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die Sintfluttheorie


Autor(en)
Kempe, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
477 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Pickert, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin

Johann Jakob Scheuchzer wurde erst kürzlich von der Wissenschaftsgeschichte „wieder entdeckt“: Nach zwei Dissertationen, die sich mit seinem enzyklopädisch-naturwissenschaftlichen Bibelkommentar Physica Sacra sowie dem darin enthaltenen umfangreichen Korpus von Kupferstichen befassten1, wird nun der Werkbezug ausgedehnt: Im Mittelpunkt der auf eine philosophische Dissertation zurückgehenden Untersuchung von Michael Kempe steht die Sintfluttheorie des Schweizer Gelehrten. Kempe verbindet damit ein mehrfaches Erkenntnisinteresse. Zum einen gelingt es dem Autor, durch die Analyse der Diluvialtheorie ein Bild Scheuchzers als typischem Vertreter der Universalwissenschaft um 1700 zu zeichnen. Daneben wird versucht, über eine synchrone und diachrone Kontextualisierung von Scheuchzers Sintfluttheorie einen während der Frühaufklärung vor sich gehenden Weltbildwandel nachzuvollziehen, der zu einem von naturteleologischen Vorstellungen getragenen optimistischen Fortschrittsglauben führte, welcher in die Moderne mündete, ohne zunächst eine Trennung von Wissenschaft und Theologie zu erfordern.

Die sich wie ein roter Faden durch die Werke Scheuchzers ziehende Sintfluttheorie entwickelte sich maßgeblich in Auseinandersetzung mit Thomas Burnets „Telluris theoria sacra“ (1681) und im Dialog mit John Woodwards „Essay toward a Natural History of the Earth“ (1695). Seit dem 16. Jahrhundert war die Sintflut als erster Höhepunkt eines durch die Erbsünde ausgelösten Weltverfalls gedeutet worden. Dagegen erklärte Burnet die erdgeschichtliche Katastrophe als eigentlichen Beginn der göttlichen Strafe und zeichnete das Bild einer paradiesischen antediluvialen Welt (Kap. 1). Eine perfekte eiförmige Erde ohne Berge, Täler oder Meere sei nach Rückgang der Wassermassen als gebrochene Ruine zurückgeblieben. Bevor nicht der finale Weltenbrand das Ende einläutete, konnte die Menschheit nicht auf Erlösung hoffen. Allerdings war es nun möglich geworden, Gottes Vorsehung richtig zu deuten: Denn immer – davon ging Burnet aus – waren es gottgegebene unveränderliche Naturgesetze, die den Verlauf der Heilsgeschichte bedingten. Damit integrierte er die biblische Katastrophe als Forschungsobjekt in die Diskussion der New Science. Schnell wurde jedoch auch von dieser Seite Kritik laut. War denn die Erscheinung der bestehenden Welt wirklich so schlecht, oder musste man nicht vielmehr davon ausgehen, dass allem ein tieferer Sinn, ja ein unmittelbarer Nutzen innewohnte?

Scheuchzers Interesse an der Sintflutfrage konzentrierte sich auf einen Bereich, den Burnet nicht berücksichtigt hatte: die Fossilien (Kap. 4). Der Schweizer Gelehrte schloss sich (nach anfänglichen Vorbehalten) der von John Woodward formulierten These eines organischen Ursprungs der Versteinerungen an, die vorher zumeist als figurale „Spiele der Natur“ gedeutet worden waren. Scheuchzer glaubte zwar – wie Burnet und andere „Welten-Bastler“ des ausgehenden 17. Jahrhunderts – daran, „mit der neuen Mechanik, mit den empirischen Wissenschaften und den Prinzipien der Naturphilosophie Newtons im Besitz genau jener Zauberformel zu sein, die es ihnen ermöglichen sollte, nun endlich die Genese und Geschichte der Erde wissenschaftlich zu rekonstruieren“ (S. 68). Die Ergebnisse, die er mit den neuen Methoden formulierte, unterschieden sich jedoch deutlich von Burnets Weltenruine.

In Auseinandersetzung mit philosophischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Diskursen seiner Zeit (etwa im Rahmen des Zürcher Diskussionszirkels des „Collegiums der Wohlgesinnten“) hatte Scheuchzer sich einen methodischen Eklektizimus zu eigen gemacht, der ihm dazu dienen sollte, seine Naturauffassung wissenschaftlich zu untermauern (Kap. 5). Immer stärker zeigte er sich überzeugt von der Idee einer zweckbestimmten, zielgerichteten Natur, die nicht „spielte“, sondern von der göttlichen Kraft nach festen Regeln gelenkt wurde. Da Figurensteine in diesem regelhaften System Platz hatten, mussten sie einst eine konkrete Funktion besessen haben, die sich nun aus ihrer äußeren Form ableiten ließ. Dabei ging Scheuchzer von einer Artenkonstanz aus, die für jedes Fossil ein lebendes Gegenstück voraussetzte. Wenn nun die Fossilien (wie Woodward annahm) durch die Sintflut entstanden waren, so hatten im Antediluvium die gleichen Lebewesen gelebt wie in der Gegenwart – mithin konnte sich das Antlitz der Erde nicht so stark gewandelt haben, wie Burnet behauptet hatte. Mit Woodward teilte Scheuchzer jedoch Burnets Glaube an die paradiesischen Zustände der vorsintflutlichen Zeit, zog daraus aber einen anderen Schluss: „Wenn die postdiluviale Welt der antediluvialen gleicht und vor der Sintflut die Natur harmonisch und gut war, dann kann folglich auch die heutige Natur keine gefallene sein.“ (S. 148)

Auch die Berge – in den Augen Burnets zwar ehrfurchtgebietend, doch missgestaltet – erhielten durch den Schweizer Alpinisten Scheuchzer eine neue, positive Bewertung (Kap. 6). Das Gebirge war nicht nur schön, es war nützlich: Ungebrochen zeigte sich hier das Wirken des göttlichen Baumeisters. Gerade die Schweizer – mit ihrer edlen Statur, robusten Gesundheit, dem politischem Bewusstsein sowie einem natürlichen Streben nach Unabhängigkeit – konnten beweisen, dass die veränderten Lebensbedingungen nach der Sintflut die Menschheitsgeschichte zum Guten hin befördert hatten (Kap. 9). Die antediluviale Umwelt mochte zwar eine paradiesische gewesen sein, doch sie korrumpierte und unterforderte die in ihr lebenden Wesen. Erst die Flut eröffnete einen zwar anstrengenden, aber gerade deshalb das Fortschreiten menschlicher Erkenntnis forcierenden Weg in die Neuzeit. Erstmals, so sah es Scheuchzer, war wirkliche Gotteserkenntnis möglich geworden: „Wissensakkumulation wurde damit zu einem Heilsweg“ (S. 324) und die Sintflut zum starting point der Kulturgeschichte des Menschen (S. 316).

Auch die Sammeltätigkeit der Diluvialisten Scheuchzer und Woodward spiegelt diese Verknüpfung von Natur- und Menschheitsgeschichte wider: Beide waren zugleich Naturalisten und Antiquare (Scheuchzer zudem der erste schweizerische Experte für „historische Hilfswissenschaften“). „Nicht nur die Artefakte des Altertums waren für Scheuchzer historische Dokumente, sondern auch und gerade die Fossilien.“ (S. 143). Aus ihnen las Scheuchzer Wahrheiten, die das Naturstudium gleichberechtigt neben die Lektüre der Heiligen Schrift treten ließ. Kempe erklärt diese Form des Glaubens an die Machbarkeit eines naturwissenschaftlichen Gottesbeweises zum Kern der so genannten Physikotheologie der Frühaufklärung, die er entsprechend seiner Grundthese eines verstärkt positiven Naturverständnisses „in Abgrenzung zur älteren Forschungsliteratur [...] nicht auf einen ‚Hintergrundpessimismus der Barockzeit’“ zurückführt, „sondern im Gegenteil auf die optimistische Aufbruchstimmung im Gefolge der wissenschaftlichen Revolutionen des 17. Jahrhunderts“ (S. 155).

Kempe präsentiert in seinem Werk Johann Jakob Scheuchzer als exemplarischen Vertreter eines disziplinüberschreitenden weltanschaulichen Universums – und macht doch gleichzeitig deutlich, welche bemerkenswerte Rolle dem schweizerischen Universalwissenschaftler beim Knüpfen des wissenschaftlichen Netzes zukam. Mit Kapitel 3 gelingt dem Autor ein aufschlussreicher Beitrag zur Frage der Mechanismen des gelehrten Diskurses der Frühaufklärung. Deutlich wird die hohe Relevanz unermüdlicher Briefschreiber als „Schaltzentralen der wissenschaftlichen Kommunikation“ innerhalb der Gelehrtenrepublik (S. 76). Die enge Verbindung zwischen Scheuchzer und der Londoner Royal Society (zunächst über Woodward, später mit ausgedehnterem Korrespondentenkreis) erstreckte sich über wissenschaftliche Belange hinaus auch auf Stellenbesetzungen, Druckfinanzierungen, auf Vertrieb und Übersetzungen neuer wissenschaftlicher Werke und Theorien über beide Seiten des Kanals hinweg. „Da die Briefe nicht nur der wissenschaftlichen Kommunikation, sondern ebenso der Aufrechterhaltung der persönlichen Beziehungen dienten, wurden sie auch nicht – wie häufig behauptet – von den gedruckten Journalen verdrängt. Sie sicherten vielmehr ein personal bestimmtes Netz informeller Kontakte [...] Der Brief konnte bestehende institutionelle Verbindungen erweitern, unterlaufen und neu vernetzen. Gegenüber den anderen Kommunikationsmedien der Gelehrsamkeit besaß er daher die größte mediale Flexibilität und Elastizität.“ (S. 78)

„Nicht dem Alter, sondern der Arbeit erlegen“ – dieser auf den Umfang seines Lebenswerkes anspielende Grabspruch des Vielschreibers Scheuchzer, den Autor Michael Kempe illustrativ zitiert (S. 25), verweist leider auch auf eine Schwäche der ansonsten gelungenen Monografie. Die Kapitelanordnung hätte klarer strukturiert, die Argumentation gestrafft werden können – beides ist wohl zum Teil auf die Materialfülle zurückzuführen, deren anekdotischer Verlockung Kempe manchmal nachgibt. Nicht immer gestaltet sich dies jedoch zum Nachteil des neugierigen Lesers, der sich gerne von Scheuchzers Sintflut in den Wirbel von Wissenschaft, Theologie und Aufklärung mitreißen lässt.

Anmerkung:
1 Müsch, Irmgard, Geheiligte Naturwissenschaft. Die Kupfer-Bibel des Johann Jakob Scheuchzer, Göttingen 2000; Felfe, Robert, Naturgeschichte als kunstvolle Synthese. Physikotheologie und Bildpraxis bei Johann Jakob Scheuchzer, Berlin 2003.

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