A. Birkenstock u.a. (Hgg.): Salsa Samba Santeria

Titel
Salsa, Samba, Santería - Lateinamerikanische Musik.


Autor(en)
Birkenstock, Arne; Blumenstock, Eduardo
Erschienen
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Zeuske, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Keine Forschung, aber eine gut erzählte und sehr nützliche Synthese.1 In fünfzehn Kapiteln und einem sehr informativen Anhang lassen die Autoren „lateinamerikanische Musik” Revue passieren und versuchen dabei immer wieder Verbindungen zu historischen und politischen Entwicklungen in Lateinamerika herzustellen. Klugerweise verzichten die beiden Absolventen des Kölner Regionalstudiengangs Lateinamerika von vorneherein auf eine strenge Definition von „lateinamerikanischer Musik” und bieten statt dessen ein „Merengue“ aus historischen, geografischen und soziologischen Elementen.

Die Verfasser nehmen den Leser mit auf eine (Zeit-)Reise durch Lateinamerika. Die imaginäre Fahrt beginnt bei den „Indianerkulturen Altamerikas”. Sie streift Conquista und Kolonisierung, macht in Mexiko längeren Halt, um dann zur Folklore der Anden (Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Brasilien) überzugehen und in jener des südlichen Südamerika (Paraguay, Uruguay, Chile, Argentinien) einen gewissen Abschluss zu finden. Eigentlich handelt sich um großflächige Kulturen, die jeweils eine spezifische Musik hervorgebracht haben. Dort, wo sich mehrere dieser „Kulturräume“ überschneiden, kam es zu besonders interessanten und strahlkräftigen Entwicklungen der Musikkultur: etwa auf der „achten Insel” der Kanaren – Venezuela (S. 66-71) und im Land der Cumbias und der Vallenatos – also in Kolumbien (S. 71-77).

Die Autoren versuchen sich zunächst an einer knapp gefassten Sozialgeschichte, wechseln aber dann zur Politikgeschichte, um die Nähe „lateinamerikanischer Musik” des 19. und 20. Jahrhunderts zu den jeweiligen politischen Prozessen zu zeigen (siehe auch: „Lesestoff – Weiterführende Literatur”, S. 316-318).

Es folgt eine kurze Retrospektive über „200 turbulente Jahre” seit 1808, im Grunde eine (leider) fast nur an Gustavo Beyhaut angelehnte Synthese der Geschichte der unabhängigen Staaten Lateinamerikas nach dem Motto: Kriege, Revolutionen und Perón (S. 94-111). In diesem Zwischenstück macht sich das Fehlen von Ansätzen musikhistorischer Forschung am deutlichsten bemerkbar: Warum gibt es keinen Hinweis auf die Musik der Kirche, der Oberschichten oder der Armeen etwa der Unabhängigkeitszeit? Für die Kolonialzeit gibt es einen soziologischen Ansatz, wenn auch einen sehr knappen, gebunden an Formate, Instrumente und Regionen unter dem Titel „Musik und Kultur zur Kolonialzeit“ (S. 37-43). In Caracas etwa ist schon vor 1808 Mozart nachgewiesen. Die Zauberflöte mit den „Heiligen Hallen” voller Sklaven und dem Sexmonster Monostatos (in der Oper ein „Mulatte”!) vor dem Hintergrund wirklicher Sklaverei – das hat doch etwas?! Aber eigentlich hatten die Autoren wohl nur einen guten Übergang zum Thema „Viva la Revolución – Protest- und Revolutionslieder” (S. 112-141) im Sinn, mit den Schwerpunkten „mexikanische Revolution”, Nueva Trova auf Kuba, Nueva Canción in Chile, Nuevo Cancionero in Argentinien/Uruguay, zentriert auf Mercedes Sosa, Chico Buarque in Brasilien und die Brüder Mejía in Nicaragua.

Das nächste Kapitel gilt Afroamerika (S. 142-237). Der Block wird eröffnet mit „Santería, Candomblé und Co. – Schwarze Kultur in Lateinamerika” (S. 142-157). Dieser Abschnitt und der nachfolgende Themenblock zeigen die Bedeutung des musikalischen Erbes, das Sklavinnen und Sklaven aus Afrika nach Amerika mitbrachten. Die Verfasser reflektieren dabei auch die neueren Debatten um Hybridität, Blackness und Globalisierung 2, die unter dem Titel „Tanz der Kulturen” 3 aufgegriffen wird. Hier werden die sozial-, ethno- und religionsgeschichtlichen Grundlagen für die nachfolgenden Teile über Brasilien und Kuba gelegt: ein kurzer Überblick zur Geschichte der Sklaverei; eine ebenso kurze Einführung in die Santería auf Kuba (leider findet sich nicht einmal der Hinweis auf die anderen afrokubanischen Religionen), eine Einführung in Candomblé (mit Erwähnung von Macumba und Umbanda) sowie ein Fensterblick auf Capoeira. Hier wird die Erkenntnis bestätigt: Die tiefen Wurzeln Afroamerikas liegen in verschiedenen regionalen Kulturen Afrikas; in Amerika aber entstanden neue Kulturen. „Afrika” wurde in Amerika neu erfunden. Dann kommen Brasilien und Kuba; zunächst natürlich der „Kontinent” Brasilien und dann die „Insel der Inseln”, Kuba.

Das Kapitel „Brasilien, ein eigener Kontinent – Die Música Populera Brasileira” (S. 158-176) behandelt die breiten Unterströmungen populärer Musik und ihrer regionalen Varianten im Süden (Minas Gerais) und im tropischen Norden; hier wird auch der überwältigende Erfolg des „feurige[n] Tanz[es]” (S. 176) Lambada eingeordnet, der eine Transformation von Rhythmen der Karibik und der Guayanas darstellt und in Salvador de Bahia von französischen Plattenproduzenten „entdeckt” wurde – natürlich in seiner bahianischen Variante. Spätestens an dieser Stelle kann sich der Rezensent die Frage nicht mehr verkneifen, inwiefern Musikstile, die Teil der Weltkultur und zum Teil von ihr wesentlich überformt worden sind, eigentlich noch sinnvoll unter dem Label „lateinamerikanisch“ zusammengefasst werden können.

„Karneval auf Brasilianisch” (S. 177-192) darf natürlich nicht fehlen. Kernstück ist „Der Samba”. Der Musikstile gibt es in Brasilien natürlich viele. Alle zeichnet aus, dass sie einer speziellen „erfundenen” Afrikanität huldigen und dass, historisch gesehen, Samba wohl auf einen Kreistanz aus dem heutigen Angola zurückgeht. In den 1920ern (weltweit wohl – neben den 1960ern – das künstlerisch revolutionärste und kreativste Jahrzehnt des schrecklichen 20. Jahrhunderts) wurde Samba von den Mittelschichten, Redakteuren und Medienleuten „neu” erfunden und vermarktet. Jedes durch Sklaverei geprägte Land hat seine Rassenmythen; in Brasilien und auf Kuba ist es der Mythos von der „Rassenblindheit” und „Klassenlosigkeit”. Auch damit setzen sich Birkenstock/Blumenstock kurz, aber prägnant auseinander (S. 177-179).

Das Kapitel „Bossa Nova – Ein Girl aus Ipanema zieht um die Welt” (S. 193-211) markiert musiksoziologisch die Übergänge zwischen Samba und Latin Jazz. Es ist eine Hommage an Vicinius de Moraes (und andere). Es zeigt auch und gerade bei diesem „leisen und für Brasilien bis dahin völlig untypischen Stil[s] [...] nur mit einer Gitarre und einer leisen Stimme” (S. 200f.), dass die „Blackness” seit den 1950ern eigentlich auf einer Métissage, Mestizaje oder Kreolisierung zwischen (oft) weißen Intellektuellen/Medienleuten und farbigen Sängern sowie europäischer oder nordamerikanischer Nachfrage beruht. Der „Black Atlantic” (Paul Gilroy) ist genau so eine Konstruktion wie „Afro-Brasil” oder der „Orfeu negro”, aber es sind sympathische Formen der Globalisierung und allemal gut erfundene Traditionen. Sehr gelungen erscheinen mir auch die Ausführungen über die „zwei verschiedenen Bossa Novas, das brasilianische Original und die US-amerikanische Version” (S. 202f.), die cum grano salis auch etwa für das „kubanische” Buena Vista-Phänomen gelten können.

Das Kapitel über Kuba „Kleine Insel, große Vielfalt – Die Musik Kubas” (S. 212-237) ist überzeugend strukturiert. Es reicht von der Vieja Trova und Guaracha, Rumba sowie Kontertanz (Habanera) bis Son, über Mambo, Chachachá und Nueva Trova bis zum kubanischen Latinjazz. Selbstverständlich wird Spezialisten immer etwas fehlen (sie oder er wird auch zu Maya Roy 4 greifen) oder aufmerksame Leser werden Überschneidungen feststellen. Aber das Kapitel zeigt einem jüngeren deutschsprachigen Publikum, dass „kubanische Musik” nicht nur von neunzigjährigen Männern und Frauen gemacht wird. Hier fehlt dem Rezensenten eigentlich nur der Verweis auf den einflussreichen Siboneyismo (nicht nur „Siboney” von Ernesto Lecuona) und die nicht minder einflussreiche Musik des „kleinen Kuba”, die Guajira (etwa Guillermo Portabales).

Die drei letzten Kapitel sind den wohl weltweit einflussreichsten Musikstilen Lateinamerikas gewidmet: der Salsa (Salsa – ein heiße Sauce aus der Karibik, S. 238-260), dem Bolero (Die Schnulze Lateinamerikas – Der Bolero, S. 261-278) und – natürlich – dem Tango (Tango, S. 279-295). Dazu nur soviel: Der Rezensent ist durchaus der Meinung (natürlich), dass „Salsa” von Échale Salsita (1929), einem transformierten Son über die Butifarras del Congo und „Vinegra” in Catalina de Güines, herstammt. Das war eines der ersten Formate, das fast alle karibischen Elemente vereinigte und Bläser in den Son einfügte. Sehr schön bringen die Autoren die Salsa mit dem „Guru der Weltmusik” (S. 260) und Woodstock-Veteran, Carlos Santana, in Verbindung; hier liegt auch die Freundschaftslinie zwischen dem eher angloamerikanischen Rock der wilden 1960ern und der hybriden Blackness der „schwarzen Karibik” oder des „schwarzen Atlantik”.

Bolero, der tieftraurige Gesang verlassener Menschen in Bares und Cantinas kann auch einem Hörer ans Herz gehen, der mit deutschen Schnulzen überhaupt nichts zu tun haben will – deshalb erscheint mir der Begriff „Schnulze” nicht angemessen, schon gar nicht in Verbindung mit Rita Montaner, María Teresa Vera oder Miguel Matamoros. Sollte „Mariposita de Primavera”, obwohl alle Ingredenzien zur Schnulze schon im Titel da sind, wirklich als eine solche bezeichnet werden? Oder haben wir einfach Angst vor ein bisschen Romantik? Na und Tango? Über Tango braucht man angesichts eines Buches von Arne Birkenstock eigentlich nicht zu reden. Das Kapitel über den Tanz bei dem „schwarz befrackte Gockel [...] rassige Damen über die Tanzfläche” (S. 279) zerren, über Grundlagen, Entstehung, Carlos Gardel („Adiós muchachos” ist der größte Titel ...), Enrique Santos Discépolo, Astor Piazzola und das unverwüstliche Bandoneon (Was nur kann das „Deitsch ond frei woll mr sei, weil mr Arzgebercher sei” Anton Günthers mit dem Río de la Plata zu tun haben?) ist schlicht gut.

Der umfangreiche Anhang (S. 296-337) bringt „Eine kleine Instrumentenkunde”, „Die wichtigsten Rhythmus-Patterns”, den bereits erwähnten „Lesestoff”, eine sehr gute „Auswahldiskografie”, das Register und „Hinweise zur CD” und natürlich die CD selbst. Diese bringt kaum Gewohntes oder Gewohntes im anders klingenden Latino-Original. Auch hier Lob!

Das Buch ist den Autoren und dem Deutschen Taschenbuch Verlag gut gelungen, es ist sehr gut lesbar und es ist ihm eine breite Leser- und Hörerschaft zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Forschung ist aber im Hintergrund: Arne Birkenstock ist ein veritabler Tangokenner, siehe: Birkenstock, Arne; Rüegg, Helena, Tango, München 1999.
2 Ich verweise hier nur auf Gilroy, Paul, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London 1993.
3 Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina, Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, München 1998.
4 Roy, Maya, Buena Vista. Die Musik Kubas, Heidelberg 2000.

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