M. Rieder: Deutsch-Italienische Wirtschaftsbeziehungen

Titel
Deutsch-italienische Wirtschaftsbeziehungen. Kontinuitäten und Brüche 1936-1957


Autor(en)
Rieder, Maximiliane
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Campus Verlag
Anzahl Seiten
538 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
René Del Fabbro, Schwabhausen

Dass Deutschland den Krieg verloren hat, verdankt es eindeutig dem Italiener. So könnte man, frei nach Gerhard Polt, Rieders Buch zusammenfassen. Was für die politisch-militärische Ebene angesichts der gescheiterten Feldzüge des Duce (Griechenland, Nordafrika) und des Umsturzes in Italien kaum zu bezweifeln sein dürfte – schließlich entstand im Mittelmeerraum die zweite Front gegen NS-Deutschland –, bestätigt sich auf wirtschaftlicher Ebene. Denn insbesondere Italiens mangelnde Wirtschaftskraft erklärt, dass es den Krieg gerade einmal drei Jahre durchstehen konnte. Nur ein Schlaglicht hierzu: Die italienische Industrie lieferte dem Heer im Winter 1940/41 monatlich gerade einmal 46 Panzer zu 13 Tonnen (S. 179). Italien führte demnach auch wirtschaftlich nicht gerade einen totalen Krieg, weshalb die Südflanke den Alliierten die Achillesferse des Achsenbündnisses bot. Vor diesem Hintergrund stellt Rieder in Anlehnung an die Thesen Vera Zamagnis 1 die übergeordnete Frage, warum Italien als verspätete Industrienation nach dem Zweiten Weltkrieg so schnell von der Peripherie ins Zentrum Europas aufrücken konnte.

Das Buch vermittelt grundlegende Einsichten in die handlungsleitenden ökonomischen Motivationen Mussolinis. Wirtschaftspolitisch gesehen, suchte er Italien im Zuge einer forcierten Industrialisierung von der deutschen Dominanz zu befreien. Berlin hingegen erblickte in dem Mittelmeerland weiterhin den traditionellen Lieferanten von Agrarprodukten sowie den Absatzmarkt für bestimmte Rohstoffe, Halbfabrikate und Maschinen. Zwar wurden die beiden Diktaturen ab 1940 gegenseitig zum jeweils wichtigsten Handelspartner. Doch blieb dieses Verhältnis höchst ambivalent, und die Reichsregierung machte sich bereits vor dem Krieg keine Illusionen über die – überaus begrenzten – wirtschaftlichen Ergänzungsmöglichkeiten der beiden Länder. So bestimmten „Rivalität und gegenseitige Unberechenbarkeit“ das Achsenbündnis (S. 481).

Schon die Autarkiekonzepte und der notorische Devisenmangel sowohl des faschistischen als auch des nationalsozialistischen Regimes standen einer auf politischer Ebene propagierten Wirtschaftsverflechtung entgegen. Nachgerade ein Nadelöhr stellte der alpenquerende Schienenverkehr dar, den die Achsenpartner seit der britischen Blockade des Seewegs seit 1940 ausschließlich zu nutzen gezwungen waren. Aufgrund anderweitiger Prioritäten standen kaum jemals genug Waggons zum Transport der Güter bereit. Daneben überschnitten sich die ökonomischen Interessen beider Nationen auf dem Balkan, wo die Verbündeten Absprachen bis zur Besetzung Albaniens 1939 bzw. dem in einem Fiasko endenden italienischen Griechenlandfeldzug 1940 auswichen. Durch den territorialen Anschluss Österreichs sowie die Besetzung der Tschechoslowakei, Teilen Jugoslawiens und Griechenlands entschied Deutschland den ´Balkankonflikt´ innerhalb des Bündnisses mit seinen überlegenen militärischen Mitteln letztlich für sich bzw. geriet durch den unter militärischem Druck stehenden Partner hierbei geradezu in strategischen Zugzwang.

Neben dem Zugriff auf Arbeitskräfte sicherte die Besetzung Italiens 1943 NS-Deutschland auch das norditalienische Industriepotenzial. Historisch pikant ist es, dass seit den beginnenden deutschen Niederlagen nicht nur deutsche und italienische Unternehmer gedanklich bereits die Nachkriegszeit antizipierten, sondern Albert Speer höchstpersönlich, indem er im Hinblick auf eine Nachkriegskooperation mit Italien dazu tendierte, dessen Industriekapazitäten zu schonen. Insofern verweist bereits die mit dem Ende von Mussolinis Parallelkrieg einsetzende deutsche Auftragsverlagerung nach Italien strukturell auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (S. 480). Der Mussolinis Kooperationsministerium leitende Chemieingenieur Angelo Tarchi, der den Einfluss der faschistischen Partei auf die Wirtschaft zurück drängte und unabhängige Pragmatiker zur Organisation der Industrie einsetzte, fungierte hierbei als eine Art italienischer Speer. Angesichts von Nachkriegsplanung und Substanzsicherung kann von gezieltem Widerstand italienischer Industriekreise gegen die deutsche Besatzung trotz gegenteiliger Legenden keine Rede sein. Freilich kooperierte die italienische Industrie auch mit den Alliierten und den Partisanen. Durch die Aufrechterhaltung des Betriebs wurden die Produktionseinrichtungen jedenfalls unbeschadet in die Zeit des Wiederaufbaus gerettet.

Da die italienischen Industriellen weiterhin für deutsche Auftraggeber produzierten, „ist die Interpretation der Besatzungszeit als Ausbeutung im industriellen Sektor zu differenzieren. Denn je mehr die Ziele der Speer-Organisation den Interessen der Firmen (Kapitalerhaltung, Geldleistungen, Absatzmöglichkeiten) entgegen kamen, desto größer war die Bereitschaft zur Aufrechterhaltung der Produktion“ (S. 489). Auch in der Endphase des Krieges beließ es Speer im Hinblick auf eine Nachkriegsordnung bei Lähmungsmaßnahmen der Industrie im letzten außerdeutschen Machtbereich Norditalien. So wurden, während in Süd- und Mittelitalien Industrie und Infrastruktur nachhaltige Zerstörungen erlitten, in Oberitalien die Unternehmen zu 80 Prozent erhalten. Unter diesen Startbedingungen erreichte Italien bereits 1947 wieder das Produktionsniveau von 1938. Auf Mussolinis Industrialisierung trotz deutscher Widerstände, deutschen Technologietransfer und den Erhalt der norditalienischen Industrie begründete Italien geradezu sein Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit.

Nach Kriegsende kam es sowohl in Westdeutschland als auch in Italien zu einer politischen Westbindung. Der italienische Ministerpräsident Alcide De Gasperi bemühte sich bereits ab 1947 bei der US-Regierung um Exportgenehmigungen in die Bizone. 1950 lag die Bundesrepublik bereits an zweiter Stelle von Italiens Importeuren. Ein reger Handel zwischen der BRD und Italien setzte ein, der im Zuge des Koreakriegs die USA zeitweise als Hauptimporteur Italiens substituierte. Als Entsendeland von Arbeitskräften nach Deutschland knüpfte Italien bereits Ende der 1940er-Jahre wieder an die Vorkriegstradition an und beabsichtigte damit, zum Ausgleich seiner defizitären Zahlungsbilanz beizutragen. Eine Massenwanderung setzte freilich erst mit dem Mauerbau und dem Versiegen des mitteldeutschen Arbeitskräftereservoirs ein. Auch der beginnende Massentourismus fungierte, wenn auch fast ausschließlich in Nord-Süd-Richtung, als Begegnungsebene der beiden jungen Demokratien und trug zur Behebung von wirtschaftlichen Ungleichgewichten zwischen Deutschland und Italien bei.

Eines war jedoch neu: Italien zeigte sich im Gegensatz zur Vorkriegszeit mit zahlreichen Industrieprodukten nicht mehr nur im primären, sondern auch im sekundären Sektor stark vertreten. Innerhalb der beiden Jahrzehnte von 1937 bis 1956 weisen Italiens Ausfuhren nach Westdeutschland einen bemerkenswerten Strukturwandel auf. Exportierte Italien 1937 erst 7 Prozent Fertigwaren nach Deutschland, so konnte es diesen Anteil bis Mitte der 1950er-Jahre auf fast 30 Prozent steigern. Folgt man den Thesen von Zentrum und Peripherie, so rückte der Mittelmeerstaat nach dem Zweiten Weltkrieg gerade aufgrund der Weigerung des Faschismus, auf eine im deutschen Sinne unerwünschte Industrialisierung zu verzichten, von der Peripherie mehr und mehr ins Zentrum eines wirtschaftlich kooperierenden Kerneuropa. Dies stellt geradezu ein Paradoxon dar, zeigte sich doch die italienische Rüstungsindustrie nur wenige Jahre zuvor kaum in der Lage, das Militär ausreichend zu versorgen. Fest steht, dass unter der Prämisse einer freien, aber aufgabengeteilten Weltwirtschaft Italien und Deutschland im Gegensatz zur Autarkiezeit komplementäre Wirtschaftsräume ausbildeten.

Was Deutsche und Italiener seit der Antike geradezu schicksalhaft aneinander bindet, aber auch was sie voneinander trennt, hat Maximiliane Rieder auf wirtschaftlicher Ebene für einen kurzen Zeitraum des Jahrtausende währenden Kontakts der beiden ´Völker´ auf breiter Quellenbasis mit eindrucksvoller Akribie untersucht. Ihre primäre – urhistoriografische – Fragestellung, die Suche nach Kontinuitäten und Brüchen, fördert erstaunliche Ergebnisse zu Tage. Dies gelingt nur deshalb, weil Rieder die für wissenschaftliche Arbeiten üblichen, in gewisser Weise von (Politik-)Historikern vorgegebenen Periodisierungen verlässt und mit den beiden Jahrzehnten von 1936-1957 einen verschiedene Regierungs- und Wirtschaftsformen überschneidenden Untersuchungszeitraum wählt. Indem sie den Bogen von der Weltwirtschaftskrise bis zur Gründung der EWG spannt, erfüllt die Studie ein Desiderat zur wirtschaftshistorischen Aufarbeitung der Beziehungen zwischen Deutschland und Italien und ergänzt die Arbeiten Zamagnis in entscheidender Weise.

Ordnet man Rieders Ergebnisse in eine longue durée ein, so zeigt sich, dass Italien nach deutscher Hegemonie im Hochmittelalter, eigener überlegener Wirtschaftsmacht in Spätmittelalter und Renaissance sowie einem langen Niedergang bis zur nationalen Einigung Mitte des 19. Jahrhunderts gerade in der von Rieder untersuchten Periode die Grundlagen für neue ökonomische Kraft und den Auftritt als einer der führenden Wirtschaftsnationen der Welt legte. Vielleicht liegt hierin der Grund dafür, dass Deutschland und Italien im Gegensatz zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als in Deutschland allenthalben der Hass auf die italienischen ´Verräter´ geschürt wurde, so schnell wieder freundschaftliche Kontakte pflegten. Unverkennbar liegt eine gewisse Ironie der Geschichte in der Tatsache, dass Italien als Ursprungsland des Faschismus so tatkräftig zu dessen Niedergang als europäischem Spuk beitrug und gerade im Verhältnis zu Deutschland ein neues Europa antizipierte.

Anmerkung:
1 Zamagni, Vera, Dalla periferia al centro. La seconda rinascità economica dell´Italia 1861-1990, Bologna 1993.

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