P. Süß: Graetz. Eine Familie und ihr Unternehmen

Cover
Titel
Graetz. Eine Familie und ihr Unternehmen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik - "Ist Hitler nicht ein famoser Kerl?"


Autor(en)
Süß, Peter
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
René Del Fabbro, Schwabhausen

Süß´ Buch präsentiert etwas in der Unternehmenshistoriografie eher Seltenes, nämlich die Geschichte eines bereits seit einiger Zeit untergegangenen Unternehmens. Das hat grundsätzlich den Vorteil, dass der Historiker unbehindert von PR-Strategen und mit freiem Zugriff auf Quellen des Unternehmens agieren kann. Letzteres erlangt für den Fall Graetz keine praktische Bedeutung, da das Unternehmensarchiv Ende der 1980er-Jahre fast komplett vernichtet wurde. So musste wie in vielen Fällen auch hier mit der archivischen Gegenüberlieferung von Dokumenten gearbeitet werden, und es zeigt sich einmal mehr, dass diese bei allen Lücken tragfähig für eine wissenschaftliche Arbeit ist.

Das Buch deckt zwar laut Inhaltsverzeichnis den Zeitraum 1866 bis 2002 ab, doch wird die Periode nach 1945 mit gerade einmal fünf Seiten mehr als kursorisch abgehandelt. Während das Erwecken des Anscheins, auch die Zeit der Bundesrepublik in der gleichen Weise abzudecken wie die Zeit davor, noch als eher lässliche Sünde interpretiert werden kann, wirkt die Verwendung eines völlig zusammenhanglos da stehenden Ausspruchs des Gründerenkels Erich Graetz als Buchtitel geradezu deplaciert. Hofft der Verlag etwa, mit Hitler im Titel mehr Bücher über einen Lampenhersteller zu verkaufen? Spät, nämlich auf Seite 182, erfährt der Leser dann beiläufig, dass Graetz den Titel gebenden Satz 1935 im Zusammenhang mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht niederschrieb. Die Verantwortlichen sollten hier etwas vorsichtiger sein. Denn was Profi-Historiker schnell in einen Kontext einordnen, kann beim viel bemühten ´interessierten Laien´ auch schnell zu Fehlinterpretationen führen.

In Abgrenzung zur Debatte, ob Unternehmensgeschichte in erster Linie Wirtschaftshistorikern vorbehalten sein oder auch Allgemeinhistorikern offen stehen sollte, plädiert Süß für einen vielschichtigen Ansatz, der neben den übergreifenden Zusammenhängen der Politikgeschichte Unternehmenshistoriografie vor allem begreift als „Geschichte von handelnden Menschen in einem organisierten Sozialsystem“ (S. 27). Das Unternehmen wird im Zuge dieses Ansatzes aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet: 1. Unternehmen als zweckgebundene Organisation (Gewinne erwirtschaften), 2. Unternehmen als soziale Organisation (Ort des Konfliktaustrags und Rolle der Unternehmenslenker), 3. Unternehmen als abhängige Organisation (politische und wirtschaftliche Einflüsse). Die zunächst etwas sonderbar klingende Einteilung der den Schwerpunkt der Studie bildenden NS-Zeit in eine „Ära Schacht 1933 bis 1936“, eine „Ära Göring 1937 bis 1941“ und eine „Ära Speer 1942 bis 1945“ erweist sich im Lauf der Lektüre als sehr ergiebig, um die Eigenheiten der einzelnen wirtschaftspolitischen Phasen der NS-Zeit von einander abzugrenzen. Ein Hauptaugenmerk gilt hierbei der Klärung des Verhältnisses zwischen Staat und Industrie sowie die daran geknüpften Forschungskontroversen um Primat der Wirtschaft oder Primat der Politik – eine Diskussion, die Süß vor dem Hintergrund des Gegensatzes von BRD- und DDR-Geschichtsschreibung in seiner Einleitung souverän skizziert (S. 14-20).

Ehrich & Graetz, wie die Firma nach dem Berliner Kaufmann Emil Ehrich und dem Klempnermeister Albert Graetz seit ihrer Gründung am 1. Januar 1866 hieß, war eine Liaison zwischen Erfinder und Kaufmann wie sie für die Gründungsphase vieler Unternehmen typisch ist. Albert Graetz hatte 1859 die erste hell leuchtende Petroleumlampe erfunden. Zunächst in Kreuzberg, seit Ende des 19. Jahrhunderts in Treptow und nach 1945 in Altena ansässig, gehörte Graetz nicht zu den ganz Großen, sondern zum Mittelstand. Als führender Repräsentant der Petroleum- und Gasbeleuchtung Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts steht das Unternehmen für einen technischen Parallelweg zum Beleuchtungsgeschäft der Elektroindustrie mit ihren führenden deutschen Repräsentanten Siemens, AEG und der Auergesellschaft. Zwar wird auch heute noch Gas als Leuchtstoff, etwa bei der Straßenbeleuchtung, eingesetzt, und die mit Gastechnik beleuchteten Innenräume erstrahlten wohl wirklich „hell wie der lichte Tag“ – ein Slogan mit dem unberechtigter Weise die Elektroindustrie warb. Dennoch verdeutlicht die Geschichte von Graetz, dass man sich nach der Blüte der Gasbeleuchtung technikgeschichtlich gesehen auf einem Nebenweg befand, wie die beständige Suche nach neuen Produkten, zuletzt vor allem nach Elektrogeräten, zeigt. Petroleum- und Gasbeleuchtung, die Domänen von Graetz, waren um 1930 bereits „im Niedergang befindliche Techniken“ (S. 124).

In der Zeit beider Weltkriege stellte Graetz wie die meisten anderen Unternehmen auf Rüstungsproduktion um, was unerhörte Gewinne ermöglichte, die in den Bilanzen jedoch als Abschreibungen versteckt wurden. Erhellend ist in diesem Zusammenhang, dass Süß es versteht, Bilanzen zu lesen, was es ihm erlaubt, gängige Tricks der Rechnungslegung zu analysieren und souverän zu erläutern. So war es im Kaiserreich, in der Weimarer Republik wie auch in der NS-Zeit gängige Praxis, Anlage- und Beteiligungsvermögen über den tatsächlichen Verschleiß hinaus abzuschreiben, um die Ertragslage zu verschleiern. Insbesondere wurde diese Methode in Kriegszeiten angewandt, in denen die Graetz AG verstärkt Rüstungsgüter produzierte, die sowohl im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg unter dem Kürzel KEM (keine eigenen Modelle) subsumiert wurden.

Während des Ersten Weltkriegs schrieb Graetz fast alle Neuanschaffungen hundertprozentig ab. Knapp 11,2 Millionen Mark für Abschreibungen standen lediglich 8,4 Millionen an Investitionen gegenüber. Analog verhielt sich das Unternehmen im Zweiten Weltkrieg, in dem Graetz in der „Ära Speer“ mit der Graetzin-Kraftstoff-Förderpumpe über ein rüstungsstrategisches Produkt verfügte, das ab 1942 in jedes deutsche Flugzeug eingebaut wurde. Die fortwährende Bildung freier Rücklagen lässt laut Süß keinen anderen Schluss zu, „als daß das Unternehmen bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein, das heißt bis mindestens 1943, exorbitante Profite erzielte“. Für die Graetz AG bestätigen sich somit Mark Spoerers Befunde zu den Unternehmensgewinnen zwischen 1925 und 1941 1, und Süß resümiert, man könne in den Gewinnen den Köder sehen, mit dem der Nationalsozialismus das Unternehmen für seine Zwecke einspannte (S. 263).

Süß´ beständige Auseinandersetzung mit den Thesen um Primat der Politik oder Primat der Wirtschaft mündet in sein Fazit: „Läßt man die Firmenakten auf sich wirken, mutet die Polemik, mit der die Forschung über Jahrzehnte die Frage nach dem Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft in der NS-Zeit diskutiert hat, eigentümlich papierern an. Weder die ´Primat der Politik´-These noch ihre kommunistische Schwester, die Doktrin vom ´Primat der Wirtschaft´, scheint geeignet, die Realitäten in einem Unternehmen wie der Ehrich & Graetz AG einzufangen.“ (S. 265) Bestechend ist in diesem Zusammenhang auch die Bewertung der wirtschaftspolitischen Lenkungsmaßnahmen des NS: „In vertrauter deutscher Ordnungswut beschloß man Gesetze und Verordnungen, die jedoch teilweise einander ausschlossen und überdies dem ständigen Gegeneinander der Göring, Schacht und, später, Speer, Sauckel, Himmler und Goebbels ausgesetzt waren. Folglich ging das Regelwerk in jener polykratischen Struktur des Dritten Reichs unter, die man auch für die Wirtschaft wird konstatieren müssen, wobei die letztinstanzlichen Führerentscheide dem Herrschaftssystem auch hier das Gepräge gaben. Nur wer den Sinn für die Wirklichkeit verloren hat und sie mit dem geduckten Papier der Reichsverordnungen oder den verschiedenen Durchführungsverordnungen verwechselt, wird den Eindeutigkeiten das Wort reden.“ (S. 178)

Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass man den Fall Graetz keinesfalls verallgemeinern kann. In rüstungspolitisch bedeutsame Branchen wie die Luftfahrtindustrie regierte die Politik massiv hinein. Was passierte, wenn sich Exponenten dieser Industrie den NS-Machthabern nicht fügten, dafür ist die Enteignung des Dessauer Luftfahrtunternehmers Hugo Junkers 1933/34, die Lutz Budraß als „die früheste, nicht rassistisch motivierte Aktion gegen einen zwar nicht führenden, aber sehr bekannten deutschen Unternehmer“ bezeichnete2, ein beredtes Zeugnis. Seit Mitte der 1930er-Jahre hingen die führenden Unternehmen der Branche geradezu am Gängelband des nicht gerade mit Sachverstand gesegneten Reichsluftfahrtministeriums. Budraß charakterisierte die Konstellation als „eine bürokratische Rüstungsverwaltung, die die unternehmerische Freiheit scharf einschränkte und im Endeffekt in eine staatliche Regulierung der Flugzeugindustrie mündete“.3 Jener staatliche Dirigismus beschränkte sich indes nicht auf die Zeit der NS-Diktatur. Bereits im Kaiserreich und auch in der mit dessen obrigkeitsstaatlichem Erbe behafteten Weimarer Republik griff die Politik massiv in die Rüstungsunternehmen ein. Aus so genannten nationalpolitischen Gründen verdrängte das Reichsverkehrsministeriums von 1926 bis 1929 mit Hilfe der Deutschen Bank den italienischen Staatsbürger Camillo Castiglioni als Alleineigentümer der Bayerischen Motorenwerke.4 Ein Vorgang, der de facto ebenfalls eine Enteignung darstellte.

Alles in allem legt Süß ein – bis auf den Titel – gelungenes Buch vor, das der historischen Realität durch klare Analyse und präzise Sprache gerecht wird. Was dem Leser, der bereits eine Vielzahl deutscher Unternehmensgeschichten kennt, ins Auge fällt, ist die Tatsache, dass diese bei allen Eigenheiten auch der verschiedenen Branchen doch ein Grundraster und damit einen gewissen Gleichklang aufweisen. Diese Muster für den Fall Graetz herauszuschälen, ist zweifellos ein Verdienst von Süß´ beständiger Auseinandersetzung mit den verschiedensten Theorieelementen, auch wenn er diese Zusammenhänge mit Ausnahme der Primatdiskussion immer nur schlaglichtartig beleuchten kann. In dieser Richtung sollte die unternehmenshistorische Forschung im Sinne einer Aggregation von Befunden als Basis von Theoriebildung unbedingt weiter arbeiten. Vorstellbar wäre es, diese Raster für deutsche Unternehmen zu erforschen und international zu vergleichen. So ließe sich zum Beispiel das spezifische Wechselverhältnis zwischen Unternehmenstätigkeit und verschiedenen politischen Systemen heraus destillieren.

Anmerkungen:
1 Spoerer, Mark, Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925-1941, Stuttgart 1996.
2 Budraß, Lutz, Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918-1945, Düsseldorf 1998, S. 320.
3 Ebd., S. 338.
4 Del Fabbro, René, Internationaler Markt und nationale Interessen. Die BMW AG in der Ära Castiglioni 1917-1930, in: Sozial.Geschichte 2 (2003), S. 35-62.

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