Titel
Johannes R. Becher. Eine politische Biographie


Autor(en)
Behrens, Alexander
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Intellektuelle im "Zeitalter der Extreme" ist noch immer ein faszinierendes Thema. Und geradezu exemplarisch scheint der widerspruchsvolle und beispiellose Weg des 1891 geborenen Münchener Bürgersohns, Anarchisten, "Hurenmörders" und "Morphinisten", der sich als erster deutscher Dichter zur Oktoberrevolution bekannte, zum Funktionär, zum Kulturminister und Staatsdichter zu sein, den man in der DDR nach seinem Tod 1958 zum Denkmal erhob. Nahezu gleichzeitig wurden zwei Biografien Johannes R. Bechers erarbeitet: Jens-Fietje Dwars "Abgrund des Widerspruchs" erschien 1998.1 Alexander Behrens Text wurde 1999 von der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Universität Tübingen zur Promotion angenommen. Selbstverständlich will und muss jeder Promovent sich auch gedruckt sehen. Einen guten Dienst hat sich Behrens damit nicht erwiesen. Sein Buch bleibt in vielem hinter Dwars' Darstellung zurück. Während Dwars gewissermaßen ein Panorama des 20. Jahrhunderts lieferte und den Intellektuellen und Politiker Becher darin verortete, konzentriert sich Behrens allein auf die politische Persönlichkeit Bechers und blendet das dichterische Werk weitgehend aus. Er verfolgt dabei einen psychologischen Zugang, nach dem die "Loslösung Bechers von seinen Eltern" nie wirklich gelang und sein Lebensplan "dem Weg seines Vaters in auffälliger Weise glich" (S. Xf.). Behrens kommt zu dem Schluss: "Eines jedenfalls steht fest, daß der Psyche dieses intelligenten, empfindsamen und angsterfüllten Menschen ein zutiefst pathologischer Zwang anhaftete, dessen Urgründe man nie mehr wird klären können und der mit Widersprüchlichkeiten, Opportunismus, Machtgier, Inkonsequenz, ja nicht einmal mit Furcht vor Autoritäten allein zu begründen wäre. Dieses Leben war Qual, Schmerz und Selbstzerstörung von Anfang an." (S. 293)

Der Frage, warum Intellektuelle aus dem Bürgertum "im Dunkel unsicherer Zeiten Zuflucht gesucht haben bei einer der politischen Religionen des vergangenen Jahrhunderts" (S. XIII), geht Behrens in zehn chronologischen Kapiteln nach: "1. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit" schildert Bechers Kindheit von 1891 bis 1911. "2. Verfall und Triumph" ist dem Jungstar des Expressionismus von 1911 bis 1918 gewidmet. "3. Kirche, Krisen, Konversion" beantwortet die Frage: Wie wird man Kommunist? 1918 - 1923. "4. Agitprop und Hochverrat" zeigt Bechers frühe Bewährung im Parteiapparat von 1923 bis 1926. "5. Ein kommunistischer Vorzeigedichter" stellt seinen Aufstieg in der Komintern und seine Rolle als "Reichsfraktionsleiter" der proletarisch-revolutionären Literatur von 1926 bis 1933 dar. "6. Organisator der literarischen Einheitsfront" beschreibt die Jahre der Emigration und des antifaschistischen "Kulturkampfes" von 1933 bis 1935. "7. Der Glücksucher und die sieben Lasten" verweist auf Exil und Gefangenschaft in Moskau zwischen 1935 und 1945. "8. Auferstanden aus Ruinen" skizziert Bechers Rolle beim Wiederaufbau und bei der Gründung des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands von 1945 bis 1948. "9. Der deutschen Zukunft zugewandt" trägt den Untertitel "Sänger der Einheit und Repräsentant der Spaltung 1948-1954". Und "10. Die Illusion von Geist und Macht" behandelt Bechers Zeit als Kulturminister von 1954 bis 1958.

Behrens hat für seine Darlegung die einschlägigen Archivquellen und Veröffentlichungen zu Rate gezogen. Etwas Neues erfährt der Kenner aus dieser Becher-Biografie sicher nicht. Aber es ärgert ihn schon, wenn zuhauf moralische Vorwürfe und kurzschlüssige Bewertungen vorkommen. Da war einer wie Becher z.B. "politisch völlig verquast" (S. 52) oder es ist von seiner "fürchterlichen Loyalität" (S. 262) die Rede. Da passt schon "politische Frühreife zum Bild eines jungen sensiblen Dichters, der im späteren Leben DDR-Kulturminister würde" (S. 53), da verschmilzt der "politisch ambitionierte Mensch und der Dichter" zu einer "neuen Spezies, der des Parteidichters", womit "die Mittelmäßigkeit seiner späteren politisch-literarischen Existenz quasi fest[stand]" (S. 76) oder da empfiehlt sich Becher bereits 1944 der Kulturkommission der KPD "für das Kulturressort einer künftigen ostdeutschen Zonenregierung" (S. 221). Auf solche Weise werden die Brüche und Widersprüche eines exemplarischen Lebenslaufes kaum verständlich und die Offenheit, Kontingenz und Multiperspektivität der Geschichte geleugnet. Zugleich übergeht Behrens wichtige Ereignisse, Debatten und Zusammenhänge, die für ein tieferes Eindringen in Bechers Biografie relevant wären: z.B. die Expressionismusdebatte im Moskauer Exil, die Nähe von Bechers Kulturbundkonzept zu Anton Ackermanns "besonderem deutschen Weg" oder die Formalismusdiskussion in der frühen DDR. Wahrscheinlich hat auch der lange Atem, den man für eine solche Biografie braucht, nicht ausgereicht. Wie ist es sonst zu erklären, dass sich gerade zum Ende hin bedauerliche Fehler häufen. Beispielsweise muss es natürlich Wilhelm statt Wilgelm Florin heißen (S. 139, 349); Becher war nie 3.Vizepräsident der Deutschen Verwaltung für Volksbildung, er stand zwar auf der Vorschlagsliste, aber hat den "Posten" 1945 abgelehnt (S. 237); "Sinn und Form" wurde Ende 1948 nicht Ende 1949 gegründet und Präsident der Akademie der Künste wurde Becher erst 1953 (S. 259); die ersten HO - Läden gab es schon Ende 1948 und nicht erst 1953 (S. 273) und Bad Saarow, das müsste dem Becher-Biograf doch geläufig sein, liegt nicht an der Ostsee (S. 291, 298) sondern am Scharmützelsee. Schließlich hatte Becher dort sein Wochenendhaus, segelte oft und bedichtete gar die brandenburgische Landschaft nebst seinem Refugium.

Ich möchte mich nicht wiederholen. Was zu Bechers Zusammenhängen des Scheiterns wie zu den Konstanten seines wechselvollen Lebens zu sagen war, habe ich in der Rezension zu Jens-Fietje Dwars Biografie versucht. Selbstverständlich kann auch Alexander Behrens' Biografie als Einführung in Johannes R. Bechers Leben und als Wegweiser zu weiterem Studium dienen. Einer Fehlinterpretation sei zum Schluss noch widersprochen, die zu gut in das Behrens'sche Bild gepasst hätte. Nicht im Sozialismus erkannte Becher den "Grundirrtum seines Lebens", wie Behrens meint, sondern wie er doch richtig Becher zitiert: "Der Grundirrtum meines Lebens bestand in der Annahme, daß der Sozialismus die menschlichen Tragödien beende [...] In diesem Grundirrtum zeigt sich einerseits eine gleichsam kleinbürgerliche, spießerhafte, idyllische Auffassung des Sozialismus und andererseits das nur allzu beflissene Bestreben, das sozialistische Experiment, wie es sich in seiner aktuellen Wirklichkeit darbietet, mit einer Apologetik zu umgeben. Das Gegenteil aber, wie sich gezeigt hat, ist der Fall [...] Der Sozialismus hat erst die menschliche Tragik in Freiheit gesetzt." (S. 293)

Anmerkung:
1 Vgl. Dietrich Gerd: Rezension zu: Dwars, Jens-Fietje: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998. In: H-Soz-u-Kult, 13.02.2001, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1228.

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