Cover
Titel
Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen (1889-1943)


Autor(en)
Keßler, Mario
Reihe
Zeithistorische Studien 24
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Barck, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„Es ist ein Märchen, daß der Geschichtsforscher imstande ist, völlig losgelöst von seiner eigenen Person festzustellen, wie es in der Vergangenheit eigentlich gewesen ist. Denn es gibt doch keinen Automaten, der imstande wäre, mechanisch die geschichtlichen Tatsachen aufzusuchen, auszuwählen und zu verarbeiten, sondern der Historiker als lebendiger Mensch muß dies tun und bei der Auffindung, Gruppierung und kritischen Verwertung des Materials muß er nach bestimmten Grundsätzen arbeiten. So ist kein Historiker ohne Prinzip und ohne Weltanschauung möglich.“

Dieses Credo stammt aus dem Jahre 1938, als sich der aus Deutschland vertriebene Arthur Rosenberg im britischen Exil befand, nur wenige Jahre vor seinem frühen Tod 1943 in New York. Mit „Weltanschauung“ war bei ihm der Marxismus gemeint, für dessen zeitgemäße Anwendung und theoretische Weiterentwicklung er sich zeitlebens einsetzte. Mit seinen großen historischen Werken „Die Entstehung der Deutschen Republik“ (1928), „Geschichte des Bolschewismus“ (1932), „Der Faschismus als Massenbewegung“ (1934), „Geschichte der deutschen Republik“ (1935) sowie vor allem „Demokratie und Sozialismus“ (1938), hatte sich Rosenberg als Zeithistoriker so nachdrücklich ausgewiesen, dass ihm eine Rezeption nach 1945 durch verdienstvolle Ausgaben in der Europäischen Verlagsanstalt seit 1955 sowie durch Übersetzungen in zahlreiche Sprachen gesichert war.

Zu fragen wäre heute, wie aktuell die Arbeiten eines Historikers sein können, in dessen Zentrum das Wechselverhältnis von Demokratie und Sozialismus stand? Was ist überhaupt aus historischen Analysen der Weimarer Republik oder des deutschen Nazi-Reichs für heute zu lernen? Was gar kann nach dem Ende der real-sozialistischen Experimente des vorigen Jahrhunderts aus seiner „Geschichte des Bolschewismus“ entnommen werden? Solche und ähnliche Fragen drängen sich bei der Lektüre des vorliegenden Buches auf, wenn man nicht bei der liebevollen „Nachzeichnung“ des Lebensweges dieses bedeutenden marxistischen Historikers stehen bleiben will. Um es gleich auf einen Nenner zu bringen, der Leser lernt in dieser „biographischen Untersuchung“ den historischen Interpretationsrahmen eines ausgewiesenen Alt- und Zeithistorikers (eine seltene Kombination damals wie heute) kennen, aus dem er vor allem in der analytischen Methode historischer Ereignisse, Prozesse und Verläufe sowie personeller Faktoren so manches für sein historisches Verständnis wie sein politisches Denken entnehmen kann.

Keßler schließt mit seinem biografischen Buch eine Lücke, die in der national wie international gut entwickelten Rosenberg-Forschung bisher klaffte. Allerdings hat er großen Spürsinn an den Tag legen müssen, um die weitverstreuten Spuren des Lebens und Wirkens von Arthur Rosenberg freizulegen und sie zusammen mit dessen Schriften zu einem intellektuellen und wissenschaftlichen Porträt zu fügen. Denn ein größerer Nachlass existiert nicht, und es standen offenbar kaum Quellen zur Verfügung, die eine lebendige Schilderung auch des Menschen Rosenberg ermöglicht hätten. In diesem Zusammenhang stellt sich mir die Frage, ob es denn z.B. kein schärferes und vorteilhafteres Foto als das jetzt auf dem Umschlag abgebildete gibt? Blieben die bei den Kindern Rosenbergs in USA vorhandenen Fotos und anderen Materialien verschlossen, und wenn ja, warum? Einbezogen wurden die Erinnerungen von Schülern und Kollegen, die ihn durchweg als einen beliebten und begabten Hochschullehrer und kollegialen Forscher schildern.

Die Darstellung folgt chronologisch den Lebensstationen Rosenbergs und ist in weiten Strecken eher deskriptiv denn analytisch. Das ist schade, denn so können die großen und entschiedenen Brüche in diesem Leben zu wenig erklärt werden, und die gleichmäßige, wenig prononcierte Beschreibung von Rosenbergs Werken lässt das Besondere seines wissenschaftlichen Œuvres eher verschwimmen denn hervortreten. Rosenberg wird von Keßler als „Außenseiter“ charakterisiert; vielleicht träfe „Einzelgänger“ eher, denn er repräsentiert den durchaus marginaler Typus des politisch für den Sozialismus engagierten Wissenschaftlers, der dies auch nach seinem Bruch mit KPD und Komintern blieb. Besser als das Etikett „Renegat“, passt wohl das des „Häretikers“ zu ihm. Als politisierter marxistischer Historiograf und zudem Jude blieb er in Deutschland ein akademischer Außenseiter, dessen höchster Status derjenige eines „nichtbeamteten“ außerordentlichen Professors der Berliner Humboldt Universität war (S. 153). Das kam dem auch heute wieder sehr verbreiteten Dilemma eines nichtbezahlten Privatdozenten gleich.

Die Widersprüche, die Umbrüche in Rosenbergs Leben: das ist zunächst der Wandel von seiner nationalistischen Pro-Weltkriegshaltung zu seinem doch recht plötzlichen USPD bzw. KPD-Eintritt im Jahre 1918 bzw. 1920. Einen zweiten Bruch stellt sein Abschied von der organisierten kommunistischen Bewegung im Jahre 1927 dar, der ebenfalls eher überraschend erfolgte. Wie haben sich solche abrupt erscheinenden Wandlungen innerlich und äußerlich vorbereitet? Zum ersten Bruch hat sich der Protagonist offensichtlich zeitlebens nicht geäußert (S. 42), was natürlich eine plausible Darstellung erschwert, aber doch eine problematisierende Erörterung verdiente.

Der zweite Bruch erscheint eigentlich noch überraschender. Denn Rosenberg hatte von 1920 bis 1927 eine einigermaßen beispiellose Karriere in der kommunistischen Bewegung gemacht, war Stadtverordneter, Mitglied der Berliner Bezirksleitung, Reichtagsabgeordneter, 1924 Politbüromitglied und Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern geworden – und all dies in der „Radauphase“ (Ossip K. Flechtheim) der KPD. Seine zahlreichen publizistischen Arbeiten standen anerkannt neben denen von Lenin und Trotzki (S. 79). In der sich in Fraktionskämpfen zerschleißenden Partei war Rosenberg vom „Exponenten ultralinker Politik“ zum „Fürsprecher der ins Abseits gedrängten Rechten geworden“ (S. 137). Noch im März 1927 hatte er auf dem Essener KPD-Parteitag die innerparteilichen Auseinandersetzungen als „Lebenselement“ der Partei und die „Eroberung der Massen des Proletariats“ (S. 262) als historische Aufgabe bezeichnet. Nur ganze sechs Wochen später erklärte er seinen Austritt aus der KPD, weil er sich außerstande sah, die von „untragbaren Widersprüchen“ (S. 263) geprägte Politik der Komintern (aktueller Anlass war die gerade gescheiterte KI-Politik in China) weiter zu vertreten, als deren Ergebnis er auch die „Niederlage der deutschen Revolution von 1923“ begriff. Es zeigte sich, dass er die „innerparteiliche Höllenpsychologie“ in der KPD ebenso durchschaut hatte wie die unter Stalin um sich greifende Zerstörung der in der Komintern vereinigten kommunistischen Parteien: durch militärische Disziplin, strengen Sektengeist, Allgewalt der Führung, durch Niederzwingung der Parteiopposition und blutdürstige Phraseologie (S. 267). Fürderhin blieb Rosenberg als „parteiloser Sozialist“ seinem Engagement für die unterdrückten Volksmassen treu, und er setzte auf die „lebendige[n] Demokratie des werktätigen Volkes“ (S. 276).

Seine politische Hellsichtigkeit ließ ihn bereits Ende Januar 1933 mit seiner Familie Deutschland verlassen und ein bescheidenes Exil in London, später in den USA finden. Für diese letzte Lebensphase hat der Biograf viel neues Material zusammentragen können, wobei ich die Freundschaft zu Karl Korsch und seine bewegende Hinwendung zum aktiven Zionismus hervorheben möchte. Keßler hat mit seinem materialreichen Buch die Biografie eines Mannes gewürdigt, der als Historiker, so formulierte ein Nachruf 1943, „die Geschichte zum Leben“ (S. 241) gebracht habe. Davon kann sich der Leser in dem rund 40-seitigen Dokumentenanhang dankenswerterweise selbst ein Bild machen. Wie sehr seine aufmerksamen Zeitanalysen historische Assoziationen zulassen, möge ein abschließendes Zitat des seinerzeit noch jungen Mannes von 1919 deutlich machen:

„Sparen, Sparen! So tönt es aus dem Munde unserer Finanzminister im Reich und in den Einzelstaaten. Wenn die Arbeiter und Beamten des Staats Aufbesserung ihrer knappen Einkünfte verlangen, wenn dringende Reformen in unserem Erziehungs- und Bildungswesen gefordert werden, dann stehen die regierenden Herren gewöhnlich achselzuckend da und beteuern treuherzig: Wir haben kein Geld!“ (S. 255)

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