M. Suderland: Territorien des Selbst

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Titel
Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager


Autor(en)
Suderland, Maja
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Campus Verlag
Anzahl Seiten
161 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Gerlich, Freiburg im Breisgau

Maja Suderland erkundet Territorien des Selbst in Gedenken an all jene, die „da waren, wo doch niemand sein wollte“ (Ruth Klüger). Sie beschreibt die große Bedeutung kultureller Identität im täglichen Überlebenskampf im nationalsozialistischen Konzentrationslager. Der Rückgriff auf Bildung und Wissen sei für die Inhaftierten eine letzte Möglichkeit der Selbstvergewisserung, der Bewahrung von Menschenwürde und des Menschseins gewesen. Die innere Emigration, das innere Erleben bewahrten vor der „Abdankung des Geistes“ (Jean Améry), nicht nur in Auschwitz.

Die Studie der Soziologin von der Technischen Universität Darmstadt beruht auf der Auseinandersetzung mit der Intellektuellen-Kontroverse zwischen Jean Améry und Primo Levi und auf der Auswertung zahlreicher anderer Berichte überlebender KZ-Häftlinge. Der Umgang mit den Aussagen und Berichten der Zeitzeugen ist, so die Autorin, vor allem in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen stammen die Berichte in der überwiegenden Zahl von Überlebenden – über diejenigen, die die Internierung nicht überlebten, über den weitaus größeren Teil der KZ-Häftlinge also, wissen wir beinahe nichts. Zum anderen sind diejenigen, die nach ihrer KZ-Haft das Bedürfnis hatten, ihre Erfahrungen niederzuschreiben und zu veröffentlichen, zu gebildeteren Kreisen zu rechnen. Allerdings erfahren wir durch sie nicht nur etwas über sie selbst, sondern auch über das Verhalten ihrer Mithäftlinge.

Laut Suderlands Arbeitshypothese war nicht eigentlich das Funktionieren des Geistes, sondern vielmehr Bildung die Grundlage für kulturelle Identität im Konzentrationslager. Die Autorin versteht Bildung als individuelle Aneignung von Kultur, die durch ihre Nachhaltigkeit hervortritt. Im Gegensatz zu „Vernichtungs-“ oder „Todeslagern“ sind mit „Konzentrationslager“ Lager gemeint, die eine Häftlingsgesellschaft von gewisser Dauer bildeten. Auschwitz und Majdanek waren sowohl Konzentrations- als auch Vernichtungslager. Bei der Analyse von Konzentrationslagern als Teil der deutschen (Lager-)Gesellschaft orientiert sich Suderland an kulturtheoretischen Überlegungen Zygmunt Baumans (vgl. Ders.: „Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien“, 1992) und an Pierre Bourdieus Modell des „sozialen Raums“, in dem die Gesellschaftsposition abhängig von der Verfügbarkeit „ökonomischen“, „kulturellen“ und „sozialen Kapitals“ bestimmt wird.

Die Errichtung von Konzentrationslagern war ein gewaltsamer Eingriff in die Ordnung des sozialen Raums, aus dem bestimmte „Fraktionen“ entfernt und in eigens eingerichteten Dependancen separiert wurden. Diese Fraktionen waren diejenigen, die nach der herrschenden NS-Ideologie und den ihr zugrunde liegenden Wertmaßstäben in der Hierarchie des sozialen Raumes unten angesiedelt waren. Das Lager war für die dort Inhaftierten ein in sich geschlossener sozialer Raum, der vom Lagerkommandanten mit einer gewissen Willkür beherrscht wurde. Neuankömmlinge mussten das Lagertor und Initiations-Riten durchlaufen, um Teil dieses Raumes zu werden. Völlig nackt, ohne Kleidung und Schuhe sowie ohne jegliche Körperbehaarung, betrat man das Lager. Der bedeutsame persönliche Name wurde durch eine abstrakte Nummer ersetzt. Die Menschen verfügten in diesem neuen Sozialraum weder über ökonomisches Kapital, noch über verwendbares Sozialkapital, und auch das objektivierte und institutionalisierte kulturelle Kapital war hier wertlos. „Einzig das inkorporierte kulturelle Kapital passierte diese Pforte zur Hölle zunächst unbeschadet.“ (S. 62) Es war so etwas wie ein verborgener Schatz, der bei der Ankunft ungesehen ins Lager gelangt war.

Im Lager gab es eine Häftlingsklassifikation, insofern farbige Dreiecke auf der Kleidung die Häftlingsklassen symbolisierten: grün für Kriminelle, schwarz für Asoziale, braun für Zigeuner, violett für Bibelforscher („Zeugen Jehovas“), rosa für Homosexuelle, blau für Emigranten, rot für politische Gegner und gelb für Juden. Die Häftlingsklassen bildeten eine interne Hierarchie der Lagergesellschaft, die sowohl seitens der SS und der Wachmannschaften wie auch von den Häftlingen selbst als gültig hingenommen wurde. Kriminelle standen an der Spitze, gefolgt von Politischen, sowjetische Kriegsgefangene, Zigeuner, Homosexuelle und Juden bildeten (in dieser Reihenfolge) die Schlusslichter. Es gab keine Klassen übergreifende Solidarität der Häftlinge, sondern vielmehr Korruption und Klassenkampf, was der SS die Herrschaft über die Lagergesellschaft erleichterte. Suderland bezeichnet den sozialen Raum des Konzentrationslagers als eine Verzerrung des übrigen sozialen Raums, nicht als eine „verkehrte Welt“. Die SS hatte nicht die Absicht, eine verkehrte Welt in den Konzentrationslagern zu etablieren, sondern betrieb auf einer vorhandenen gesellschaftlichen Basis die von ihr angestrebte Radikalisierung. Das gesamte Lagerleben war an der „deutschen Militärpraxis“ orientiert und stellte eine Karikatur des Heeres dar (Primo Levi).

Jean Améry und Primo Levi waren etwa zeitgleich im Konzentrationslager Auschwitz III (Monowitz) inhaftiert. Lagerorganisation und Haftbedingungen werden ähnlich, das innere Erleben aber wird von beiden sehr unterschiedlich beschrieben. Gemeint sind die Darstellungen in Jean Améry, „An den Grenzen des Geistes“, und Primo Levi, „Der Intellektuelle in Auschwitz“. Die erheblichen Unterschiede im Verhältnis zur Bildung in Auschwitz bei beiden haben ihre Wurzeln in der bereits vor Auschwitz eingenommenen Haltung, im bildungsbedingten „Habitus“ (Bourdieu).

Jean Améry, als Hans Maier 1912 in Wien geboren, stammte aus einem assimilierten jüdischen Elternhaus und genoss eine katholische Erziehung. Er flüchtete zum Jahreswechsel 1938/39 mit seiner jüdischen Frau nach Antwerpen und nahm den frankophon klingenden Namen Jean Améry an. In Brüssel gehörte er einer deutschsprachigen Widerstandsorganisation an, wurde beim Verteilen von Flugblättern erwischt und als Jude enttarnt. Als solcher wurde er im Januar 1944 nach Auschwitz deportiert. Er bekam die Häftlingsnummer 172 364 und arbeitete im Buna-Werk der IG-Farben in Monowitz. In seinem Essay „An den Grenzen des Geistes“ beschäftigt sich Améry mit der Situation des Intellektuellen im Lager von Auschwitz. Die Intellektuellen seien, da sie zu wenig Geschick und mangelnde Körperkraft zur Ausübung der verlangten körperlichen Tätigkeit besessen hätten, das „Lumpenproletariat“ von Auschwitz gewesen. Auch mangelte ihnen der physische Mut im Kampf aller gegen alle. Schließlich konnte der Intellektuelle sich nicht auf das im Lager übliche Niveau der Umgangsformen herabbegeben und machte sich so keine Freunde. Améry empfand ein körperliches Unvermögen für die schwere körperliche Arbeit einerseits und die Kommunikation mit der Mehrzahl seiner Kameraden andererseits. Der Intellektuelle stand so allein mit seinem Geist, der sich nicht an einer gesellschaftlichen Wirklichkeit habe aufrichten und erhärten können. Der Geist habe als brauchbares Werkzeug zur Bewältigung der gestellten Aufgabe, nämlich zu überleben, abgedankt. Dennoch, stellt Suderland fest, bewahrte ihm seine Bildung in Auschwitz seine Identität als skeptisch-humanistischer Intellektueller und erhielt ihm damit seine persönliche Kontinuität und Würde.

Primo Levi kam 1919 in Turin zur Welt und genoss eine liberale jüdische Erziehung. Im September 1943 erfolgte die Okkupation Italiens durch Deutschland, daraufhin schloss sich Levi dem Widerstand an und wurde im Dezember desselben Jahres verhaftet. Er wurde in ein Internierungslager für Juden überstellt, dessen Lagerleitung die SS übernahm. Im Februar 1944 wurde er nach Auschwitz-Monowitz deportiert. Diesen Transport erlebte Levi als abruptes Ende seiner Individualität: Er wurde zu einer Nummer – Nr. 174 517. Gegen Ende seiner Haftzeit arbeitete er, ein promovierter Chemiker, in einem Chemielabor der Buna-Werke. Levis „Der Intellektuelle in Auschwitz“ ist eine Replik auf Amérys „An den Grenzen des Geistes“, mit der er ihm aus eigener Erfahrung heraus widersprechen will. Bei Levi ist die entscheidende Frage des Überlebens in Auschwitz die nach der individuellen Möglichkeit der Konstituierung oder der Bewahrung einer Identität. Levi befand sich als Italiener in der Lage eines „Taubstummen“, da er das Lagerdeutsch nicht verstand. Seine Bildung war ihm, im Gegensatz zu Améry, von Nutzen. Er geriet beispielsweise in Euphorie als er Verse Dantes aus seiner Erinnerung hervorholte und sie einem französischen Kameraden rezitierte und übersetzte. So konnte er sich selbst wieder finden und persönliche Kontinuität aufbauen. Seine klassische humanistische Bildung wurde ihm zum kulturellen Rettungsanker im geistigen Sumpf von Auschwitz. Seine berufliche Bildung rettete ihm am Ende seiner Haftzeit vermutlich das Leben.

Maja Suderland zeigt, dass auch für andere, Kinder, Frauen, Nicht-Juden und Nicht-Intellektuelle, das Buch zum nackten Überleben im Konzentrationslager ebenso wichtig war wie das Brot. Der Rückgriff auf eine gemeinsame kulturelle Tradition und deren Aktualisierung in der Situation der Lagerhaft – der Blick nach innen – ermöglichte darüber hinaus eine Verständigung und Vergemeinschaftung unter den Häftlingen. Sie fühlten sich, zumindest immer wieder für einen kurzen Augenblick, nicht nur als Spielfigur im makaberen Spiel der SS. Die Autorin gibt ein akademisches Gesellenstück ab, das mit seiner theoriegeleiteten Perspektive der KZ-Forschung neue Anregungen und Erkenntnisse liefert. Ihrer theoretisch-empirischen Studie ist eine breite Rezeption in den Sozialwissenschaften zu wünschen.

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