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Titel
Das entfesselte Meer. Die Geschichte des Atlantik


Autor(en)
Afflerbach, Holger
Erschienen
München 2003: Piper Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 13,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Horst Pietschmann, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Maritime Geschichte wird heute meist auf eine von zwei Weisen betrieben, die sich freilich nicht streng voneinander trennen lassen. Zum einen folgt sie einer stark geografisch geprägten Perspektive, die von den Küsten aus die schrittweise Erkundung, ja Eroberung der ozeanischen Weiten seit der Antike in ihren diversen ereignisbezogenen, nautisch-technischen, kommerziellen, rechtlichen u.ä. Aspekten untersucht. Diese Form der maritimen Geschichte wurde in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der lange Zeit von dem Franzosen Michel Mollat geleiteten „Commission Internationale d’Histoire Maritime“ des Internationalen Historikerverbandes koordiniert. Eine zweite, jüngere Form der maritimen Geschichte knüpft einerseits bei Fernand Braudel und seinem berühmten Mittelmeerbuch und andererseits bei der Geschichte der Europäischen Expansion an. Sie betrachtet die Ozeane in stärkerem Maße als verbindende Räume, die seit Beginn der Neuzeit interkontinentale Wechselwirkungen und Interaktionen in Wirtschaft, Politik, Kultur, Rechtssystemen usw. ermöglichten. Damit bilden sie einen wichtigen Aspekt jener Prozesse, die heute unter dem Schlagwort der Globalisierung zusammengefasst werden. Studien dieser Art liegen insbesondere für den Indischen Ozean (z. B. Subrahmanyan) und für den Atlantik vor. Unter dem Einfluss vor allem englischsprachiger Historiker hat sich die „Atlantic History“ geradezu zu einem eigenen Teilgebiet der Geschichtswissenschaft entwickelt, in dem bereits die Untergliederungen „transatlantic -“, „intraatlantic -“ und „circumatlantic history“ unterschieden werden. 1 Der vorliegende Band zählt jedenfalls eher zur erstgenannten Richtung, sofern man ihn überhaupt in einen wissenschaftlichen Schulzusammenhang einordnen will.

Der reichhaltig schwarz-weiß und farbig bebilderte Band gliedert sich in Einleitung und 11 Kapitel sowie einen dem Problem „Atlantik und Globalisierung“ gewidmeten Ausblick. Der ausführliche Anmerkungsteil, ein Bildnachweis und ein Personenregister beschließen das Werk, das sich in stark erzählerischer Darstellung vor allem an ein breiteres Publikum richtet. Bereits die Zwischenüberschriften der Einleitung – „Vom Ende der Welt zum Weltmeer“, „Der Fluch des Raumes“, „Die Vielgestaltigkeit vormoderner Atlantikvorstellungen“, „Warum kann man Salzwasser nicht trinken?“ – lassen diesen Ansatz und die Zielgruppenorientierung erkennen. Ausgehend von einem Kapitel über die Geografie und die Benennung des Atlantik spannt der Verfasser in den folgenden Abschnitten einen weiten Bogen von der Antike über das Zeitalter der Wikinger zu mittelalterlichen Atlantikmythen, bevor sich dann umfangreichere Kapitel dem Zeitalter der Entdeckungen widmen: beginnend bei den Portugiesen, Kolumbus und der „Entdeckung Amerikas“ – eine von der Fachwissenschaft heute nicht mehr gebrauchte Begrifflichkeit – über das „Entstehen einer atlantischen Welt (1500 – 1800)“ bis hin zu einem Teil über die Suche nach der Nordwest- und der Nordostpassage. Diese Teile nehmen knapp die Hälfte der Darstellung ein. Die drei verbleibenden Kapitel sind dem 19. und 20. Jahrhundert gewidmet und treffend „Der Atlantik wird zum Weltmeer: das frühe 19. und 20. Jahrhundert“, „Der Atlantik im Zeitalter der Weltkriege“ und „Der Atlantik als Transitmeer der Weltgesellschaft (1919-2000)“ überschrieben.

Dem spärlichen Kenntnisstand über die antike und frühmittelalterliche Atlantikschifffahrt entsprechend, stehen in den dieser Epoche gewidmeten Teilen des Buches geografische Vorstellungen, Mythen und schwer überprüfbare Berichte von spektakulären Atlantikfahrten im Mittelpunkt der Darstellung. In den Abschnitten zum Hoch- und Spätmittelalter rücken dann Seefahrtstechnik, Kartografie, Handel und mehr und mehr konkrete Atlantikfahrten in den Mittelpunkt, um schließlich im frühneuzeitlichen Mittelteil zu dominieren. Dieser, der Zeit von etwa dem 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gewidmete Teil ist der fraglos schwächste und fehlerhafteste Abschnitt des Bandes, da der Verfasser hier, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ältere, vielfach deutschsprachige Literatur benutzt und nur gelegentlich auf neueste, dann aber wiederum stark interpretierende Literatur (wie etwa vereinzelte Werke aus der vielbändigen Reihe des englischen Ashgate-Verlages zur Geschichte der europäischen Expansion) zurückgreift. So liegt denn auch zur hoch- und spätmittelalterlichen Atlantikschifffahrt, ihren Organisationsformen (Admiralitäten, Privilegierungen der küstennahen, seefahrenden Bevölkerung, Fischerei usw.), Kartografie, dem Ausgreifen vom Mittelmeer in den Atlantik, zur Kolonisation der Atlantikinseln und ihrer späteren Bedeutung für Schifffahrt, Migrationsbewegungen, Akklimatisierung aus Europa exportierter oder importierter Pflanzen usw. eine sehr viel umfangreichere englisch-, französisch-, spanisch- und portugiesischsprachige Literatur vor, als sie der Verfasser heranzieht. Dies bedeutet aber auch, dass wir über einen präziseren Wissensstand verfügen, als er dem Autor zugänglich ist. So bleibt es denn nicht aus, dass in diesen umfangreichen Mittelteilen nicht nur wichtige Aspekte ausgeklammert bleiben (oder allenfalls knapp erwähnt werden) und dafür um so mehr veraltetes Wissen „mitgeschleppt“ wird.

Die mittelalterlichen „Radkarten“, die der Verfasser als rückständig gegenüber antiken geografischen Vorstellungen bezeichnet, sind inzwischen längst als mit der christlichen Heilsgeschichte verknüpfte Versinnbildlichungen und nicht als geografische Darstellungen erkannt und es ist dazu herausgearbeitet worden, wie sich aus diesen Darstellungen im Zeitalter der Renaissance langsam ein modernes, die antiken Vorstellungen transzendierendes, geografisches Weltbild entwickelt. Bis weit ins 15. Jahrhundert ist davon auszugehen, dass sich die geografischen Vorstellungen binnenländischer Gelehrter in Europa erheblich von denen der der Seefahrt verbundenen Bevölkerungen unterschieden. Die Fixierung des Verfassers auf die „Entdeckungsfahrten“ Heinrich des Seefahrers und die damit verbundene Unterschätzung der wirtschaftlichen und nautischen Bedeutung der Atlantikinseln macht den Verfasser denn auch blind für den Umstand, dass Prinz Heinrich ein „atlantisches Handelsimperium“ aufzubauen verstand, in dem außer den genannten Sklaven Produkte wie Zucker, Wein, Fisch, Tran, Gewürze, ja sogar exotische Tiere wie Papageien eine nicht unerhebliche Rolle spielten. Die Suche der Portugiesen nach dem Priesterkönig Johannes war beileibe nicht nur eine Chimäre, sondern hatte ganz handfeste Gründe in Bezug auf die Rechtfertigung von Landnahme und aus der Herrscherperspektive einer christlichen Ökumene im Kampf gegen den Islam. Kolumbus als gescheiterten Phantasten darzustellen, entstammt einer Betrachtungsweise, die systematisch konkrete Zusammenhänge verkennt. Zunächst einmal wusste er bereits um 1498, dass er einen „orbis novus“ entdeckt hatte und nahm nicht die Vorstellung mit ins Grab, Asien erreicht zu haben. Sein Scheitern hatte vielmehr wesentlich damit zu tun, dass er keine Produkte fand, die in einer die Ureinwohner einbeziehenden Siedlungskolonie, in der alle beteiligten Europäer besoldete Angestellte waren, produziert und über die Entfernung wirtschaftlich Gewinn bringend nach Europa zu transportieren waren. Diesbezüglich verfügten die Portugiesen über den entscheidenden Vorteil der kürzeren Transportwege für all ihre atlantischen Handelsgüter. Noch lange Zeit nach Kolumbus waren Edelmetalle die einzigen Produkte, die angesichts des eng begrenzten Laderaums bei ausnehmend hohen Transportkosten Gewinn bringend aus dem spanischen Amerika nach Europa gebracht werden konnten. Die Vespucci–Briefe sind als politisch motivierte Fälschungen entlarvt usw. Vor allem aber hätte der Verfasser, wenn er schon auf die Fahrten der Wikinger eingeht, unbedingt auch die rege Handelsschifffahrt westafrikanischer Völker entlang der Atlantikküsten ebenso wie die Schifffahrt der amerikanischen Ureinwohner behandeln müssen, wozu selbst die von ihm benutzten Quellen Auskunft geben. Dies nicht nur, um dem Vorwurf des Eurozentrismus zu entgehen, sondern vor allem auch um die ihn so intensiv beschäftigende Frage etwas kenntnisreicher und gründlicher zu klären, warum es eben Europäer waren, die den Atlantik „eroberten“ und zu einem europäisch dominierten Ozean werden ließen. Dies hätte die politische Dimension des Vorganges – politische Vorherrschaft oder Handeldominanz – als entscheidende Faktoren quer durch die Epochen deutlicher werden lassen. Diese Beispiele für das Tradieren veralteter Kenntnisstände ließen sich fortsetzen.

Erst in den Teilen zum 19. und 20. Jahrhundert betritt der Verfasser wieder solider recherchierten Boden. Bei seiner Schilderung der Entwicklung von Schifffahrt in Friedens- und Kriegszeiten bleibt er aber auch hier einer ereignisgeschichtlichen Sichtweise verhaftet. Es muss jedenfalls bezweifelt werden, ob man mit einem derartigen Ansatz einen solide begründeten Bogen zum Komplex von „Globalisierung“ schlagen kann. Dies vor allem auch deshalb, weil die moderne Wirtschaftsgeschichte zum 19. und 20. Jahrhundert ein derart breites, weithin auch statistisch abgesichertes Wissen zur Entwicklung sowohl des atlantischen Wirtschaftsraumes als auch des Welthandels bereitgestellt hat, ohne welches man das Phänomen „Globalisierung“ kaum ernsthaft historisch erläutern kann.

Aus all den genannten Gründen wird man das Buch für den wissenschaftlichen Gebrauch, ja, für den Einsatz im universitären Geschichtsstudium nicht empfehlen können, da die Kenntnislücken einfach zu groß sind. So kann man beispielsweise durchaus auf Gerhard Prause, Niemand hat Kolumbus ausgelacht, rekurrieren, wenn man dann aber selbst deutsche Autoren für den gleichen Zusammenhang wie Richard Konetzke, Enrique Otte übergeht, muss der Verfasser sich nicht wundern, sollte er in Proseminaren der Geschichte als Beispiel dafür, wie man es nicht machen darf, herangezogen werden. Da der Verfasser sich auf der Umschlagklappe als Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf und als Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu erkennen gibt, wird man bedauerlicherweise feststellen müssen, dass der an sich gut lesbar geschriebene Band zugleich ein Beispiel dafür darstellt, wie sehr sich weite Teile der deutschen Historiografie zu diesem Wissensbereich von der internationalen Forschung abgekoppelt haben.

Anmerkung:
1 Armitage, David; Braddick, Michael J. (Hgg.), The British Atlantic World, 1500-1800, New York 2002.

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