Titel
Nikolaus Groß. Politischer Journalist und Katholik im Widerstand des Kölner Kreises


Autor(en)
Bücker, Vera
Reihe
Anpassung - Selbstbehauptung - Widerstand 19
Erschienen
Münster 2002: LIT Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Antonia Leugers, München

„Nikolaus Groß war seiner Herkunft nach ein ausgesprochenes Kind des Ruhrgebietes, so wie es sich um die Jahrhundertwende entwickelt hatte und lebte wie die meisten seiner Zeit- und Standesgenossen.“ (S. 48) Die Historikerin Vera Bücker beginnt mit diesem ungelenk formulierten und zu sparsam interpunktierten Satz ihre Biografie über den katholischen Arbeitersohn Nikolaus Groß (1898-1945) aus Niederwenigern bei Hattingen, der vom gelernten Kohlenhauer zum Redakteur der Westdeutschen Arbeiterzeitung (WAZ) aufstieg. All jene, die eine interessant geschriebene Lebensgeschichte dieses Mannes aus dem Widerstand gegen das NS-Regime erwarten, dürften enttäuscht sein. Hier liegen nicht die Stärken der Autorin.1 Über die dürren Daten eines tabellarischen Lebenslaufs hinaus scheint die schulische, berufliche und familiäre Entwicklung der Persönlichkeit Groß’ kaum lebendig auf (S. 48-52). Beim einzigen Interview, das Bücker gleichzeitig mit sechs von sieben Kindern der Familie Groß führte und als „Interview der Familie Groß“ subsumiert, vertat sie eine methodisch-quellenkritisch gebotene Chance: Mehrere unabhängige Befragungen hätten vermutlich ein differenzierteres Bild des Vaters und nicht zuletzt der Mutter Elisabeth aufgrund des subjektiven Erlebens und Erinnerns der zwischen 1924 und 1939 geborenen Mädchen und Jungen ergeben (Familienfotos S. 44, 244f.). Demgegenüber gelingt es Bücker vor allem durch die Auswertung zahlloser Artikel und Publikationen von Groß und diverser Texte aus dem Widerstand, Einstellungen und Verhaltensweisen, Motive und Ziele, Ideen und Werte, Wissen und Widerstandskontakte von ihm für den langen Zeitraum von der Weimarer Republik bis zu seiner Hinrichtung 1945 herauszuschälen (S. 53-243). Auch wenn die Lektüre dieser zuweilen buchhalterisch anmutenden Erarbeitung und Bilanzierung einiges an Geduld abverlangt, so liegt in diesem Teil wohl die Bedeutung des Buchs von Bücker. Ausgewählte Quellen sind der Untersuchung vorangestellt (S. 34-43).

Es wird wenig überraschen, bei dem am 27.10.2001 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochenen „Märtyrer“ eine tiefe innere Glaubensüberzeugung zu konstatieren. Groß setzte sich jedoch auch als gläubiger Katholik für eine sozial verbesserte und gleichberechtigte Lage der Arbeiterschaft ein, wie er sie – selbstverständlich - in Übereinstimmung mit der Katholischen Soziallehre anstrebte. Das konnte für den stets um Ausgleich bemühten Groß sogar einen „eher ungewöhnliche[n] scharfe[n] Ton“ (S. 60) gegen das von Pius XI. und den Bischöfen präferierte Modell der „Katholischen Aktion“, einzelne sozialpolitische Vorstellungen der Zentrumspartei oder die Unterrepräsentation von Arbeitern in ihr einschließen.

Groß, der zu den Unterstützern der Weimarer Republik zählte, meinte nach 1933, es gäbe nur vorübergehend eine Regierung mit gezähmten Nationalsozialisten. Als sich die Diktatur verfestigte, hoffte er durch seine publizistische Tätigkeit in der WAZ die katholische Arbeiterschaft vor allem im Glauben stärken, in ihrer christlichen Lebensführung begleiten und gegen die NS-Ideologie immunisieren zu können. Eine Art „indirekte Regimekritik“ sei „recht vorsichtig“ (S. 135f.) geübt worden. Bücker legt allerdings auch die Schwächen dieses Konzepts frei. Scharf urteilt sie, die WAZ baute „Vorbehalte gegen den NS-Staat ab“ (S. 146). Bückers Beispiele für einen angeblich unreflektierten, traditionellen Antijudaismus in der WAZ vermögen dagegen nicht zu überzeugen. Das scheint eher zu harmlos geurteilt. Wenn die WAZ z.B. über antichristliche Autoren schreibt, „wie sie ’unter Leipziger Juden mit Vergnügen suhlte(n)’“ (S. 157), so ist damit die klassisch antisemitische Verunglimpfung als „Judensau“, die sich „suhlt“ gemeint! Nach Verwarnungen und drei Verboten in den Jahren zuvor, bei welchen Groß einen gewissen Anpassungswillen zeigte, folgte 1939 das endgültige Verbot der 1935 in „Kettelerwacht“ umbenannten früheren WAZ.

Groß’ Aktivitäten verlagerten sich nun auf die Betreuung von Ortsgruppen der Katholischen Arbeiterbewegung, auf Vorträge und die Herausgabe religiöser Kleinschriften, denn er war als religiöser Schriftsteller von NS-Seite politisch nicht beanstandet worden. Die zunehmenden Beschränkungen des Verbandskatholizismus, die Entwicklungen im Innern und der Krieg führten zur Bildung von Gesprächskreisen, an denen Groß beteiligt war. Er hatte sich schon früher dagegen gewandt, dass „der Katholizismus in Deutschland nunmehr auch unbelastet wäre von sozialer und sonstiger Verantwortlichkeit“ (S. 147). In Fulda lud die Zentrale für Männerarbeit Vertreter dieser Tätigkeitsbereiche ein, darunter auch jene aus dem Arbeiterverbandswesen wie Groß. Diese Beratungen hätten für sein „Hineinwachsen in den Widerstand eine große Rolle“ (S. 181) gespielt. Groß zählte darüber hinaus als Kontaktvermittler, Kurier, Protokollant und Organisator zum Kreis, der sich in Köln in der Zentrale der Katholischen Arbeiterbewegung und in der Privatwohnung von Groß traf. In der „inhaltlichen Arbeit stand Groß dagegen weniger im Mittelpunkt“ (S. 191), so Bückers Einschätzung für Groß. Sie stellt insbesondere den Kölner Kreis mit allen daran Beteiligten, ihren Verbindungen und ihren Planungen vor (S. 184-212), wodurch der Kreis erstmals eine entsprechende Würdigung erhält. Bücker siedelt ihn in seinen „Zukunftsentwürfen zwischen Kreisau und Berlin“ (S. 212), womit sie den „Kreisauer Kreis“ und die Goerdeler-Richtung meint, ein. An dieser Stelle könnte noch deutlicher hervorgehoben werden, dass sowohl konzeptionell als auch personell die Mitglieder des „Ausschusses für Ordensangelegenheiten“ 2 das Widerstandsnetzwerk 3 wesentlich stützten und sozusagen kirchlich amtlich autorisierten: So kamen die Impulse und Vernetzungen erst nach Bildung des Ausschusses 1941 und der ersten Begegnung Bischof Preysings mit Helmuth James von Moltke zustande.4

Als Gründe für Groß’ Beteiligung am aktiven Widerstand nennt Bücker sein Wissen um Verbrechen, d.h. allgemein-humanitäre und christliche Beweggründe. Von den Attentatsplanungen, die er billigte, habe Groß durch seine Kontakte zu den eingeweihten Verschwörern wie Bernhard Letterhaus erfahren. Nach dem gescheiterten Attentat wurde Groß am 12.8.1944 verhaftet. In den Verhören gab er, vermutlich unter Folter, seine Mitwisserschaft und Namen der Mitverschworenen preis. Am 15.1.1945 fand seine Verhandlung vor dem Volksgerichtshof statt, bei der – anders als bei Moltke und P. Alfred Delp SJ – nicht seine religiöse Überzeugung als besonderer Beweggrund für das Todesurteil ins Gewicht fiel. Am 23.1.1945 wurde er in Plötzensee hingerichtet.

Abschließend noch einige allgemeine Bemerkungen zum Buch: Ärgerlich sind häufige technische (Durchschüsse usw.) und Tippfehler, die falsche Einordnung von Quellen und Sekundärliteratur, fehlende Seitenangaben bei Aufsatztiteln, falsche oder unvollständige Buchtitel und Autorennamen. Wegen der 1993 schon abgeschlossenen Forschungen zu Groß macht sich ein Defizit in der kontinuierlichen Aufarbeitung neuerer Literatur bemerkbar, wodurch die Einordnung des Kölner Kreises in das Widerstandsnetz nicht auf dem neuesten Stand und oft fehlerhaft ist (z.B. beim Kreisauer Kreis, S. 183). Auch Bückers Beweisführung ist nicht immer schlüssig: Beispielsweise kippt eine Aussage einer Zeitzeugin schon deshalb, weil sie meint, um 12.00 Uhr am 20. Juli 1944 im Radio vom gescheiterten Attentat erfahren zu haben (S. 215). Die Detonation war aber erst zwischen 12.40 und 12.50 Uhr, die Rundfunkmeldung folgte gegen 18.30 Uhr 5. Eine überarbeitete und korrigierte 2. Auflage möchte man Bücker daher gern wünschen.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B.: „Groß wurde durch seinen Widerstand in den Tod durch Volksgerichtshofurteil geführt.“ „Doch war beiden die Familie sehr wichtig, und sie bekamen sieben Kinder, das erste 1924 und das letzte 1939.“ „Ganz schien Groß dennoch die übliche Rollenverteilung nicht haben vermeiden können.“ (S. 47, 51).
2 Bücker nennt ihn fälschlicherweise „Ordensausschuss für kirchliche Angelegenheiten“ (S. 116). Vgl. Leugers, Antonia, Gegen eine Mauer bischöflichen Schweigens. Der Ausschuß für Ordensangelegenheiten und seine Widerstandskonzeption 1941 bis 1945, Frankfurt am Main 1996.
3 Vgl. das Schema zur Zusammensetzung des Kreisauer Kreises und zu Verbindungen im deutschen Widerstand, darunter auch der Kölner Kreis und der Fuldaer Kreis: Leugers, Antonia, „Martyrer der Gewissensüberzeugung“. Die Bedeutung der Kirchlichen Hauptstelle für Männerseelsorge und Männerarbeit in Fulda (1941-1944), in: Martyrium im 20. Jahrhundert (= Edition Mooshausen, Bd. 3), Annweiler 2004 (im Druck). Vgl. die Ausführungen zu den diversen Widerstandsverbindungen mit dem Ordensausschuss in Kreisau, Köln, Berlin, Fulda, München in: Leugers (wie Anm. 2), S. 222-240.
4 Gegen Bücker, die annimmt, Rösch habe zuerst Moltke getroffen (S. 183). Preysing traf Moltke am 5.9., Rösch traf Moltke am 13.10.1941, siehe: Leugers (wie Anm. 2), S. 223. Auch andere Daten und Fakten aus dem Widerstand sind nicht immer korrekt (Delp war schon 1941 in Fulda, nicht erst 1942, wie Bücker S. 178, 181 behauptet), worauf aus Platzgründen hier nicht eingegangen werden kann.
5 Vgl. Angaben in dem von Bücker nicht benutzten Band: Hoffmann, Peter, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992, S. 425, 431.

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